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Titelbild: Neptunbrunnen in Danzig

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In den Blick genommen

Francesca Melandri: Kalte Füße

Berlin: Klaus Wagenbach, 2024

Jüngst, am 24. Februar dieses Jahres, wurde zum dritten Male des völker­rechts­wid­rigen russi­schen Überfalls auf die Ukraine gedacht; aus diesem Anlass fand – umstän­de­halber diesmal in Krakau – auch das 10. Inter­na­tionale Litera­tur­fes­tival Odessa statt, auf dem die anerkannte italie­nische Schrift­stel­lerin Francesca Melandri mit Lesungen und insbe­sondere mit der Vorstellung ihres 2024 erschie­nenen Buches über den Ukraine-Krieg präsent war; unter dem Titel Kalte Füße hatte es der Verlag Klaus Wagenbach bereits im September des gleichen Jahres für den deutsch­spra­chigen Markt erschlossen.

Entschieden und unmiss­ver­ständlich im Ton, sachkundig und zugleich leiden­schaftlich und sehr persönlich entwirft die Autorin ihr Plädoyer für ein über Jahrhun­derte immer wieder gedemü­tigtes Land, dessen Geschichte und Schicksal sie sich nicht entziehen kann und denen sich niemand, so die Botschaft, entziehen darf: Schaut auf dieses Land, und begreift, was dort geschieht, – so lautet ihr dring­licher Appell gegen das imperia­lis­tische Narrativ, nach dem nur Russland und nicht die Ukraine existiere, sowie gegen die gewis­senlose Propa­ganda, dass die »militä­rische Spezi­al­ope­ration« eine Fortsetzung des Großen Vater­län­di­schen Krieges gegen den Natio­nal­so­zia­lismus sei.

Vom ersten Moment an versteht es Francesca Melandri, ihren Leser zu fesseln und seine Aufmerk­samkeit zu binden, indem sie ihn eloquent und kurzschrittig mit einer Fülle von Geschichten, Fakten und Analysen konfron­tiert und dabei auch von der Flut bewegender, oftmals verstö­render Bilder berichtet: beispielhaft von der »totenschwarze[n] Hand mit den rotla­ckierten Finger­nägeln« aus Butscha, von dem »in einen Bomben­krater verwan­delten Theater von Mariupol« oder den 367 im Keller einge­sperrten Menschen, die für ihre Notdurft zwei Eimer und als Toilet­ten­papier Seiten aus Werken namhafter ukrai­ni­scher Intel­lek­tu­eller, etwa denen des verehrten Natio­nal­dichters Taras Schewtschenko aus dem 19. Jahrhundert, benutzen mussten – eine besonders infame Demons­tration fortwäh­render kultu­reller Verachtung. (Wer spricht je von Gogol als ukrai­ni­schem Dichter?) Darüber hinaus verweist sie auf die unüber­schaubar vielen grausamen Moment­auf­nahmen aus dem Internet, deren Unmit­tel­barkeit ihr unbegreiflich sind: Soldaten, die unter widrigsten Bedin­gungen filmen, wie sie sich mit vereisten Bärten, Eisperlen besetzten Wimpern durch das Tosen des Windes und pausen­losen Geschütz­donner kämpfen oder von einer Sekunde auf die andere unter gellenden Schreien zerfetzt werden: 

Mir ist noch nicht klar, was diese mörderisch-lebendige Inten­sität des Krieges mit mir zu tun hat. Ich sitze in meiner Wohnung, im Rücken Bücher­regale und die Fotos meiner Kinder, und konsu­miere auf Instagram, Twitter, Facebook, Threads, Telegram, YouTube, TikTok […] die Bilder und Video­auf­nahmen von Drohnen, GoPros, Dash Cams und Satel­liten, die zum ersten Mal in der Geschichte der Kriege direkt von denen kommen, die den Krieg selbst führen, erleben, erleiden, Reel für Reel, Selfie für Selfie, ohne die Vermittlung der Massenmedien.

Es ist Francesca Melandri vergönnt, dass sie ihren Blick auf das aktuelle Kriegs­ge­schehen in der Ukraine sowie das politische Agieren und Taktieren durch einen Schatz an persön­lichen Einsichten zu schärfen und somit auch die Erfah­rungen, die dieses Buch vermittelt, auf besondere Weise zu vertiefen vermag: Sie lässt den Leser an dem intimen inneren Dialog, den sie mit ihrem verstor­benen Vater führt, teilhaben; er sei, wie sie immer wieder anmerkt, bereits »weiter­ge­gangen« – eine zärtlich poetische Umschreibung nicht zuletzt auch ihres Empfindens, über den Tod hinaus mit diesem geliebten Menschen verbunden, buchstäblich »im Gespräch«, bleiben und Fragen an ihn richten zu können, vor allem jene, die sie nicht gewagt oder vergessen hat zu stellen. So vermag sie sich am Ende dieses Buches mit den Worten »in Liebe, Bestürzung und Hoffnung« von ihm zu verabschieden.

Die Lebens­ge­schichte des Franco Melandri (1919–2012) – eine brüchige Biographie, der sich die Tochter ebenso einfühlsam, schonungslos wie kritisch stellt – erzählt von einem jungen Soldaten, der bereits an die Fronten in Griechenland und Jugoslawien geschickt worden war, bevor Mussolini 1942 den Befehl erließ, die deutsche Wehrmacht im berüch­tigten »Russland­feldzug« zu unter­stützen, der, wie die Autorin mantra­artig betont, »in Wahrheit größten­teils ein Ukrai­ne­feldzug war«. Für die Verdienste, nach dem russi­schen Gegen­an­griff seine Männer aus dem Kessel bei Waluiki gerettet zu haben, durch die eisige Steppe, ohne Essen und Munition, mit eiskalten, wenn nicht gar erfro­renen Füßen – aus diesem trauma­ti­schen Erlebnis resul­tiert der Titel dieses Buches – wurde Melandri mit der »Silber­me­daille für militä­rische Tapferkeit« ausgezeichnet.

Allzu gern und ausmalend wird den drei Töchtern von dieser Heldentat erzählt.

Die in den Famili­en­ge­schichten überlie­ferten Erinne­rungen ragen aus der Vergan­genheit heraus wie schwarze Felszacken aus einer Schnee­land­schaft. Sie erheben sich aus dem gleich­för­migen Weiß des Vergessens und skizzieren die Geografie der Erinnerung.

Verborgen hingegen blieb – und wurde erst später durch die Tochter aufge­deckt –, dass der jugend­liche Heimkehrer noch Ende 1945 geglaubt hat, mit einem bekennend faschis­ti­schen, salba­dernden Pamphlet in der Gazzetta del Popolo (und zudem noch neben einem Artikel von Goebbels) reüssieren zu können – fassungslos fragt die Tochter: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa?« Einer kuriosen Begeben­heiten allein war es zu verdanken, dass dieses Schrift­stück ohne persön­liche Konse­quenzen blieb und der Vater späterhin unbehelligt unter anderem als Schrift­steller und Journalist in Italien arbeiten konnte.

Drei litera­rische Werke, die Franco Melandri zwischen 1970 und 2000 zur Aufar­beitung seiner Kriegs­er­leb­nisse verfasst hat, werden für die Autorin zu wichtigen Wissens­quellen. Sie wählt daraus für die 32 thema­tisch geord­neten Kapitel ihrer Ausfüh­rungen je ein einlei­tendes Zitat und weiß darüber hinaus die gewon­nenen Erkennt­nisse aufs Engste mit ihren Betrach­tungen über das aktuelle Kriegs­ge­schehen zu verknüpfen und zuein­ander in Beziehung zu setzen. Ihr Fazit lautet: »Ja, es gibt Tausende beängs­ti­gende Ähnlich­keiten zwischen Deinem Krieg und dem Krieg in der Ukraine […] Die Geschichte scheint sich in ein ominöses Spiegel­ka­binett verwandelt zu haben.« In diesem Zusam­menhang ist es für sie schockierend, in einem im Netz kursie­renden Video beobachten zu müssen, wie heutzutage – in beklemmend symbol­hafter Verdichtung – zwei ukrai­nische Soldaten beim Ausheben eines Schüt­zen­grabens auf mensch­liche Knochen eines im Zweiten Weltkrieg verschol­lenen Soldaten stoßen – »Es hätte Dein Skelett sein können.«

Die Schluss­fol­ge­rungen, die Francesca Melandri aus ihren inten­siven Recherchen und kriti­schen Beobach­tungen zieht, erscheinen glasklar. Sie betreffen den privaten Bereich, indem die Autorin Famili­en­ge­schichten der Legen­den­bildung überführt und das Bild des Vaters korri­gieren muss: Ohne sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, will sie durch Aufklärung und Erinne­rungs­arbeit Verant­wortung für die Demokratie von morgen tragen. Persönlich galt es – für eine linke Intel­lek­tuelle ein schmerz­licher Prozess – die vermeintlich unanfechtbare Haltung zum Pazifismus, zu dieser »glück­lichen Ignoranz«, angesichts eines aggres­siven Angriffs­krieges gewis­senhaft zu überprüfen, an die (wie es im Artikel 11 der italie­ni­schen Verfassung heißt) »Vertei­digung des Vater­landes als heilige Pflicht des Staats­bürgers« zu erinnern und mit Blick auf das kämpfende ukrai­nische Volk, insbe­sondere ihres Präsi­denten, den Begriff des Heldentums neu zu bedenken. 

Sie selbst wirft sich ihre eigene Unwis­senheit bezüglich der Ukraine vor; jetzt disku­tiert sie leiden­schaftlich, inwieweit dieses Land nicht längst und immer wieder Opfer von Koloni­al­kriegen war – wie etwa dem »Brotkrieg« zur Versorgung der italie­ni­schen Bevöl­kerung während des Zweiten Weltkrieges. Ausdrücklich prangert Francesca Melandri die Ignoranz und Herzlo­sigkeit vieler (italie­ni­scher) Intel­lek­tu­eller und Journa­listen in der Bericht­erstattung über die Ukraine an und kriti­siert darüber hinaus, dass die Westeu­ropäer im Allge­meinen auf ihrer »goldenen Insel des Wohlstands und Friedens« niemals »Kriegs­zeugen«, sondern allein »Zuschauer« seien, die sich auf den Ruf nach Frieden beschränken, also bezüglich der Solida­rität metapho­risch ebenfalls »kalte Füße« bekommen – im Gegensatz dazu seien die »Irynas« zu rühmen, die vor Ort für Freiheit und Gerech­tigkeit kämpfen und denen dieses Buch gewidmet ist.

»Mir wird ganz schwin­delig, Papa, angesichts dieses verwor­renen Gebildes aus Geschichte und Gegenwart«, bekundet Francesca Melandri, und auch der Leser wird sich eines solchen Gefühls mitunter kaum entziehen können – und zugleich erkennen müssen, dass sich die Brisanz dieses Buches aktuell von Tag zu Tag zuschärft.

Ursula Enke