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Titelbild: Neptunbrunnen in Danzig

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In den Blick genommen

Elfi Conrad: Als sei alles leicht

Berlin: Mikrotext, 2025

Januar 1945, drei Frauen und ein neuge­bo­renes Kind, auf der Flucht von Schlesien Richtung Westen – das Szenario erscheint bekannt. 80 Jahre nach den drama­ti­schen Ereig­nissen, während nur noch wenige Zeitzeugen berichten können, setzt Elfi Conrad mit ihrem autofik­tio­nalen Roman, der mitten hinein­führt in Not, Angst, Überfor­derung, Schuld und Scham der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges, in sprach­licher und inhalt­licher Hinsicht ganz eigene Akzente und macht deutlich, dass noch nicht auser­zählt ist, was nicht vergessen werden darf.

Zwei Wochen nach der Flucht aus dem heimat­lichen Trebnitz in Nieder­schlesien erreichen Margarete, ihre Töchter Ursula und Katharina mit der drei Monate alten Tochter von Ursula ein Flücht­lings­lager im Protek­torat Böhmen und Mähren. Noch sind die Deutschen die Herren, doch das Lager wird von Tschechen verwaltet, so ist neben Hunger und Not die Angst vor Schikanen und Schlim­merem ständiger Begleiter der Frauen. Ursula, die junge Mutter, zweiund­zwanzig Jahre alt, eine unbelehrbare Natio­nal­so­zia­listin, gläubige Anhän­gerin von Hitler und Goebbels, entwi­ckelt ihre indivi­duelle Überle­bens­stra­tegie, um ihr Baby versorgen zu können und selbst die eine oder andere Annehm­lichkeit zu erhalten, kritisch beäugt von Mutter und Schwester. 

Margarete, Jahrgang 1902, einst eine selbst­be­wusste Frau mit großen Plänen, die sich weigerte, den vom Vater ausge­wählten Kandi­daten zu heiraten, lieber eine Schnei­der­lehre absol­vierte, dann unerfahren doch in Ehe und Schwan­ger­schaft stolperte und Mutter von drei Kindern wurde, sorgt sich um die Töchter, weiß um die Gefahren, denen sie im Lager ausge­setzt sind, zumal die quirlige Ursula diese nicht wahrhaben zu wollen scheint. Denn sie lässt sich mit einem Tschechen ein, der sie mit Lebens­mitteln, Zigaretten, mit Wundcreme für das Baby und mit Nylon­strümpfen, die sie im Lager nicht tragen kann, ausstattet. Ursel will tanzen, leben, lachen – und hofft, über den Mann an Fahrkarten für die Ausreise zu kommen. 

Als ob alles leicht sei. Als ob es den Krieg nicht gäbe. Als ob es den Hunger nicht gäbe. Als ob es die Kälte nicht gäbe und das ewige Frieren. Als ob es die Angst nicht gäbe. Um das Kind. Um Mutti und Kathi. Um Wolfgang. Um Vati und Günther. Als ob es die Sehnsucht nicht gäbe. Nach Liebe. Nach der Heimat. Nach einem anderen Leben als diesem hier. Nach Frieden.

In einer Mischung aus jugend­licher Naivität und unerschüt­ter­licher Hoffnung pflegt Ursula diese unmög­liche Beziehung, während sie zugleich – noch vor dem Untergang des Dritten Reiches – die Dramatik ihrer Verblendung zu erkennen beginnt. 

Erst später werden sie erfahren, wie sich Hitler das mit den Frauen gedacht hatte. Welchen Zweck sie wirklich erfüllen sollten. Von wegen Gleichheit! […] Die Welt des Mannes war groß. Die Welt der Frau sollte klein sein. Sollte beschränkt sein auf den Mann, die Familie, die Kinder, das Haus.

Als die Schle­sie­rinnen endlich nach Bayern ausreisen können (wobei unklar bleibt, ob der Tscheche wirklich dabei Fäden gezogen hat), erleben sie ein Wechselbad der Gefühle: Endlich Freiheit, aber die Einhei­mi­schen zeigen kein Mitleid, gewähren keine Unter­stützung, es sind zu viele Flücht­linge, die unter­stützt werden wollen. Zu den enttäuschten Hoffnungen gesellt sich ein weiteres Ankommen in der Realität, als die Frauen in den letzten Kriegs­wochen vom Suizid des »Führers« erfahren. Verehrung verwandelt sich in Wut, in Abscheu und Verachtung – ein Mittelweg ist nicht möglich. Nach langer Irrfahrt durch das zerstörte Deutschland landen die Frauen schließlich bei einer entfernten Verwandten im Oberharz – und hadern erneut mit dem Schicksal, denn auch diese hat nicht auf die Neuan­kömm­linge gewartet. Wird es hier einen Neuanfang geben?

Auf nur 120 Seiten, in wechselnden Perspek­tiven, sprachlich reduziert, oft geradezu schmerzhaft karg, lakonisch, mit bevorzugt ellip­ti­schem Satzbau, unter­brochen nur von einzelnen, ausführ­licher erzählten Passagen der Reflexion, breitet Elfi Conrad die Lebenswelt der Zwischen­station Lager aus, die Sorgen und Gedanken der Frauen aus drei Genera­tionen, immer bedroht durch Männer und durch Entschei­dungen, die von Männern getroffen werden. Die Kargheit der Sprache illus­triert wirkungsvoll die Stärke der Frauen, die auf der Flucht um Leben und Überleben kämpfen, Frauen, denen ihre Stärke nicht bewusst ist, die keine »Feminis­tinnen« sind. 

Erst Dora, jenes im letzten Kriegs­winter geborene und zu Wirtschafts­wun­der­zeiten aufwach­sende Mädchen, wird Rahmen­be­din­gungen finden, die es ermög­lichen, die eigene Stärke auszu­testen und auszu­leben. In ihrem 2023 erschie­nenen opulenten Erstling Schnee­flocken wie Feuer erzählt Elfi Conrad von dieser Selbst­findung – es ist ihre eigene Lebens­ge­schichte. Damit kontras­tiert die Autorin in ihrem neuen Buch, das auf Erinne­rungen ihrer Mutter basiert, stimmig das Schicksal der Mütter­ge­ne­ration, die Elend und Not der Kriegs- und Nachkriegszeit zu bewäl­tigen hatte. Immer bleibt ihr Fokus ein konse­quent weiblicher; dabei gelingt es der Autorin, eine Fülle von Themen­kreisen anzuschneiden: natio­nal­so­zia­lis­tische Diktatur und Führerkult, »Sauberkeit« der Wehrmacht und Verbrechen der Deutschen, Juden­ver­folgung, Krieg, Flucht, Traumata, Verdrängung, Überfor­derung, Schuld, Scham, weibliche Sexua­lität, Verge­wal­tigung, das Macht­gefüge zwischen Mann und Frau. So ist ein außer­ge­wöhn­liches Buch entstanden, das nachvoll­ziehbar und klar die großen politisch-historischen Fragen am Ende des unter­ge­henden NS-Staates mit einem feminis­ti­schem Weltblick verschränkt.

Annegret Schröder