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In den Blick genommen

Irene Langemann: Das Gedächtnis der Töchter

Berlin: Friedenauer Presse, 2023

 Wie von leich­ter Hand scheint der Köl­ner Fil­me­ma­che­rin Ire­ne Lan­ge­mann der gran­dio­se Wurf ihres Debüt­ro­mans Das Gedächt­nis der Töch­ter gelun­gen zu sein. Die Zeit­rei­se in die eige­ne Fami­li­en­ge­schich­te reicht bis ins 18. Jahr­hun­dert zu ihren streng­gläu­bi­gen men­no­ni­ti­schen Vor­fah­ren zurück, die sich in einem Dorf in der Nähe von Dan­zig ange­sie­delt hat­ten. Aus Furcht vor dem Wehr­dienst, den sie glau­bens­be­dingt ableh­nen muss­ten, ver­lie­ßen sie 1804 Preu­ßen –  weder sie noch ihre Nach­kom­men wer­den das Land an der unte­ren Weich­sel jemals wie­der­se­hen –, und folg­ten dem wer­ben­den Ruf der Zarin Katha­ri­na der Gro­ßen ins Rus­si­sche Reich. Einen knap­pen Monat allein benö­tig­te der Treck zunächst bis nach Riga, Kin­der wur­den gebo­ren und Tote am Weges­rand begra­ben, und wohl um die 2.000 Kilo­me­ter leg­ten die Aus­wan­de­rer zurück, um in den Süd­os­ten der heu­ti­gen Ukrai­ne nahe Meli­to­pol zu gelan­gen, wo ihnen eine baum­lo­se Step­pe als Sied­lungs­ge­biet zuge­wie­sen wur­de. Wie einst in den Nie­de­run­gen des Weich­sel­del­tas wuss­ten sie mit ihrem Fleiß und Kön­nen auch den kar­ge Boden über­aus erfolg­reich zu kul­ti­vie­ren; dann jedoch bedroh­te 1870 die Ankün­di­gung einer – nun­mehr rus­si­schen – Wehr­re­form das fried­li­che Leben in der von bis zu 6.000 Glau­bens­ge­schwis­tern bewohn­ten Kolo­nie Molot­sch­na. Die dras­ti­schen, grau­en­vol­len Aus­wir­kun­gen, die russ­land­deut­sche Men­no­ni­ten – falls sie nicht recht­zei­tig geflüch­tet waren – seit­dem durch die poli­ti­schen Umbrü­che, die Welt­krie­ge, die Hun­gers­nö­te und letzt­lich die Repres­sa­li­en wäh­rend der sowje­ti­schen Dik­ta­tur erdul­den muss­ten oder nicht über­leb­ten, doku­men­tiert und ver­le­ben­digt Ire­ne Lan­ge­mann in ihrem groß­an­ge­leg­ten auto­bio­gra­phi­schen Roman. 

Die Ich-Erzählerin Vera – unver­kenn­bar das Alter Ego der Autorin, die ihrer­seits 1959 in Issil­kul gebo­ren wur­de und die Sowjet­uni­on 1990 ver­ließ – führt die Leser ins fer­ne Sibi­ri­en der Jah­re 1969 bis 1974 und lässt sie mit­er­le­ben, wie das Mäd­chen in einer Klein­stadt in der Nähe von Omsk als Ange­hö­ri­ge der deut­schen Min­der­heit auf­wächst, ihr Umfeld hell­sich­tig zu begrei­fen lernt und sich zuneh­mend auf die Suche nach der eige­nen Iden­ti­tät in der Fami­lie begibt. Von zwei Erfah­run­gen wird ihre Kind­heit ent­schei­dend geprägt. Da ist zum einen der ver­ba­le wie tät­li­che Angriff durch zwei Kin­der aus ihrer Schul­klas­se, dem sich die Elf­jäh­ri­ge schutz­los aus­ge­lie­fert sieht und der als beklem­men­der Ein­stieg in das Roman­ge­sche­hen meis­ter­haft in Sze­ne gesetzt ist. Der dump­fe Hass, mit dem sie als »Faschis­tin« nie­der­ge­brüllt wird, ver­letzt Vera tief: »Schock­star­re, aus­ge­löst durch ein ein­zi­ges WORT.« Belei­di­gun­gen wie »die Frit­zen«, auf­ge­mal­te Haken­kreu­ze sowie Bespit­ze­lun­gen und Denun­zia­tio­nen bestim­men das Leben ihrer Fami­lie. Die Eltern und die bei­den Kin­der müs­sen sich mit dem Regime arran­gie­ren und nur heim­lich wagen sie, die deut­sche Spra­che und das reli­giö­se Brauch­tum zu pflegen.

Das ande­re fun­da­men­ta­le Ereig­nis geschieht an Veras zehn­tem Geburts­tag: »Mut­ter sprach von etwas, was sie sehr beweg­te – von dem Gedächt­nis der Töch­ter«, und sie mein­te, die Zehn­jäh­ri­ge sei nun, wie einst sie selbst, reif genug, in die tra­dier­ten Fami­li­en­ge­schich­ten ein­ge­weiht zu wer­den. Erstaunt und begie­rig lauscht Vera von nun an den Erzäh­lun­gen der Mut­ter über das, was beharr­lich seit mitt­ler­wei­le fünf Gene­ra­tio­nen an Töch­ter und Enke­lin­nen münd­lich wei­ter­ge­ge­ben wur­de, denn »das Schrei­ben war damals den Män­nern vor­be­hal­ten.« Bestän­dig und immer tie­fer dringt das her­an­wach­sen­de Mäd­chen in die Fami­li­en­ge­schich­te ein und lässt Ver­gan­ge­nes ihre Gegen­wart erhel­len. Es fühlt sich sei­nen (ins­be­son­de­re weib­li­chen) Vor­fah­ren zuneh­mend ver­bun­den und ver­folgt auch, wenn­gleich mit einem inne­ren Schau­dern, die dra­ma­ti­schen Ent­wick­lun­gen um das schwar­ze Schaf der Fami­lie, ihren Groß­on­kel, der sich vom men­no­ni­ti­schen Glau­ben abwen­det, die Sei­nen ver­lässt und als gewalt­be­rei­ter Revo­lu­tio­när unter­taucht. Die ein­zig­ar­ti­gen Cha­rak­te­re und Schick­sa­le schen­ken Vera Erkennt­nis und Ori­en­tie­rung im eige­nen Leben, und zugleich spürt sie sich dem ihr anver­trau­ten Wis­sen in beson­de­rer Wei­se verpflichtet.

Auf­merk­sam beob­ach­te­te Vera, wie die Mut­ter bestän­dig und gewis­sen­haft an einer Fami­li­en­chro­nik arbei­te­te, und beginnt ihrer­seits, dem klei­nen Bru­der dar­aus vor­zu­le­sen. Ein Schrift­stück ganz ande­rer Art, das gewiss nicht in die Hän­de des Kin­des gelan­gen soll­te, hat­te Vera unlängst im Ver­bor­ge­nen ent­deckt und sogleich heim­lich ver­schlun­gen: Das Tage­buch ihrer Mut­ter vom Mai 1941 bis zum Sep­tem­ber 1942 sowie ihre Erin­ne­run­gen aus den Jah­ren 1942 bis 1945. Bei­des sind Zeug­nis­se einer unvor­stell­ba­ren Tra­gö­die, die mit dem Ein­marsch der deut­schen Trup­pen in die Sowjet­uni­on über die men­no­ni­ti­schen Fami­li­en in der Molot­scha­ner Kolo­nie her­ein­brach: In der fünf­ten Gene­ra­tio­nen wur­den sie von ihrem Land ver­trie­ben, die Frau­en, von ihren Män­nern und Söh­nen getrennt, auf bru­ta­le Wei­se in den Nor­den Kasach­stans depor­tiert; sie vege­tier­ten mit Säug­lin­gen, Kin­dern und Alten in erbärm­li­chen Erd­hüt­ten bei Hun­gers­not, mar­tern­der Käl­te, Krank­heit und Tod. Im Janu­ar 1943 schließ­lich wur­den deut­sche Mäd­chen und Frau­en, so auch Veras Mut­ter, in die »Tru­darm­i­ja«, die gefürch­te­te Arbeits­ar­mee, eingezogen. 

Die gna­den­lo­sen Lebens­be­din­gun­gen als Holz­fäl­le­rin­nen in der Tai­ga über­stei­gen bei wei­tem das Maß des Vor­stell­ba­ren. Schi­ka­nen und Demü­ti­gun­gen, der Schmerz und die Ver­zweif­lung, die sie ertra­gen muss­ten, leb­ten in quä­len­den Alb­träu­men fort, und sie wür­den, wie die Mut­ter befürch­te­te, »sich in den Zel­len und Genen der Russ­land­deut­schen ein­gra­ben. Die Men­schen in ihrer Ent­wick­lung läh­men. Zu einem kol­lek­ti­ven Trau­ma wer­den.« Die erschüt­tern­den Auf­zeich­nun­gen von Veras Mut­ter bil­den inter­mit­tie­rend vier der ins­ge­samt 15 Kapi­tel  des Romans, und mit ihrer eige­nen Per­spek­ti­ve schaf­fen sie einen deut­li­chen Kon­trast zu der Intro­spek­ti­on der jugend­li­chen Ich-Erzählerin. 

Bei der Ver­mitt­lung ihres kom­ple­xen Wis­sens ver­leiht die Autorin der Fül­le ihrer Erzäh­lun­gen, Reflek­tio­nen und Asso­zia­tio­nen eine grö­ße­re Fes­tig­keit, indem sie die elf Kapi­tel, die nicht den auto­bio­gra­phi­schen Doku­men­ten der Mut­ter vor­be­hal­ten sind, durch Über­schrif­ten unter­schied­li­chen Leit­mo­ti­ven zuord­net, die dann in ihrer the­ma­ti­schen Viel­schich­tig­keit jeweils vari­iert und kom­po­si­to­risch durch­ge­führt wer­den. Bei­spie­le dafür bie­tet zum einen das Kapi­tel, das unter dem Titel »Wali und die ande­ren Toten« dem Ster­ben, und dabei auch dem Tod von Veras älte­rem Bru­der, gewid­met ist, zum ande­ren eines, das die Über­schrift »Musik – Музыка« trägt. Über Gene­ra­tio­nen hin­weg hat das Musi­zie­ren in der Fami­lie einen hohen Stel­len­wert. Für die Vor­fah­ren galt dies vor allem für das Spiel des Har­mo­ni­ums und den from­men Gemein­de­ge­sang, der sie durch gute und schlech­te Zei­ten trug; Veras Mut­ter wäre ger­ne Diri­gen­tin gewor­den, sie sel­ber erprobt sich als hoch­ta­len­tier­te Pia­nis­tin und nimmt inter­es­siert das Musik­le­ben in der Sowjet­uni­on wahr – auch polnisch-russischen Kampf­lie­dern, lär­men­den Fabrik­klän­gen und »sla­wi­scher Sprach­mu­sik« begeg­net sie auf ihrer Spu­ren­su­che, nimmt vie­le Fäden auf, ver­webt sie kunst­voll in ihre Fami­li­en­ge­schich­ten – bis hin­ein in emp­find­sa­me Traumbilder:

Als ich den ers­ten Satz der »Lun­na­ja Sona­ta«, der Mond­schein­so­na­te ein­üb­te, dach­te ich beim Anschlag der Trio­len an das Schlaf­wan­deln. Ich sah Groß­mutter Sara im lan­gen Nacht­hemd von der Schlaf­bank auf­ste­hen, mit aus­drucks­lo­sem Gesicht und dem ins Lee­re gerich­te­ten Blick in die Küche tap­sen, den Licht­strei­fen des Mon­des auf dem Boden über­que­ren, die Tür der Vor­rats­kam­mer öff­nen, nach einem Apfel im Obst­korb grei­fen und durch die Haus­tür in den dunk­len Hof ver­schwin­den. Mit drei­zehn Jah­ren hör­ten die Nacht­wand­lun­gen bei ihr auf, um vier­und­sech­zig Jah­re spä­ter bei mir wie­der einzusetzen.

Zehn Jah­re lang ist Ire­ne Lan­ge­mann akri­bisch ihrer eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te und der­je­ni­gen der men­no­ni­ti­schen Gemein­schaft aus West­preu­ßen nach­ge­gan­gen – in tie­fer Ver­bun­den­heit lässt sie ihre Prot­ago­nis­ten immer wie­der ein­mal plaut­dietsch reden – und hat dar­über hin­aus his­to­ri­sche und poli­ti­sche Hin­ter­grün­de genau­es­tens erforscht. Dar­auf­hin ist es ihr gelun­gen, mit Ver­ve die­sen eben­so fakten- wie facet­ten­rei­chen Roman der­art bewe­gend zu gestal­ten, dass es den Lesern ein Leich­tes ist, ihr über die fast 500 Buch­sei­ten hin gebannt zu fol­gen, – und letzt­lich wer­den auch sie gewiss noch län­ger über die fol­gen­de Kern­aus­sa­ge der Autorin nach­den­ken wol­len: »Ich schlie­ße Frie­den mit mei­ner Her­kunft«, aber »wer­de ich das Sibi­ri­en in mir über­win­den können?«

Ursu­la Enke