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In den Blick genommen

Susanne Fritz: Heinrich

Göttingen: Wallstein, 2023

 Wie nähert man sich einem Men­schen an, den man kennt als Erwach­se­nen, als Vater, des­sen Kind­heit und Jugend jedoch eine »uner­zähl­te Zeit« geblie­ben und spä­ter ver­leug­net wor­den sind? Die Autorin Susan­ne Fritz begibt sich in ihrem Roman Hein­rich auf eine schwie­ri­ge Spu­ren­su­che: Weni­ge bio­gra­fi­sche Fak­ten und per­sön­li­che Infor­ma­tio­nen, ergänzt durch his­to­ri­sche Daten und Erzäh­lun­gen, bil­den die Basis für den Ver­such, den Vater und sei­ne Zeit zu ver­ste­hen. Dabei malt die Autorin ihre Vor­stel­lun­gen von sei­nem Leben mit­tels gedank­li­cher Phan­ta­sien aus – eine unge­wöhn­li­che Erzähl­wei­se, die kei­ner Chro­no­lo­gie folgt und dem Leser mit Szenen- und Per­spek­tiv­wech­seln viel abver­langt. Doch kön­nen die Fra­gen nach Aus­wir­kun­gen his­to­ri­scher Umwäl­zun­gen auf das Schick­sal Ein­zel­ner, nach Iden­ti­tät und Hei­mat, als bei­spiel­haft ver­stan­den wer­den für die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­der Trau­ma­ti­sie­rung, aktu­ell bis in die Gegen­wart hinein.

1926 kommt in Swar­sędz (Schwer­senz) bei Poz­nań (Posen) ein Jun­ge, der im Roman »Hein­rich« genannt wird, als Sohn eines Mühl­bau­ern zur Welt. Nach dem Ver­sailler Ver­trag und den fol­gen­den Grenz­ver­schie­bun­gen befin­den sich Hof und Grund in einem ande­ren Land, erfah­ren die Eltern als Ange­hö­ri­ge der deut­schen Min­der­heit in Polen Repres­sa­li­en. Der Vater, groß­spu­rig, lau­nen­haft, ein Tau­ge­nichts, des­sen Spitz­na­me »Hopp­la« eine tref­fen­de Bezeich­nung dar­stellt, ist ein Spie­ler und Trin­ker, der Frau und Sohn gegen­über auf­brau­send und bru­tal auf­tritt. Undis­zi­pli­niert und unzu­ver­läs­sig, wie er ist, ver­liert »Hopp­la« in den wirt­schaft­lich und poli­tisch schwie­ri­gen 1920er Jah­ren mit Hyper­in­fla­ti­on und rasch wech­seln­den Regie­run­gen in der jun­gen Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik den Hof. Die Mut­ter lässt sich schließ­lich schei­den, der inzwi­schen sechs­jäh­ri­ge Jun­ge wird zu Ver­wand­ten in eine nahe Klein­stadt geschickt, wo er in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen aufwächst.

Sei­ne Fami­lie war vom Glück ver­las­sen, oder wur­de nie vom Glück bewohnt, was damals viel­leicht gar nicht so ­unüb­lich war und schon das Wort eine eher sel­te­ne Vokabel.

Als 1939 Hitler-Deutschland in Polen ein­fällt, eröff­nen sich für den drei­zehn­jäh­ri­gen Hein­rich Mög­lich­kei­ten: Von der Volks­schu­le kann er auf die Mit­tel­schu­le nach Posen wech­seln, in der HJ macht er Kar­rie­re. 1944 wird er zur Wehr­macht ein­ge­zo­gen und sogar auf einen Offi­ziers­lehr­gang geschickt, obwohl die­ser eigent­lich nur adli­gen Bewer­bern offen­steht. In der Nähe von Dan­zig endet der Krieg für den jun­gen Sol­da­ten, als er in sowje­ti­sche Gefan­gen­schaft gerät; spä­ter wird er in einem Gefan­ge­nen­la­ger in der Ukrai­ne beim Brü­cken­bau eingesetzt.

Da der Vater von die­ser Zeit nie erzählt, kei­ne Gefüh­le zuge­las­sen hat, bringt Susan­ne Fritz hier ihre Vor­stel­lun­gen ein, ver­knüpft sie mit his­to­ri­schen Asso­zia­tio­nen und der gegen­wär­ti­gen Kriegs­si­tua­ti­on in der Ukrai­ne, mit ihren »Gedan­ken­fun­ken«: 

Die Welt von ges­tern wirkt wie die Welt von heu­te, die Gegen­wart bestimmt die Les­art des Ver­gan­ge­nen. Wo sich die Erzähl­per­spek­ti­ven über­schnei­den, sprü­hen Funken.

Rasch erkennt der jun­ge Hein­rich, indem er Bau­auf­trä­ge zuver­läs­sig erfüllt, dass nur Tüch­tig­keit sein Über­le­ben sichern kann. Die Gefan­gen­schaft als eine Schu­le des Lebens zu ver­ste­hen, so ver­mu­tet die Toch­ter, hilft, die­se Jah­re nicht als ver­lo­ren anzu­se­hen, zumal ein Talent zum Hand­werk und zur Impro­vi­sa­ti­on und der Wil­le zur Selbst­be­haup­tung erkenn­bar wer­den. Weil er kei­ne Hei­mat mehr hat, lässt sich Hein­rich aus der Gefan­gen­schaft in die süd­deut­sche Hei­mat eines Kame­ra­den ent­las­sen, der auf dem Hof Hil­fe gebrau­chen kann. Der Neu­an­fang für den Kriegs­heim­keh­rer, der den schwä­bi­schen Dia­lekt nicht beherrscht, ist alles ande­re als ein­fach, doch Hein­rich lässt sich nicht ent­mu­ti­gen. In der Nach­kriegs­zeit wer­den Men­schen, die Häu­ser bau­en, gebraucht, so ver­lässt er bald den Hof, absol­viert eine Leh­re als Zim­mer­mann und bil­det sich wei­ter mit dem Ziel, Archi­tekt zu werden. 

Beharr­lich und aus­dau­ernd sein Talent sowie die Mög­lich­kei­ten nut­zend, die die Wirt­schafts­wun­der­zei­ten bie­ten, zei­gen sich ers­te Erfol­ge, gelingt ein rascher Auf­stieg, bald gekrönt vom eige­nen Unter­neh­men. Prag­ma­tisch und ver­nünf­tig wie die beruf­li­che Kar­rie­re ver­folgt Hein­rich auch die Fami­li­en­grün­dung: Sei­ne Gefähr­tin fin­det er in Lot­te, einer jun­gen Frau, die im sel­ben Städt­chen wie er auf­ge­wach­sen ist und die klas­si­sche Rol­len­ver­tei­lung mit Zustän­dig­keit für Haus­halt und Kin­der als selbst­ver­ständ­lich akzep­tiert. Anders als sein Vater zeigt Hein­rich sich pflicht­be­wusst und zuver­läs­sig, aber die Fir­ma ver­langt per­ma­nen­tes Enga­ge­ment und Hein­richs Ehr­geiz wie Gestal­tungs­wil­len ermög­li­chen nicht nur einen schwin­del­erre­gen­den Auf­stieg, sie füh­ren im Lau­fe der Jah­re dazu, dass die Fami­lie nur am Ran­de vor­kommt, die Toch­ter den Vater als gro­ßen Abwe­sen­den wahr­nimmt. Über Gegen­stän­de, Erin­ne­run­gen, Rück­blen­den gelingt es ihr erst, den Vater zu beschrei­ben – nicht immer ist es ein posi­ti­ves Bild, Aspek­te des Groß­va­ters wie Jäh­zorn und Selbst­ge­rech­tig­keit meint die Toch­ter zu erken­nen, kind­li­che Emp­fin­dun­gen von Nicht-Verstanden-Werden beglei­ten noch die Erwachsene. 

Die Jah­re des rasan­ten Auf­stiegs und ste­ti­ger Über­for­de­rung jedoch for­dern ihren Preis: Mit 50 ist der Leis­tungs­mensch Hein­rich aus­ge­brannt, zutiefst erschöpft, ver­kauft sein Unter­neh­men – und gerät in eine Sinn­kri­se. Er will Bal­last abwer­fen, ein neu­es, frei­es Leben füh­ren, doch die Fami­lie liebt ihre Bequem­lich­kei­ten und kann den Visio­nen und Träu­men des Vaters nicht fol­gen. Wäh­rend zur Fremd­heit Streit und Aus­ein­an­der­set­zun­gen kom­men, voll­zieht Hein­rich eine Kehrt­wen­de vom Den­ken der Über­fluss­ge­sell­schaft zu neu­er Beschei­den­heit. Da Untä­tig­keit ihm nicht liegt, ent­wi­ckelt er Plä­ne umwelt­ver­träg­li­chen Lebens und Woh­nens, und mit den Ent­wür­fen für solch zukunft­wei­sen­des Bau­en kom­men neue Auf­trä­ge und neue Erfol­ge. Die Toch­ter kann es nicht glau­ben: Aus­ge­rech­net ihr Vater soll ein Pio­nier, sei­ner Zeit vor­aus sein? 

Dann zwingt der Kör­per zu einer Aus­zeit, und der Kran­ken­haus­auf­ent­halt vor einer Herz­ope­ra­ti­on wird zur Gele­gen­heit für eine Intro­spek­ti­on, die Hein­rich in Kind­heit und Ver­gan­gen­heit ver­setzt, vor allem aber die Fra­ge »Wer bin ich?« zu beant­wor­ten sucht, denn nicht die Nach­welt oder die Fami­lie sind die Adres­sa­ten sei­ner Über­le­gun­gen. Zum ers­ten Mal im Leben kon­fron­tiert Hein­rich sich mit sich selbst, löst sich von Prag­ma­tis­mus und Erfolgs­den­ken. In den letz­ten Abschnit­ten ihres Buches beglei­tet die Toch­ter die­se Gedan­ken des Vaters, rekon­stru­iert sie, bemüht, ein Leben und eine Zeit zu ver­ste­hen, die ihr per­sön­lich so fremd sind.

Lebens­we­ge hin­ter­las­sen kei­ne Wan­der­kar­ten. Von Flucht­we­gen bleibt eine inne­re Zeich­nung, die rück­wärts führt ins Labyrinth.

Dass er, der in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen groß wur­de, trotz nicht vor­han­de­ner Vor­aus­set­zun­gen erfolg­reich wer­den konn­te, beschäf­tigt ihn, die Her­kunft ver­folgt ihn, mut­maßt die Toch­ter. Die eige­ne Eitel­keit befrie­di­gen, indem man im Lebens­wett­kampf die ande­ren über­trumpft, scheint ein star­kes Motiv zu sein, doch dem chan­cen­lo­sen Schei­dungs­kind gelingt der Auf­stieg erst im Zuge der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Über­nah­me sei­ner Lebens­welt. Hit­ler­ju­gend und Wehr­macht, mili­tä­ri­sche Hier­ar­chien und sol­da­ti­scher Gehor­sam prä­gen mehr als alle vor­he­ri­gen Erfah­run­gen, brin­gen einen Stre­ber her­vor, der den Krieg als Aben­teu­er ansieht, das er viel­leicht ver­pas­sen könn­te. Wäh­rend sich die Toch­ter noch schwer­tut, die­se Hal­tung bedin­gungs­lo­ser Bereit­schaft nach­zu­voll­zie­hen, zeich­net sich für Hein­rich ein ent­schei­den­der Wech­sel ab, als er in ers­te Kriegs­hand­lun­gen ver­wi­ckelt wird und die Feind­be­rüh­run­gen ihn der­art berüh­ren, dass er, unfä­hig zum Töten, den Rück­zug antritt. Eine sol­che Hal­tung wäre in der End­pha­se des Krie­ges als Ver­rat und Wehr­kraft­zer­set­zung geahn­det wor­den, hät­te jemand davon erfah­ren, reflek­tiert die Toch­ter aus­führ­lich, doch Hein­rich sieht sich schon, wie er sich in die end­lo­se Kolon­ne der Kriegs­ge­fan­ge­nen einreiht.

Wie reagie­ren auf Schmerz, Scher­ben, Ver­lust? Sich auf­rap­peln, repa­rie­ren, wie­der­be­schaf­fen und so tun, als könn­te ein Mensch von vor­ne begin­nen? Oder sich das Unglück ein­ver­lei­ben, Kata­stro­phe spie­len und so lan­ge wüten, bis nichts mehr kaputt­ge­hen kann?

Für Hein­rich wird das Bau­en, der Beruf zur Ret­tung, fokus­siert dar­auf, kei­ne Schwä­che zu zei­gen, kei­ne Rück­schau zuzu­las­sen, sich nicht von Gefüh­len beein­flus­sen zu las­sen. Hart gegen sich selbst, fin­det er sei­nen Platz im Leben, sein Lebens­glück – und bleibt doch lebens­lang ein Suchender.

In die­ser Hal­tung steht er reprä­sen­ta­tiv für Men­schen, die als Kin­der und Jugend­li­che durch natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da und Lebens­rea­li­tä­ten geprägt wur­den, so wie Susan­ne Fritz – bei­spiel­haft für nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen – Ver­su­che unter­nimmt, den Vater zu ver­ste­hen. Auch wenn sie his­to­ri­sche Fak­ten und Ereig­nis­se ein­be­zieht, bleibt ihr Blick auf die Väter­ge­nera­ti­on ein erkenn­bar gegen­warts­ge­präg­ter, ihre Fra­ge­stel­lun­gen sind die des 21. Jahr­hun­derts, nicht die eines Zeit­zeu­gen. In der auto­fik­tio­na­len Kon­struk­ti­on ihres Buches, in der Anein­an­der­rei­hung bruch­stück­haf­ter Minia­tu­ren und in der exzes­si­ven Nut­zung von Ana­phern, Ellip­sen, Inver­sio­nen, rhe­to­ri­schen Fra­gen und wort­rei­chen Wie­der­ho­lun­gen nähert sich die Autorin dem frem­den Vater an, um die eige­ne Vor­ein­ge­nom­men­heit zu über­win­den und ersehn­te Ant­wor­ten zu fin­den. Ihr dabei zu fol­gen ist nicht immer leicht, doch die viel­fäl­ti­gen Denk­an­stö­ße des Buches kön­nen die eige­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit Fra­gen des Lebens berei­chern, wobei die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät nicht zuletzt in der eigen­wil­li­gen sprach­li­chen Gestal­tung liegt, die die inhalt­li­che Ebe­ne wir­kungs­voll mit­trägt und intensiviert.

Anne­gret Schröder