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In den Blick genommen

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Dieser im Jahre 2014 veröffentliche Roman von Ulrike Draesner hat sogleich große Aufmerksamkeit erregt. 2016 folgte bereits eine Taschenbuchausgabe, und in einem Internet-Portal setzt sich die Diskussion über dieses – und mit diesem – Buch unvermindert fort.

Jeder, der sei­ne Hei­mat ver­las­sen und an einem ande­ren Ort neu anfan­gen muss, erlebt und emp­fin­det dies auf sei­ne ganz eige­ne Wei­se – lebens­lang und mit Aus­wir­kun­gen bis in die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen. Solch indi­vi­du­el­lem Erle­ben spürt Ulri­ke Draes­ner in ihrem Roman nach, wobei sie Men­schen aus vier Gene­ra­tio­nen eine Stim­me gibt, die Schre­cken und Schön­heit des Wei­ter­le­bens, will­kür­li­che und unwill­kür­li­che Erin­ne­run­gen reflek­tie­ren. Ergänzt wird das Buch von einer Web­site, mit der qua­si der Sprung in ein ande­res Medi­um rea­li­siert wird. Lese­rin­nen und Lesern bie­tet sich damit nicht nur ein Forum für indi­vi­du­el­les Feed­back, son­dern zudem Gele­gen­heit zum Aus­tausch eige­ner Erfahrungen.

Draes­ner erzählt die Lebens­ge­schich­te des Kriegs­kin­des ­Eusta­chi­us Grol­mann, gebo­ren 1930 in Schle­si­en, das im Janu­ar 1945 mit sei­nen Eltern und sei­nem behin­der­ten Bru­der durch den schle­si­schen Win­ter­wald gen Wes­ten floh. Neben Frag­men­ten sei­ner Erin­ne­rung an die Flucht wird in Bei­trä­gen sei­ner Eltern, sei­ner Toch­ter und sei­ner Enke­lin gespie­gelt, wel­ches Aus­maß an mensch­li­cher Tra­gö­die er zu bewäl­ti­gen hat­te. Ver­letzt, geschä­digt, trau­ma­ti­siert, trau­ernd um den auf der Flucht zu Tode gekom­me­nen Bru­der, ent­wi­ckelt der Natur­wis­sen­schaft­ler eine ganz eige­ne Über­le­bens­phi­lo­so­phie: Er wen­det sich Tie­ren zu, die er bes­ser zu ver­ste­hen meint als Men­schen. Ist der Leser zunächst ver­wun­dert ob der zuwei­len skur­ril anmu­ten­den Gedan­ken­gän­ge des altern­den Eusta­chi­us und der umfang­rei­chen Beschäf­ti­gung mit Affen­pro­jek­ten, wer­den zuneh­mend ver­blüf­fen­de Par­al­le­len erkenn­bar, von denen die Ver­trei­bung aus dem ursprüng­li­chen Lebens­raum nur die offen­sicht­lichs­te ist.

In Grol­manns Toch­ter Simo­ne fin­det die nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on ihre Stim­me. Als erfolg­rei­che Ver­hal­tens­for­sche­rin folgt die Toch­ter beruf­lich den Spu­ren von Eusta­chi­us, und obschon vie­le Jah­re nach dem Krieg in Bay­ern gebo­ren, ist sie geprägt durch das Schwei­gen des Vaters und sei­ne unsicht­ba­ren Schmer­zen. Fami­li­en­kon­flik­te und Neu­ro­sen machen ihr zu schaf­fen. So ist ihre Angst vor Schnee nur erklär­bar durch die Flucht­er­fah­run­gen des Vaters aus dem Win­ter 45. Sie liebt ihren Vater – und kommt ihm gleich­wohl nicht nah. In sol­chen Erfah­run­gen wer­den sich zahl­rei­che Kin­der von Men­schen mit Flucht­ver­gan­gen­heit wie­der­fin­den. Simo­ne reprä­sen­tiert im Roman die trans­ge­ne­ra­tio­na­le Wei­ter­ga­be von Trau­ma­ti­sie­run­gen, doch auch der Mann, in den sie sich ver­liebt, bringt eine Flucht­ge­schich­te mit. Die­ser Prot­ago­nist, der im Sin­ne eines „re­enactments“ die Ver­trei­bun­gen, die nach 1945 inner­halb Polens statt­fan­den, nach­zeich­net, und sei­ne Mut­ter machen deut­lich, dass es nicht „die“ Wahr­heit zu den Gescheh­nis­sen in Euro­pa 1945 und ihren bis heu­te spür­ba­ren Fol­gen gibt. Ein­dring­lich lotet die Autorin im Erzähl­strang der aus Ost­po­len nach Bres­lau ver­trie­be­nen Hal­ka aus, was die Polen durch­ge­macht haben, was ihnen zuge­mu­tet wor­den ist.

Das Geschichts- und Fami­li­en­pan­ora­ma wird ergänzt durch die Berich­te der Eltern von Eusta­chi­us. Sowohl der Vater, der Erfah­run­gen in zwei Welt­krie­gen machen muss, als auch die Mut­ter sind getrie­ben von der Sor­ge um den behin­der­ten Sohn, der im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Umfeld beson­de­ren Schut­zes bedarf. Doch Kriegs­ge­sche­hen und Flucht in letz­ter Stun­de machen es unmög­lich, die­sen Schutz auf­recht­zu­er­hal­ten – ein wei­te­res Trau­ma, das die Fami­lie mit­nimmt in die neue Heimat.

Ulri­ke Draes­ner trägt mit ihrem viel­schich­ti­gen Roman die Gefüh­le der Betrof­fe­nen nah an den Leser her­an. Ihr Anlie­gen, so beschreibt sie es sel­ber, ist es, das Schwei­gen der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on „hin­über­zu­zie­hen, zu über­set­zen in sprach­li­chen Aus­druck“. Sie ent­schei­det sich, sti­lis­ti­sche Gren­zen hin­ter sich zu las­sen, indem sie jeder ihrer Figu­ren eine indi­vi­du­el­le Note ver­leiht, sodass ein Kalei­do­skop unter­schied­li­cher Sprach­codes und Per­spek­ti­ven ent­steht. Zuwei­len gera­de­zu lyrisch, dann wie­der sach­lich und kühl, wech­selt mit jedem Prot­ago­nis­ten die Sprach­ebe­ne. Draes­ner mutet ihren Lesern viel zu, the­ma­tisch und lite­ra­risch. Ihr Roman ist eine Her­aus­for­de­rung, nicht immer ein­fach zu lesen. Doch wer sich dar­auf ein­lässt, den unter­schied­li­chen Spu­ren zu fol­gen, ent­deckt nicht nur, wie Inhalt und Spra­che mit­ein­an­der vir­tu­os kor­re­spon­die­ren und kon­tras­tie­ren. In denen, die „vom Rand der Welt“ gesprun­gen sind, kann der Leser sich wie­der­fin­den mit sei­ner Geschich­te, den Erfah­run­gen der eige­nen Fami­lie, dem Leid der Urka­ta­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts, das bis heu­te ver­nehm­bar ist.

Und mehr noch : Seit sei­nen Anfän­gen ist das Buch von einer Web­site beglei­tet wor­den – der Roman wech­selt das Medi­um, „springt“ aus der Buch­welt ins Netz. Die Web­site „der​-sieb​te​-sprung​.de“ bie­tet ein aus­führ­li­ches Inter­view mit der Autorin, wel­ches Ein­bli­cke in ihre Schreib­werk­statt gewährt, und gibt Infor­ma­tio­nen zu den deut­schen und pol­ni­schen Quel­len, die genutzt wor­den sind.

In den Erfah­run­gen der Leser und Lese­rin­nen lebt das Pro­jekt auch nach Erschei­nen des Romans fort, so dass ein inter­ak­ti­ver Dia­log zwi­schen Schrift­stel­le­rin und Lesern, aber auch von Lesern unter­ein­an­der geför­dert wird. Es bie­tet sich ein Forum für die, denen die Erfah­run­gen von Flucht und Ver­trei­bung nicht fremd sind, eben­so wie für die, die als nach­fol­gen­de Gene­ra­ti­on spre­chen. Die Stim­men der Leser bestä­ti­gen die Authen­ti­zi­tät des­sen, was die fik­ti­ven Prot­ago­nis­ten erle­ben und erlei­den, und spie­geln sie in ganz eige­ner Wei­se. Dane­ben kön­nen via Twit­ter Ein­drü­cke von den Recher­che­rei­sen der Autorin nach­voll­zo­gen werden.

Ulri­ke Draes­ner, viel­fach aus­ge­zeich­net für ihr Werk, ist mit ihrem atmo­sphä­risch dich­ten, zum Nach­den­ken und Nach­füh­len anre­gen­den Roman Sie­ben Sprün­ge vom Rand der Welt ein her­aus­ra­gen­des lite­ra­ri­sches Zeug­nis gelun­gen, was schon 2014, im Jahr der Erst­ver­öf­fent­li­chung, die Nomi­nie­rung für den Deut­schen Buch­preis belegt hat.

Annegret Schröder