Das Akrobatische Tanz-Theater »Mira-Art« aus Gdingen
Tanz, Ballett, Luftakrobatik, Lichtkunst, Musik, Sound, Theater und Multimedia-Show – diese vielfältigen Elemente vereinigen sich in den außergewöhnlichen Darbietungen des Gdingener Ensembles Mira-Art. Seit über zwanzig Jahren begeistert diese Kompagnie ihr Publikum und sucht nach immer neuen Ausdrucksformen des künstlerischen Gestaltens.
Neue Dimensionen des Tanztheaters
Die Ursprünge des Mira-Art reichen bis ins Jahr 1999 zurück. Seine Gründer sind Mirosława Kister, eine Ballettsolistin und Choreografin vom Gdingener Musiktheater, und Krzysztof Okoń, ein Theaterschauspieler, der bei Musical-Produktionen von Jesus Christ Superstar und West Side Story mitgewirkt hatte. Angesichts des wachsenden Interesses an innovativen Verknüpfungen von künstlerischen Medien beschlossen die beiden, eine eigene experimentelle Künstlergruppe zu gründen. Zunächst konzentrierten sie sich auf den Tanz in seinen mannigfachen Erscheinungsformen – vom klassischen Ballett über den Ausdruckstanz bis zu den daran anschließenden Spielarten des Modern Dance. Die Ambitionen richteten sich jedoch bald darauf, den verfügbaren Raum des Theaters sowie das Repertoire der möglichen Bewegungen deutlich zu erweitern: So begann die abenteuerliche Reise des Teams in das Gebiet der Luftakrobatik.
Anfang der 2000er Jahre war dieser Ansatz in Polen noch unerschlossen. Die Gruppe war deshalb gezwungen, sich Anregungen aus fremdsprachigen Instruktionen und Erfahrungsberichten zu holen, musste sich vor allem aber mit den Bewegungen und Hilfsmitteln durch eigenes Ausprobieren bekanntmachen und dabei Problemlösungen nach dem Prinzip Learning by Doing erarbeiten. Eine besondere Herausforderung bestand darin, die sportlichen Komponenten der Akrobatik mit Elementen des Tanztheaters zu verschmelzen. Die meisten Mitglieder der Gruppe hatten zuvor auf hohem Niveau Kunstturnen ausgeübt und bemühten sich nun, ihre Kraft, Beweglichkeit, Balance und Koordination stärker dem Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit dienstbar zu machen und sich selbst als Akteure bzw. Aktricen innerhalb eines Bühnengeschehens zu verstehen.
In der praktischen Arbeit begannen die Tänzer zunächst in niedriger Höhe mit langen, stoffartigen Tüchern, die an zwei Punkten befestigt werden (Aerial Hammock) und – ähnlich einer Hängematte – eine Schlaufe bilden. Auf diese Art konnten erste, einfache Bewegungsabläufe arrangiert werden, aus deren Kombination sich bereits choreographische Muster entwickeln ließen. Diese Phase wurde bald überwunden und die Fähigkeiten der Tänzerinnen und Tänzer verbesserten sich zusehends. Zugleich erweiterte sich der Spiel-Raum in immer größere Höhen; und auch die Art der verwendeten Akrobatikgeräte differenzierte sich aus: hinzukamen z. B. Luftringe (Aerial Hoops), Trapeze (Aerial Trapeze) und Luftakrobatiktücher (Aerial Silks).
Als die einzelnen choreographischen Einheiten schließlich zu geschlossenen Geschichten, zu einer kohärenten Bühnenhandlung, zusammenwuchsen, war die Zeit gekommen, in der das selbstständig gewordene Bühnenprojekt einen eigenen Namen beanspruchen konnte. Von nun an bezeichnete sich das Ensemble selbstbewusst als Akrobatisches Tanz-Theater »Mira-Art« (Akrobatyczny Teatr Tańca Mira-Art), wobei »Mira«, als Kurzform der weiblichen Vornamen Miranda, Mirabella oder – wie im Falle der Mitgründerin – Mirosława, offensichtlich auf das lateinische Wort mirabilis verweist und Assoziationen an das Bedeutungsfeld des Wunderbaren oder des Bewunderns- bzw. Staunenswerten hervorruft.
Profile eines Theaters ohne eigene Spielstätte
Mira-Art ist ein ungewöhnliches Theater, denn es verfügt über keine eigene Bühne. Stattdessen reisen die Künstler zu Partnern im ganzen Land, um sich vor Ort von jeweiligen Konzeptionen inspirieren zu lassen und im kreativen Dialog Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorhabens zu ventilieren. Auf diesem Wege haben sich bereits etliche Synergien ergeben, darunter auch Kooperationen mit Großen des polnischen Theaters wie Jerzy Limon, dem (2021 verstorbenen) Literaturwissenschaftler, Übersetzer sowie Gründer und ersten künstlerischen Direktor des Danziger Shakespeare-Theaters oder dem vielfach preisgekrönten Schauspieler und Theaterregisseur Wojciech Kościelniak.
Neben diesem partnerschaftlichen Modell konzipiert die Truppe ihre Stücke freilich auch gänzlich autonom. Häufig entsteht solch eine Show aus einem bestimmten Anlass heraus wie zum Beispiel für das vielgestaltige Magic-Malbork-Festival, das jährlich anspruchsvolle Performances von Straßenkünstlern, Musikern, Schauspielern sowie Boden- und Luftakrobaten bietet. Auch bei einer Reihe anderer sportlicher und kultureller Veranstaltungen tritt Mira-Art mit eigenen Beiträgen auf. Besonders bemerkenswert waren bislang die Aufführungen für Papst Franziskus im Krakauer Błonia-Park oder für den Scheich von Dubai in dessen Palast; in Erinnerung geblieben ist aber auch das außergewöhnliche Spektakel, das 2014 bei der Eröffnung des Danziger Shakespeare-Theaters inszeniert wurde, als die Tänzer mit Hilfe eines Krans durch das geöffnete Dach herabschwebten und Kostproben ihrer Kunst über den Köpfen des Premierenpublikums gaben.
Seit längerem ist das Akrobatische Tanztheater aus Gdingen auch international bekanntgeworden. So wurde es beispielsweise zum Techfest im Mumbai, einem renommierten, jährlich stattfindenden Wissenschafts- und Technologiefestival, eingeladen und gastierte – ebenfalls auf dem indischen Subkontinent – beim IAA World Congress in Cochin (Kochi); oder es beteiligte sich auf eine höchst originelle Art an den Festveranstaltungen zum 100. Jubiläum des Wiedererstehens von Polens Eigenstaatlichkeit im Jahre 2018: Auf der Reise des legendären Segelschulschiffs Dar Pomorza um die Welt schlossen sich Teammitglieder der Crew an und machten das Deck, die Masten und die Takelage zum Bühnenraum, den sie in Häfen wie Bordeaux, Cartagena oder Singapur artistisch bespielten.
Diesseits solcher exzeptionellen Engagements, im täglichen Betrieb, arbeitet das Mira-Art vor allem mit den Theatern der Dreistadt zusammen. Gemeinsam mit der Musikbühne in Gdingen gestaltet es die jährlichen Silvesterkonzerte mit und beteiligt sich regelmäßig an den Aufführungen der Produktionen Wiedźmin [Der Hexer], Notre Dame de Paris und Pan Disney zaprasza [Herr Disney lädt ein]. Im Shakespeare-Theater in Danzig hat das erste eigene abendfüllende Bühnenwerk, die zauberhafte Geschichte von Sindbads Abenteuer, die ihre Premiere im Dezember 2012 in Dubai erlebt hatte, schon unzählige Male auf dem Programm gestanden.
Als wichtiger Baustein des Repertoires hat sich in den letzten Jahren das von Mira Kister und Krzysztof Okoń verfasste und inszenierte Stück Four Seasons [Die vier Jahreszeiten] erwiesen. Die Uraufführung fand 2019 im Gdingener Musiktheater statt. Den thematischen Vorwurf bildet die generelle Lebensgeschichte einer Frau; deren Verlauf ist allegorisch mit den vier Teilen von Antonio Vivaldis »Jahreszeiten« verschränkt: Vom Mysterium der Empfängnis bis zum Tod entfalten die Episoden Erlebnisse in der Kindheit, erste Gefühle, Konflikte, Liebe, Enttäuschungen, Mutterschaft, Arbeit und Erfahrungen am Lebensabend. Die Szenenbilder hat die renommierte Künstlerin und Bildhauerin Katarzyna Józefowicz entworfen; und die Musik schuf Artur Guza, ein im Bereich des Jazz und der Bühnenmusik ausgewiesener Spezialist für Komposition und Arrangement, der sich bei der Ausarbeitung des Soundtracks gleichermaßen von den Stillagen der Gegenwartsmusik wie von Vivaldis vier Violinkonzerten, die den berühmten »Jahreszeiten«-Zyklus konstituieren, hat inspirieren lassen.
Die Vielfältigkeit der Vorhaben, an denen Mira-Art sich zu beteiligen vermag, zeigt gegenwärtig das Projekt Chełmoński Dźwiękiem Malowane [Chełmoński mit Klängen gemalt], das von der Stiftung Koncept Kultura entwickelt worden ist und das Ziel verfolgt, das Werk von Józef Marian Chełmoński (1849–1914), einem der bedeutendsten polnischen Maler des Realismus, multimedial zu erschließen und zu vermitteln. Neben einer Virtual-Reality-Präsentation und einer wechselseitigen Verschränkung von Bild und Musik steht eine spektakuläre, immersive »Aufführung« von Gemälden des Meisters, die filmisch durch Stop-Motion-Animation zum Leben erweckt und dabei vertiefend von Musik, Geräuschen, Natursounds sowie – dank der Mitwirkung von Mira-Art – von Tanz und Luftakrobatik interpretiert werden. Diese faszinierende Reise in Chełmońskis Welt der Naturbilder und der Volkskultur wird schließlich noch abgerundet durch Partien der bekannten Schauspielerin Danuta Stenka. Sie tritt in der Rolle der Malerin Pia Górska auf, die als Freundin Chełmońskis aus der Innenperspektive heraus aufschlussreiche und heitere Episoden und Anekdoten zu erzählen weiß.
Grundlegende Merkmale eines hybriden Tanztheaters
Im Laufe der mehr als zweieinhalb Jahrzehnte seines Bestehens haben sich Grundstrukturen der künstlerischen Arbeit herauskristallisiert, die einerseits eine hohe Ähnlichkeit mit den Konzeptionen des Bühnentanzes – und im engeren Sinne des Balletts – zu erkennen geben, andererseits aber auch spezifische Anforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des akrobatischen Bewegungstheaters deutlich werden lassen.
Beiden Kunstformen gemeinsam ist zunächst die Basisentscheidung zwischen einem »abstrakten« Tanz, der allein Figuren, Gruppierungen und choreographische Prozesse präsentiert, oder der inhaltlichen Orientierung an einem »Plot«, einer Geschichte, die (wie beim traditionellen Ballett) in einem Libretto oder (wie bei neueren, hybriden Spektakeln) in einer Art Drehbuch oder in einem Storyboard festgehalten sind. Dabei bleibt allerdings, und auch in dieser Eigenschaft stimmen beide Spielarten des Tanztheaters überein, die Sprache weitestgehend als Kunstmittel ausgeschlossen: Das Tanztheater verzichtet auf feinere gedankliche Differenzierungen, die in einem Dialog entfaltet werden könnten, und arbeitet vielmehr mit Symbolen, Metaphern oder Allegorien, die für die Zuschauerinnen und Zuschauer relativ leicht zu entschlüsseln sind. Bei der abendfüllenden Produktion »Sindbads Abenteuer«, die zudem auf ein kindliches Publikum hin zugeschnitten ist, hat Mira-Art dieses Prinzip übrigens ein einziges Mal durchbrochen. (Die Äußerungen der Rollenträger sind dabei aber wohlgemerkt von Synchronstimmen übernommen und technisch eingespielt worden.)
Ein gemeinsames Feld bietet sicherlich auch die strikte Körperbeherrschung, die jeweils allerdings kaum als Selbstzweck hervortreten darf, sondern stets durch Mimik und Gestik dramaturgisch plausibel in das Bühnengeschehen eingebunden sein sollte. An diesem Punkt aber zeigt sich zugleich ein gradueller Unterschied, denn die Integration der Luftakrobatik setzt neben den mannigfachen anspruchsvollen Elementen des Tanztheaters die Beherrschung eines weiteren Repertoires von komplizierten kraftvoll-dynamischen Bewegungen und artifiziellen Posen voraus. Damit verbunden sind ein zusätzliches intensives Krafttraining sowie die permanente Schulung der Koordinationsfähigkeit, die bei Akrobaten geradezu im Wortsinne als lebensnotwendig bezeichnet werden darf.
Eine weitere Spezifik der Theaterkunst von Mira-Art ist darin zu entdecken, dass sich die Kompagnie beständig um die Weiterentwicklung ihrer szenischen Darstellungsmittel bemüht und daran arbeitet, Alltagsgegenstände wie Stühle oder Fahrräder zu nutzen oder eigene Konstruktionen zu ersinnen. So wird beispielsweise in den »Vier Jahreszeiten« ein Liebesspiel in luftiger Höhe gezeigt, in der eine herabhängende Metallplattform als Bett fungiert; in einer anderen Szene wird eine Spirale als Gerät verwendet, um die stete Repetition des Lebenszyklus anschaulich zu machen. Die Arbeit mit derartigen neuen Elementen erfordert viele Testläufe, bevor die Akrobaten sie tatsächlich bühnenwirksam einsetzen können.
Zu den besonderen Merkmalen des komplexen und voraussetzungsreichen akrobatischen Tanz-Theaters dürfte nicht zuletzt gehören, dass das Ensemble zum einen aus einem festen Kern von Mitgliedern besteht, die schon über viele Jahre zusammenarbeiten, und dass dabei zum anderen für längere Zeit der Wunsch virulent geblieben ist, sich kompetitiv auch jenseits des Sports in den »neuen« Disziplinen des Lufttanzes an Wettbewerben zu beteiligen. Dabei wurden von einzelnen Akrobatinnen immerhin bei Europa- und Weltmeisterschaften höchst ehrenvolle Platzierungen und Auszeichnungen errungen.
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Über das Theater-Projekt hinaus ist es Mirosława Kister und Krzysztof Okoń ein besonderes Anliegen, in die Breite zu wirken und Menschen für das Tanzen in der Luft zu begeistern. An ihren Kursen können Interessentinnen und Interessenten jeden Alters und jeder akrobatischen Begabung teilnehmen. Die Schüler haben die Möglichkeit, ihre erworbenen Fähigkeiten in jährlichen Abschlussveranstaltungen im Musiktheater von Gdingen unter Beweis zu stellen, während besonders talentierte Eleven eingeladen werden, direkt an Aufführungen des Mira-Art-Theaters mitzuwirken.
Magdalena Pasewicz-Rybacka



