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„Ich wollte es genau wissen“ –

Die Internierung von Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs

Von Helmut Brauer

Eigentlich wollte ich nur unserer Familiengeschichte nachgehen – und bin dabei unversehens in die Zusammenhänge der allgemeinen Geschichte geraten, die sich innerhalb der fraglichen Zeit als sehr kompliziert erweist.

 Es war ein fes­ter Bestand­teil unse­res Fami­li­en­le­bens, dass unser Vater, ein lei­den­schaft­li­cher Foto­graf, uns immer mal wie­der sei­ne Dias zeig­te. Natür­lich auch Auf­nah­men aus Obor­nik, das zur deut­schen Pro­vinz Posen gehört hat­te und 1920 pol­nisch gewor­den war. Dort hat­te mein Vater als Pfar­rer der deut­schen evan­ge­li­schen Gemein­de gewirkt. Es gab vie­le Bil­der schon aus der Zeit vor dem Krieg – beson­ders von Dan­zig und der Kaschub­ei, der Hei­mat mei­nes Vaters. Auch Bil­der von sei­nen zahl­rei­chen Rei­sen gab es zu sehen. Irgend­wie übten aber Auf­nah­men, die sich auf das The­ma der Inter­nie­run­gen und Depor­ta­tio­nen im Sep­tem­ber 1939 bezo­gen, eine beson­de­re Fas­zi­na­ti­on aus.

Unter den Fotos befan­den sich sol­che von Gemein­de­glie­dern, die unmit­tel­bar nach Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs im Zuge von Mas­sen­ver­haf­tun­gen fest­ge­nom­men wor­den waren. So war bei­spiels­wei­se die evan­ge­li­sche Gemeinde­schwester arre­tiert wor­den, als sie gera­de, von der Pfle­ge einer polnisch-katholischen Fami­lie kom­mend, auf die Stra­ße trat. Der jüngs­te Ver­haf­te­te war der 15-jährige Har­ry Fech­ner aus Bom­blin, den der Vater erst ein Jahr zuvor kon­fir­miert hat­te. Und Kon­rad Sempf, der Kas­sen­wart des Jugend­ver­eins in der Gemein­de, war mit sie­ben Mes­ser­sti­chen durch den Man­tel ersto­chen wor­den, als er nach mehr­tä­gi­gem Her­um­ir­ren in den Wäl­dern an eine Haus­tür in Lukow klopf­te und um einen Trunk Was­ser zur Stil­lung sei­nes Durs­tes bat. Von die­sen Vor­gän­gen hat­te mein Vater aller­dings erst erfah­ren, nach­dem er am 7. Sep­tem­ber 1939 von einer Urlaubs­rei­se nach Oli­va, auf der ihn der Kriegs­aus­bruch über­rascht hat­te, nach Obor­nik zurück­ge­kehrt war. Spä­ter erhielt er Kennt­nis davon, dass er selbst und sei­ne Frau Ger­da hät­ten inter­niert – bzw. auf dem Markt­platz exe­ku­tiert – wer­den sollen.

Eine zwei­te Grup­pe von Dias bil­de­ten Fotos, die eines­teils wäh­rend der bei­den Such­fahr­ten der Zen­tra­le für die Grä­ber ermor­de­ter Volks­deut­scher in den besetz­ten Ost­ge­bie­ten (Kurz­form :  „Grä­ber­zen­tra­le“) ent­stan­den waren, an denen mein Vater – vom 3. bis zum 6. Juni sowie im Juli 1940 – teil­ge­nom­men hat­te. Bei die­sen ins­ge­samt 81 Fahr­ten wur­de ab dem 20. Okto­ber 1939 sys­te­ma­tisch nach den Grä­bern von Inhaf­tier­ten gesucht, die bei ihrem Marsch in Rich­tung War­schau umge­kom­men, wenn nicht ermor­det wor­den waren. Eines die­ser Fotos – es ent­stand am 3. Juni 1940 – zeigt z. B. eine Exhu­mie­rung am Stadt­rand von Sochac­zew. Im Bericht der Grä­ber­zen­tra­le heißt es dazu :  „Nach Ankunft in Sochat­schew gelang es noch an dem­sel­ben Tage am Ran­de der Stadt 5 ermor­de­te Volks­deut­sche zu ber­gen und auf dem Fried­hof in Sochat­schew zu den dort bereits lie­gen­den zu brin­gen. Die Sär­ge hat­ten wir in der Stadt­tisch­le­rei schon vor­be­stellt, sodaß die Arbeit rasch von­stat­ten­ging. Die Toten erhiel­ten die Num­mern 677 bis 681.“

Andern­teils fan­den sich in die­ser Grup­pe doku­men­ta­ri­sche Auf­nah­men von der gro­ßen zen­tra­len Trau­er­fei­er, die für die exhu­mier­ten Opfer am 14. Juli 1940 in Obor­nik statt­fand, sowie von einer Rei­he von ein­zel­nen Beer­di­gun­gen, die sich unmit­tel­bar dar­an anschlos­sen. Ein Bei­spiel bie­tet das Foto der Bestat­tung von Her­mann Ramm in Roten­stein (Slo­na­wy). Im Hin­ter­grund die Warthe. Jen­seits des Flus­ses sind die Häu­ser des Ortes Neu­en­dorf zu erkennen.

Neben den Erzäh­lun­gen mei­nes Vaters gaben mir gera­de die­se Farb­di­as einen äußerst wich­ti­gen Impuls, mich inten­siv mit dem Pro­blem der deut­schen Inter­nier­ten am Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs aus­ein­an­der­zu­set­zen. Dabei hal­fen mir wei­te­re Quel­len wie der Amts­ka­len­der mei­nes Vaters und wei­te­re Insti­tu­tio­nen wie das Staats­ar­chiv in Posen (Poz­nań), vor allem aber auch eige­ne per­sön­li­che Kon­tak­te in Polen wie zu Adam Mal­in­si­ki, einem regio­nal­his­to­risch höchst enga­gier­ten Leh­rer aus Obor­ni­ki, der mir den Kon­takt zu vie­len Zeit­zeu­gen und wich­ti­gen Ansprech­part­nern ver­mit­telt hat.

Auf die­sem Wege habe ich immer wie­der an eine Bemer­kung mei­nes Vaters gedacht :  Es war ihm unver­ständ­lich, war­um stets vom „Brom­ber­ger Blut­sonn­tag“ gespro­chen wur­de, die Opfer unter den Inter­nier­ten aber – und ins­be­son­de­re aus „sei­nem“ Kreis Obor­nik – kaum erwähnt wur­den. Des­halb resul­tier­te mei­ne Arbeit nicht zuletzt auch aus mei­ner Moti­va­ti­on, die­sen Toten ein indi­vi­du­el­les Ant­litz wie­der­zu­ge­ben ;  denn sie star­ben, nur weil sie Deut­sche waren, viel­leicht auch weil sie evan­ge­li­sche Deut­sche waren. An dem Krieg selbst traf sie kei­ner­lei Schuld, und sie muss­ten stell­ver­tre­tend ihr Leben her­ge­ben. Ihr Tod soll nicht in Ver­ges­sen­heit geraten.

Heinz Werner – Dokumentation (s)einer Internierung

Der Weg ins Nichts 

Heinz Wer­ner war der Bru­der unse­rer Nenn-Tante Els­beth Wer­ner aus Obor­nik. Der Vater war Kauf­mann. Hotel „Wer­ne­ra“ wird ihr Wohn­haus heu­te noch genannt. Ver­haf­tet wur­de er am 3. Sep­tem­ber. Sam­mel­platz war die Volks­schu­le in Obor­nik. Es war Sonn­tag. Heinz trug sei­nen Sonn­tags­an­zug, einen grau­en Strei­fen­an­zug. Der war maß­ge­schnei­dert – von der Stan­ge gab es so etwas ja noch nicht. – Auch die Schu­he waren neu. Heinz war auf Kirch­gang eingestellt.

Es wird unter­schied­lich erzählt, was die Inter­nier­ten mit­neh­men durf­ten :  Geld, Aus­weis, etwas zu essen, Hygie­ne­ar­ti­kel. Wie lan­ge die Inter­nie­rung dau­ern wür­de, wur­de nicht gesagt. Ziel soll­te das berüch­tig­te Lager Bere­za Kar­tus­ka hin­ter War­schau sein. In der Nacht auf den 4. Sep­tem­ber ging es los mit dem Marsch in Rich­tung War­schau. Die Eisen­bahn stand nicht zur Ver­fü­gung. Von unter­wegs kamen nur spär­li­che oder gar kei­ne Nach­rich­ten. Erst die nach und nach Zurück­ge­kehr­ten gaben Aus­kunft, wo man wann noch jeman­den mit wem gese­hen hat­te – wenn es Leu­te gab, die einen kann­ten. Dabei gab es auch Fehl­mel­dun­gen :  Jemand wur­de angeb­lich gese­hen, der schon tot war. Ande­re wur­den tot­ge­sagt, obgleich sie noch am Leben waren. Bis Anfang / Mit­te Okto­ber kamen ver­ein­zelt noch Inter­nier­te zurück, die auf die eine oder ande­re Wei­se den Marsch über­stan­den hatten.

Aber vie­le kamen nicht zurück. Eine umfang­rei­che Vermissten-Liste ver­öf­fent­lich­te das Pose­ner Tage­blatt am 14. / 15. Okto­ber 1939 ;  unter ande­ren Krei­sen auch die Ver­miss­ten der Stadt und des Krei­ses Obor­nik. Heinz Wer­ner wird dort als Ver­miss­ter genannt. Je mehr Zeit ins Land ging, des­to wahr­schein­li­cher war der Tod des Ange­hö­ri­gen. Vie­le Fami­li­en setz­ten Such­mel­dun­gen in die Zei­tung. So auch der Vater :  Ernst Wer­ner gab noch am 22. 11. 1939 eine Such­mel­dung auf. Aber sein Sohn Heinz kam nicht zurück.

Die Suche nach den Opfern 

Am 20. 10. 1939 unter­nahm die „Grä­ber­zen­tra­le“ ihre ers­te Such­fahrt. Wer war dar­an betei­ligt ?  Ein Pfar­rer Ber­ger, der es als sei­ne Auf­ga­be ansah, die Toten auf­zu­fin­den und wür­dig zu bestat­ten. Er hat­te die Inter­nie­rung über­stan­den und kann­te die Wege und die Stel­len, wo man suchen muss­te. So auch ein Herr Lüne­burg und Pas­tor Wey­er aus Goslin. Bei den ers­ten Fahr­ten fuh­ren auch ein Gerichts­me­di­zi­ner und / oder ein Kri­mi­nal­kom­mis­sar mit. Von Sani­täts­rat Dr. Men­zel aus Mari­en­bad kam die Nach­richt von Mas­sen­grä­bern des Obornik-Gnesen-Zuges dicht vor Warschau.

Soweit es die Obor­ni­ker Ver­schlepp­ten anging, hat­te man auf­grund von Aus­sa­gen Heim­ge­kehr­ter den Weg ihres Zuges rekon­stru­iert :  Er führ­te von Mura­no­wa Goslin, Gne­sen, Klec­zew, Sle­sin und Som­pol­no über Babi­ak, Klo­da­wa, Kut­no, Lowitsch, Socha­czew und Blo­nie bis kurz vor War­schau. Sie gin­gen nicht alle in einer Grup­pe, son­dern in meh­re­ren „Zügen“, deren Wege unter­ein­an­der auch etwas abwi­chen. Um nicht den Angrif­fen deut­scher Flie­ger aus­ge­setzt zu sein, ging man oft auch nachts und benutz­te Nebenstraßen.

Wil­helm Brau­er, mein Vater, war an zwei der Erkun­dungs­fahr­ten betei­ligt. Eine davon war die Fahrt Nr. 40 vom 3. bis 6. Juni 1940. Im sei­nem Kalen­der fin­det sich schon am 9. Mai 1940 eine Notiz über die Ver­miss­ten Heinz Wer­ner und (Robert) Wun­der­lich aus Obor­nik. In Klar­schrift lau­tet der Text :  „Vor Koło abge-

­k.[ommen] II. Zug nie­mand. Hin­ter Koło noch 8 km vor Kło­da­wa H. Wer­ner.– Wun­der­lich [unle­ser­lich] Kut­no“. Die­se Anga­ben tra­fen aber nicht zu. Man fand Heinz Wer­ner spä­ter an ande­rer Stelle.

Entdeckung des Leichnams 

Im Bericht über die 37. Fahrt wird indi­rekt der Ver­miss­te Heinz Wer­ner genannt. Dort wird im Dor­fe Zlakow-Borowy „am Stall des Micha­el Gło­wa­cki ein Grab mit zwei unbe­kann­ten Toten“ erwähnt. Im Bericht über die 39. Fahrt der Zen­tra­le für die Grä­ber ermor­de­ter Volks­deut­scher vom 3. bis zum 6. Juni 1940 fin­den sich dann Ein­tra­gun­gen, in denen die Ent­de­ckung des Leich­nams geschil­dert wird. „Die Fahrt unse­rer Grup­pe galt der Ber­gung der bei Zlakow-Kocielny ermit­tel­ten Toten, der zwi­schen Zdu­ny und Lowicz lie­gen­den Volks­deut­schen und der zwei noch nicht unter­such­ten Toten im Guts­park von Jac­kowice.“ Es fol­gen im Bericht die Ber­gung und die Unter­su­chung ver­schie­de­ner Volks­deut­scher, die bis etwa 21:00 Uhr dauerte.

„Im Anschluss dar­an wur­den noch die drei ein­zel­nen an der Stra­ße lie­gen­den Toten unter­sucht. Der am Stall des Micha­el Gło­wa­cki in Zlakow-Borowy lie­gen­de Tote dürf­te Arthur Stein­ke aus Stö­wen­au sein. Auch der mit ihm in einem Gra­be lie­gen­de Tote Num­mer 666 scheint ein aus wirt­schaft­lich guten Ver­hält­nis­sen stam­men­der Mann zu sein, der auf­grund der Arm­band­uhr, des zusam­men­schieb­ba­ren Alu­mi­ni­um­trink­be­chers usw. ver­hält­nis­mä­ßig leicht zu iden­ti­fi­zie­ren sein wird.“ Tat­säch­lich stell­te sich nun – wenn auch erst eini­ge Zeit spä­ter – durch einen Stoff­pro­ben­ver­gleich her­aus, dass der Tote mit der Nr. 666 Heinz Wer­ner aus Obor­nik war. Sei­ne Schwes­ter Els­beth hat ihn identifiziert.

Den Hof, auf des­sen Gelän­de der Leich­nam gefun­den wor­den war, gibt es übri­gens immer noch, und er wird vom Sohn des frü­he­ren Besit­zers Micha­el Gło­wa­cki bewirt­schaf­tet, der eben­falls Micha­el heißt. Er erin­ner­te sich (2010 und 2011) an die Exhu­mie­rung „von zwei Zivi­lis­ten“ neben dem Stall ;  und er erin­ner­te sich auch noch dar­an, dass zwei Zivi­lis­ten im Sep­tem­ber 1939 an der Wand des Stal­les erschos­sen wur­den. Drei Schüs­se sei­en nötig gewe­sen. Damals war Mich­al Gło­wa­cki jun. elf Jah­re alt.

Erinnerungen der Schwester 

Els­beth Wer­ner, Kran­ken­schwes­ter in den Zöck­ler­schen Anstal­ten in Wolf­ha­gen und Schwes­ter von Heinz Wer­ner, hat bei einem mit­ge­schnit­te­nen Gespräch im Mai 2003 die­sen Fall aus ihrer Per­spek­ti­ve geschildert :

»Zu Hau­se kam ich an aus dem Kreis der Freu­de. Ich wuss­te noch nichts von mei­nem Bru­der. Wir haben in Obor­nik in der Bahn­hof­stra­ße gewohnt. Dann hieß sie Göring­stra­ße. Ich war wahn­sin­nig geschockt, als ich hör­te, dass mein Bru­der ver­schleppt wor­den ist. […] Frei­tag, 1. 9. 1939 fing der Krieg an. Sonn­tag haben die Polen in der Schu­le die Leu­te zusam­men­ge­trie­ben. Von dort sind sie in der Nacht weg­ge­trie­ben wor­den. Alle waren auf Sonn­tag angezogen.

[…]

Am 7. 9. ist mein Bru­der von dem Zug abge­kom­men. Er konn­te nicht mehr. Neue Schu­he haben gedrückt. Taten die Füße weh. Hin­ter­her ist ein Wagen, Pfer­de­wa­gen, gefah­ren, pol­ni­sche Miliz hat sie ange­trie­ben. Heinz konn­te nicht mehr, hat sich auf den Wagen gewor­fen, er kön­ne nicht mehr wei­ter. Von der Miliz hat einer gesagt :  Was, so ein jun­ger Mensch ?  Run­ter vom Wagen – er ist lei­der ganz hin­ten gegan­gen, das ist immer schlecht. Dann war er nicht mehr da. Es fie­len Schüs­se. Man mein­te, sie hät­ten ihm gegol­ten. Dann sind sie wei­ter. Wenn er dabei geblie­ben wäre, wäre das toll gewe­sen. Es waren ja vie­le, die da getrie­ben wurden.

Als dann die Suche­rei los­ging […] hat man über­all bei den Bau­ern gefragt, ob bei ihnen in der Nähe irgend­wel­che Men­schen ver­scharrt wor­den sind. Sie haben gezeigt. So auch in einem Ort, da wur­de aus­ge­gra­ben. Zwei in einer Gru­be. Der eine hat­te eine Rech­nung auf den Namen „Stein­ke“. Der ande­re – ich wuss­te schon, das muss­te mein Bru­der gewe­sen sein. […] In der Zei­tung stand, dass wie­der wel­che Pro­ben ein­ge­trof­fen sind. Als ich das gele­sen hat­te, bin ich gleich auf die Num­mer 666 zuge­gan­gen. Da sah ich gleich, dass das sein Mus­ter war. Die Uhr war auch noch dabei. Er wur­de also nicht beklaut. – Im Haus in Obor­nik war ein Erker gebaut. Sie stan­den und war­te­ten auf uns – die Eltern – dann habe ich Zei­chen gege­ben. Dann wuss­ten sie.

Unse­re Toten aus Obor­nik wur­den am 13. Juli 1940 – nach Obor­nik gebracht. Mein Vater ist den Tag nach Posen gefah­ren mit zwei von sei­nen Leu­ten. Er woll­te ihn sehen. Sie haben gesagt, dass die rech­te Gesichts­hälf­te total ein­ge­drückt sei – Heinz hat­te wohl einen Kol­ben­schlag bekom­men. „Ich bin wie­der mit mei­nem Sohn da“ – sag­te er bei sei­ner Rück­kehr nach Hause.«

Die Bestattung der Opfer 

Am 14. Juli 1940 fand auf dem Markt­platz in Obor­nik eine Trau­er­fei­er für 110 Tote aus dem Kreis statt. Der (sehr hei­ße) Som­mer­tag begann um 7 Uhr mit einem Got­tes­dienst in der vol­len Obor­ni­ker Kir­che. Gene­ral­su­per­in­ten­dent D. Paul Blau hielt eine ergrei­fen­de Pre­digt über das Bibel­wort Römer 14, 9 :  „Dazu ist Chris­tus gestor­ben und auf­er­stan­den und wie­der leben­dig gewor­den, dass er über Tote und Leben­di­ge Herr sei.“ Die Orga­ni­sa­ti­on der anschlie­ßen­den Fei­er auf dem Markt lag in den Hän­den der NSDAP. Die Rede hielt der Land­rat und Kreis­lei­ter Wal­ter Schnit­zer. Gau­lei­ter Grei­ser ließ sich ver­tre­ten – viel­leicht weil er einer Begeg­nung mit dem Gene­ral­su­per­in­ten­den­ten aus dem Wege gehen woll­te. „Ich ken­ne kei­nen Gene­ral­su­per­in­ten­den­ten und kein Kon­sis­to­ri­um, solan­ge ich bei­de nicht ein­ge­setzt habe“, pfleg­te er zu sagen.

Nach der Trau­er­fei­er nah­men die Ange­hö­ri­gen ihre Toten in den Sär­gen zur Bestat­tung auf die Fried­hö­fe an ihrem Wohn­ort mit. Pfar­rer Wil­helm Brau­er hat­te den gan­zen Tag über Trau­er­fei­ern auf ver­schie­de­nen Fried­hö­fen in Obor­nik und im Umkreis von Obor­nik zu halten.

Spuren in der „Totenkartei“ 

Im Staats­ar­chiv von Posen befin­det sich eine „Toten­kar­tei“. Sie besteht aus drei Kar­tei­käs­ten. Kas­ten 488 (A – Hüb­scher) ent­hält die Num­mern 1–1259 ;  Kas­ten 489 (Igel–Quast) die Num­mern 1–1273 ;  Kas­ten 490 (Raapke–Zwilling) die Num­mern 1–1228. Eini­ge Kar­ten­rück­sei­ten sind bei zusätz­li­chen Ein­trä­gen zu ein­zel­nen Per­so­nen in die Num­me­rie­rung ein­be­zo­gen. Daher ist die Sum­me der Num­mern nicht iden­tisch mit der Anzahl der Kar­ten und der hier regis­trier­ten Toten.

Im Kas­ten 490 fin­det sich auch die Kar­tei­kar­te von Heinz Wer­ner, an der sich der Auf­bau und die Genau­ig­keit die­ser Daten­er­fas­sung exem­pla­risch ver­an­schau­li­chen las­sen. Sie trägt die Num­mer 1019 und bie­tet die fol­gen­den ­Infor­ma­tio­nen :  Gebo­ren am 14. 2. 1909 in Boru­schin, Kauf­mann, ledig, wur­de am 3. 9. 1939 ver­haf­tet. Tot auf­ge­fun­den am 3. 6. 1940 in Zlakow-­Borowy, Kreis Lowitsch. Über­führt nach Ober­nick [!] am 14. 7. 1940. – Iden­ti­fi­ziert durch sei­ne Schwes­ter Frl. Eli­sa­beth Wer­ner auf­grund der Stoff­pro­ben am 19. 6. 1940. Mel­dung erfolgt durch amt­li­che Mel­dung Obor­nik. Stan­des­amt Lowitsch, Kr. Lowitsch Gou­ver­ne­ment, Nr. 37 / 41. Die Grab­num­mer ist 666 [die stand so auch auf dem Sarg] ;  Bezug genom­men wird zudem auf einen Tat­sa­chen­be­richt Nr. 901.

Die Anzahl der Kar­ten liegt bei 3.315. Wie die­se Kar­ten letzt­lich zu deu­ten sind, bedarf einer genaue­ren Bewer­tung. Zur Fest­stel­lung der Anzahl der Toten ist die­se Kar­tei aber von grund­le­gen­der Bedeu­tung. Die Namen der Ver­miss­ten sind in einer ande­ren Kar­tei geführt. Tote und Ver­miss­te wur­den von der Gräberzen­trale Ende 1939 mit 5.437 angegeben.

Mit­te Mai 1941 hat­te die Grä­ber­zen­tra­le alle Krei­se auf­ge­for­dert, eine abschlie­ßen­de Erfas­sung ver­miss­ter oder ermor­de­ter Volks­deut­scher bereit­zu­stel­len. Der Land­rat des Krei­ses Obor­nik gab am 6. Juni die Rück­mel­dung :  „Aus die­ser Zusam­men­stel­lung erge­ben sich 145 ermor­de­te, bereits beer­dig­te und 51 noch ver­miß­te Volks­deut­sche.“ Zusam­men sind das somit 196 Opfer aus dem Kreis Obornik.


Der 1. Sep­tem­ber 1939 hat sich unaus­lösch­lich als ein zen­tra­les Schick­sals­da­tum in die deutsch-polnische Bezie­hungs­ge­schich­te ein­ge­brannt. An die­sem Tage began­nen mit dem deut­schen Angriff auf Polen nicht nur die krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, son­dern es wur­den auch von lan­ger Hand vor­be­rei­te­te Plä­ne umge­setzt, die auf bei­den Sei­ten zu mas­si­ven Unrechts­hand­lun­gen führ­ten. Die­se ers­ten Kriegs­ta­ge, die von einem Aus­bruch erschre­cken­der Bru­ta­li­tät gekenn­zeich­net waren, beleg­ten ein wei­te­res Mal, dass Mensch­lich­keit und Empa­thie stets zu den ers­ten Ver­lus­ten eines Krie­ges gehören.

Sym­me­trisch um den 1. Sep­tem­ber ange­ord­net, wol­len wir in zwei Bei­trä­gen aus den natio­nal unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven an die­se Vor­gän­ge erin­nern. In die­ser Aus­ga­be begin­nen wir mit den deut­schen Zivi­lis­ten, die den Inter­nie­rungs­maß­nah­men der pol­ni­schen Behör­den zum Opfer gefal­len sind. Die jahr­zehn­te­lan­gen, hit­zi­gen Debat­ten, die über die Abläu­fe und Zah­len geführt wor­den waren, haben mit den neue­ren For­schungs­er­geb­nis­sen von Włod­zi­mierz Jas­trzęb­ski (Die deut­sche Min­der­heit in Polen im Sep­tem­ber 1939, Müns­ter 2012) einen gewis­sen Abschluss gefun­den. Seit­dem kann es als all­ge­mein gesi­chert gel­ten, dass in die­ser Zeit etwa 4.500 Men­schen umge­kom­men sind ;  und auch in Polen wird inzwi­schen akzep­tiert, dass es sich dabei um unnö­ti­ge Ver­lus­te han­del­te, die durch vie­le Feh­ler der pol­ni­schen Vor­kriegs­be­hör­den her­vor­ge­ru­fen wor­den waren.

Wir grei­fen die­ses Gesche­hen aber trotz­dem noch­mals auf, weil Hel­mut Brau­er, der Autor unse­res Arti­kels, nicht nur durch sei­ne eige­nen Recher­chen wesent­li­che Bei­trä­ge zur Erhel­lung der kom­pli­zier­ten Abläu­fe geleis­tet hat, son­dern auch über Quel­len und Foto­gra­fien ver­fügt, die es ihm erlau­ben, unse­ren Lesern – ganz jen­seits der sonst so stark beton­ten, aber letzt­lich anony­men Opfer­zah­len – in exem­pla­ri­scher und ein­drucks­vol­ler Wei­se das Schick­sal eines ein­zel­nen Men­schen zu dokumentieren.

DW