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50 Jahre Ostdenkschrift – Die EKD und die Vertriebenen

Von Tilman Asmus Fischer

„Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ lautet der Titel der 1965 veröffentlichten sogenannten Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mit ihr vollzog der Rat des größten deutschen Kirchenbundes sowohl eine deutliche Kritik an der mangelhaften Aufnahme und Integration der Ostvertriebenen in Gesellschaft und Kirche – als auch einen außenpolitischen Vorstoß, indem er das Beharren der Bundes­republik auf Gebietsansprüche jenseits der Oder-Neiße-Linie hinterfragte.

Vor dem Hin­ter­grund schwe­rer (kirchen-)politischer Zer­würf­nis­se, die die Schrift vor einem hal­ben Jahr­hun­dert ver­ur­sach­te, gedach­te die EKD 2015 ihrer Ver­öf­fent­li­chung. Das zen­tra­le Ereig­nis dabei war eine Gedenk­stun­de von EKD und Pol­ni­schem Öku­me­ni­schem Rat am 17. Sep­tem­ber in der Fran­zö­si­schen Fried­rich­stadt­kir­che in Ber­lin. Die Akzen­tu­ie­rung von Ver­söh­nung und Ver­stän­di­gung in den Anspra­chen – unter ande­rem von Bun­des­au­ßen­mi­nis­ter Frank-Walter Stein­mei­er – steht im Ein­klang mit dem heu­ti­gen Wir­ken vie­ler Vertriebener.

Dies ist gewiss einer der bei­den Grün­de, war­um sei­tens der EKD – anders als vor ­einem hal­ben Jahr­hun­dert – 2015 kei­ne kri­ti­schen Töne gegen­über den orga­ni­sier­ten Ver­trie­be­nen zu ver­neh­men waren. Der ande­re Grund scheint jedoch zu sein, dass die Ver­trie­be­nen selbst als gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Akteu­re für die EKD zuneh­mend aus dem Blick gera­ten sind. Hier­für spricht zumal, dass sich unter den Fest­red­nern zwar der EKD-Beauftragte für deutsch-polnische Bezie­hun­gen, Bischof Hans-Jürgen Abromeit, nicht jedoch der­je­ni­ge für Hei­mat­ver­blie­be­ne und Spät­aus­sied­ler, Kir­chen­prä­si­dent i. R. Hel­ge Klas­sohn, fand.

Dabei muss Bischof Abromeit ange­rech­net wer­den, dass sein Schluss­wort auch die Per­spek­ti­ve der Hei­mat­ver­blie­be­nen berück­sichtigte: »Die Ver­trei­bung der Deut­schen aus den deut­schen Ost­ge­bie­ten war Unrecht. Die­se Aus­sa­ge ist nicht nur für die See­le der Ver­trie­be­nen wich­tig gewe­sen, sie ist auch his­to­risch wahr. Dies belegt die Denk­schrift mit his­to­ri­schen und völ­ker­recht­li­chen Argumenten.«

Heil­sa­me und noch deut­li­che­re Wor­te hät­te frei­lich Kir­chen­prä­si­dent Klas­sohn fin­den kön­nen, wie er sie bereits im Geist­li­chen Wort beim Tag der Hei­mat 2015 geäu­ßert hat­te: »Einen poli­ti­schen Neu­an­fang zwi­schen den Völ­kern hat­te ins­be­son­de­re die evan­ge­li­sche Ost­denk­schrift auch beför­dern wol­len. In ihrem vor­wärts­drän­gen­den Bemü­hen hat­te sie dabei wohl nicht genug im Blick, dass vie­le von den scho­ckier­ten, trau­ma­ti­sier­ten Ver­trie­be­nen unter dem Ein­druck der von ihnen durch­lit­te­nen gewal­ti­gen mensch­li­chen Kata­stro­phe noch Zeit zur Trau­er und Raum zur Kla­ge brauch­ten. So blieb bei vie­len von ihnen eine tie­fe Ent­täu­schung über ihre Kir­che. Für die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land bedaue­re ich die­se Ent­wick­lung zutiefst.«

Bei die­sen Beob­ach­tun­gen geht es in kei­ner Wei­se dar­um, die bei­den Aspek­te der Ost­denk­schrift gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Jedoch muss kon­sta­tiert wer­den, dass der eine – die »Lage der Ver­trie­be­nen« – gera­de auch mit sei­nen Impli­ka­tio­nen für den zwei­ten – »das Ver­hält­nis des deut­schen Vol­kes zu sei­nen öst­li­chen Nach­barn« – anders als vor 50 Jah­ren zuneh­mend aus­ge­blen­det wird. Hier­mit ist nicht ein feh­len­des Geden­ken an die his­to­ri­sche »Lage der Ver­trie­be­nen« gemeint – so erin­ner­te der EKD-Ratsvorsitzende Lan­des­bi­schof Hein­rich Bedford-Strohm expli­zit dar­an, »dass die ursprüng­li­che Inten­ti­on der Denk­schrift in zwei Rich­tun­gen wies«: »Zum einen wur­de auf die Lage der Men­schen hin­ge­wie­sen, die als Deut­sche nach dem Zwei­ten Welt­krieg durch Flucht und Ver­trei­bung in das heu­ti­ge Deutsch­land kamen.«

Was jedoch fehlt, ist eine Berück­sich­ti­gung der noch immer aktu­el­len Bedeu­tung von Flucht und Ver­trei­bung und ihrer Nach­wir­kun­gen. Bezie­hungs­wei­se ist frag­lich, inwie­fern es genügt, eine Aktua­li­sie­rung auf den Ver­gleich zwi­schen Ost­ver­trie­be­nen und heu­ti­gen Flücht­lin­gen und Ver­trie­be­nen zu redu­zie­ren. Dies ist umso bedenk­li­cher, als gera­de der aktu­el­le Boom der Kriegskinder- und Kriegsenkel-Szene span­nen­de Bezü­ge zu den Ana­ly­sen auf­weist, die die Ost­denk­schrift über den The­men­kom­plex Trau­ma­ti­sie­rung und (mehr als nur öko­no­mi­sche) Inte­gra­ti­on anstellt. Hier­von war kaum etwas zu vernehmen.

Auch die Wür­di­gung der Denk­schrift durch den Bun­des­au­ßen­mi­nis­ter blen­de­te die­sen The­men­kom­plex aus zuguns­ten eines Fort­schritts­nar­ra­tivs, das die Aner­ken­nung der Ost­gren­ze zu dem zen­tra­len Flucht­punkt in der Geschich­te der deutsch-polnischen Bezie­hun­gen erhebt: »Die Schrift ­wür­dig­te die schlim­men mensch­li­chen Fol­gen der Ver­trei­bung. Doch sie mahn­te zugleich, die Unrechts­ta­ten gegen­über Deut­schen im Zusam­men­hang zu sehen, zu den furcht­ba­ren Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten, zum Leid und zum Schre­cken, die von Deutsch­land aus­ge­gan­gen waren. Die Ver­fas­ser ermu­tig­ten die Deut­schen zur Ver­söh­nung mit den öst­li­chen Nach­barn und tas­te­ten das Tabu der Aner­ken­nung der Oder-Neiße ­Linie an.«

Wel­che Zugän­ge zur The­ma­tik unter Ein­be­zie­hung der (his­to­ri­schen) Per­spek­ti­ve der Hei­mat­ver­trie­be­nen mög­lich sind, zeigt die Theo­lo­gin Prof. Dr. Ulri­ke Link-Wieczorek mit Ihrem Auf­satz »Auf­ga­ben der Ver­söh­nung für die Kir­chen heu­te: Über­le­gun­gen im Anschluss an die Ost­denk­schrift der EKD 1965«. Die­ser ist erschie­nen im zwei­spra­chi­gen Tagungs­band (Na drod­ze pojedna­nia – 50-lecie Memo­ran­dum Wschod­nie­go ­Koscio­la Ewan­geli­ckie­go w Niemc­zech / Auf dem Weg zur Ver­söh­nung – Zum 50. Jah­res­tag der Ost­denk­schrift der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land. Wars­za­wa 2015; wei­te­re Infor­ma­tio­nen: www​.ksie​gar​nia​.august​a​na​.pl/​0​0​8​d​2​/​p​r​o​d​u​k​t​.​h​tml) zur Tagung »Unter­wegs zur Ver­söh­nung«, die unter ande­rem von der Evangelisch-Augsburgischen Kir­che Polens im März 2015 in War­schau ver­an­stal­tet wurde.

Selbst Kind aus einer ost­preu­ßi­schen Ver­trie­be­nen­fa­mi­lie, spürt das Mit­glied der EKD-Kammer für welt­wei­te Öku­me­ne immer wie­der der emo­tio­na­len Gemenge­la­ge nach, in die hin­ein die Denk­schrift erschien und aus der her­aus die Kri­tik an ihr erwuchs. Zu ihr gehör­te etwa »die Angst, dass sich in der Kon­stel­la­ti­on der Ost-West-Spannungen die Erfah­run­gen des Ver­lus­tes ein zwei­tes Mal wie­der­ho­len könn­ten«. Zudem pro­ble­ma­ti­siert sie etwa die Iden­ti­fi­zie­rung der Ver­wer­fun­gen von Krieg und Ver­trei­bung mit gött­li­chem Geschichts­han­deln. Es ist ins­be­son­de­re der Bei­trag von Link-Wieczorek, mit dem der Auf­satz­band deut­lich macht: Auch nach dem Gedenk­jahr lohnt sich die Beschäf­ti­gung mit der Ost­denk­schrift – unter Berück­sich­ti­gung und Ein­be­zie­hung der Heimatvertriebenen.

Auf die­se Ein­be­zie­hung muss auch ange­sichts der Gedan­ken zur Bedeu­tung eines offe­nen Aus­tauschs im »engen Geflecht unse­rer Bezie­hun­gen« hin­ge­wirkt wer­den, die Stein­mei­er in sei­ner Rede vor­trug: »Über das Dokumentations- und Infor­ma­ti­ons­zen­trums der ‚Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung‘ haben wir hef­tig gestrit­ten. Ich bin über­zeugt: Wenn wir sie im Geist der Ver­söh­nung und der Freund­schaft füh­ren, dann wird die Aus­ein­an­der­set­zung mit unse­rer Geschich­te, ins­be­son­de­re den Schre­cken des letz­ten Jahr­hun­derts, Polen und Deut­sche ­ein­an­der noch näher brin­gen. Dabei ist ­ ­eines essen­zi­ell: die Per­spek­ti­ve des ande­ren zu respek­tie­ren – aus dama­li­ger Sicht und aus der heu­ti­gen.« Im urei­gent­li­chen Geist der Ost­denk­schrift müss­te gera­de der kon­struk­ti­ve Bei­trag der Ver­trie­be­nen­funk­tio­nä­re, die sich in die Arbeit der Stif­tung ein­brin­gen, gewür­digt – und die Ein­be­zie­hung der Per­spek­ti­ve der von ihnen ver­tre­te­nen Betrof­fe­nen geför­dert werden.