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Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (4)

Der lange Schatten von Versailles — Beobachtungen an einer Phantom-Grenze in Kaschubien 

Von Magdalena Sacha

Die Grenze von Versailles, die ab 1920 auch die Nordkaschubei für 19 Jahre durchschnitt, hat sich hier als ein historisches Phänomen von langer Dauer erwiesen. Es erscheint deshalb lohnend, diese „langen Schatten“ der Pariser Vorortverträge in einer mikrogeschichtlichen Untersuchung eingehender zu verfolgen.

Das Wiedererstehen einer Grenze

Im Dorf Nado­le, das male­risch am west­li­chen Ufer des Zar­no­wit­zer Sees gele­gen ist, wur­de 2013 eine Tafel auf­ge­stellt, die über die Bestim­mun­gen des Ver­sailler Ver­tra­ges infor­miert und die Bedeu­tung zwei­er Gra­nit­säu­len erläu­tert, die hin­ter dem Zaun des ört­li­chen Frei­licht­mu­se­ums gesetzt wor­den waren. Auf die­se Wei­se erfuh­ren die Tou­ris­ten, dass es hier nach dem Ers­ten Welt­krieg eine polnisch-deutsche Gren­ze gege­ben hat. Inzwi­schen ist der Grenz­ver­lauf mit Pfäh­len mar­kiert und zeigt, wie eng die dama­li­ge Exkla­ve von die­ser Linie umschlos­sen wur­de – zumal sie in der Zwi­schen­kriegs­zeit natür­lich erheb­lich undurch­läs­si­ger war als heute.

Sol­che Rekon­struk­tio­nen beru­hen nicht nur auf dem prag­ma­ti­schen Bemü­hen, die Attrak­ti­vi­tät des Gebiets für den Frem­den­ver­kehr zu erhö­hen. Viel­mehr – und vor allem – resul­tie­ren sie dar­aus, dass sich das his­to­ri­sche, inzwi­schen bereits 100 Jah­re zurück­lie­gen­de Ereig­nis und des­sen Fol­gen in den kol­lek­ti­ven Erin­ne­run­gen wie auch Sprach­ge­wohn­hei­ten der dort leben­den Men­schen – und zwar ins­be­son­de­re bei den Bewoh­nern von Nado­le (Nadol­le) und dem benach­bar­ten Dorf Wierz­chu­ci­no (Wier­schutz­in) – nie­der­ge­schla­gen haben :  Lan­ge bevor die Idee auf­kam, Unter­rich­tungs­ta­feln auf­zu­stel­len und den Ver­lauf der einst­ma­li­gen Staats­gren­ze zu kenn­zeich­nen, hat­ten die Men­schen die­se Vor­gän­ge gemein­schaft­lich in Geschich­ten nach­mo­del­liert und in Kon­struk­tio­nen der regio­na­len Erin­ne­rungs­kul­tur fest­ge­hal­ten. Die­se Ent­wick­lung wur­de (und wird) auch dadurch begüns­tigt, dass die deutsch-polnische Gren­ze aus der Zeit von 1920 bis 1939 ein Gebiet durch­zog, das stets von einer „hybri­den Iden­ti­tät“, der wech­sel­sei­ti­gen Durch­drin­gung der kaschu­bi­schen, pol­ni­schen und deut­schen Kul­tur, geprägt wor­den ist – und in dem des­halb sol­che ter­ri­to­ria­len Ver­än­de­run­gen beson­ders sen­si­bel wahrg­nom­men wurden.

Dass die­se „Phantom-Grenze“ nun wie­der mate­ri­ell ver­ge­gen­wär­tigt wird, trägt nicht unwe­sent­lich dazu bei, dass sie im Bewusst­sein der Ein­woh­ner und Besu­cher nun gewiss auch wei­ter­hin fest ver­an­kert blei­ben wird. Dabei hängt die­se zusätz­li­che Fes­ti­gung des „Mythos von Nado­le“ nicht zuletzt auch mit dem Bemü­hen der Drit­ten Repu­blik zusam­men, das Geden­ken an his­to­ri­sche Pro­zes­se und Per­sön­lich­kei­ten der Zwei­ten Repu­blik zu för­dern und dadurch aus­drück­lich die ideo­lo­gi­schen Tabus der kom­mu­nis­ti­schen Ära zu brechen.

Historische und symbolische Grenzziehungen

Beim Zie­hen von Gren­zen wer­den oft die Struk­tu­ren frü­he­rer Zuord­nun­gen aktua­li­siert. Dabei kommt der Pias­nitz und dem Zar­no­wit­zer See eine über­ra­gen­de Bedeu­tung zu, denn hier wur­den schon seit der Zeit des Deut­schen Ordens Ter­ri­to­ri­en von­ein­an­der getrennt. Die­se Rege­lung galt auch bei der Bil­dung des König­li­chen Preu­ßen, das die bis hier­her rei­chen­de Graf­schaft Put­zig mit ein­schloss, und sie wur­de 1772 neu­er­lich bestä­tigt, weil an die­ser Linie der dama­li­ge, bei der Bil­dung „West­preu­ßens“ ein­ge­rich­te­te „Dir­schausche Creis“ ende­te. An des­sen Stel­le trat zunächst der im April 1818 begrün­de­te Kreis Neu­stadt und danach der 1887 aus des­sen Gebiet abge­trenn­te Kreis Put­zig. Stets aber tra­fen hier West­preu­ßen und Pom­mern auf­ein­an­der. Dabei lief die Linie – wie der fol­gen­de Aus­schnitt einer um 1830 ent­stan­de­nen Kar­te zeigt – von der Ost­see aus zunächst ent­lang der Pias­nitz und bog dann kurz nach Errei­chen des Sees nach Wes­ten ab, so dass das nörd­lich gele­ge­ne Wier­schutz­in von den süd­lich gele­ge­nen Dör­fern Brzin und Prissau geschie­den wur­de, und wand­te sich dann – par­al­lel zum Ver­lauf des See­ufers – in süd­öst­li­che Richtung.

Unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen lässt sich zum einen nach­voll­zie­hen, dass in Ver­sailles zwar der plau­si­ble und klar zu for­mu­lie­ren­de Grenz­ver­lauf auf der Mit­te des Sees in den Ver­trag geschrie­ben wur­de – „the medi­an line of Lake Zar­no­witz“ –, dass bei der Fest­le­gung aber auf­grund der his­to­risch gewach­se­nen Ver­bin­dun­gen noch eine gewis­se Fle­xi­bi­li­tät bestand, auch wenn hier die sonst ver­wen­de­te, ganz offe­ne For­mel der „im Gelän­de noch zu bestim­men­den Linie“ nicht gewählt wor­den war. Gleich­wohl darf es als unge­wöhn­lich bezeich­net wer­den, dass auf dem Reichs­ge­biet eine Exkla­ve wie die von Nado­le ein­ge­rich­tet wurde.

Zum ande­ren gibt der zu Beginn des Bei­trags repro­du­zier­te Aus­schnitt aus der Kar­te, die die Kon­stel­la­ti­on wäh­rend der Zwi­schen­kriegs­zeit fest­hält, nun deut­li­che Hin­wei­se dar­auf, wel­che sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Kon­se­quen­zen aus den Grenz­zie­hun­gen zu resul­tie­ren ver­moch­ten. – Wier­schutz­in gehör­te schon vor 1920 nicht zu West­preu­ßen und wur­de jetzt regel­recht zum „Aus­land“ – und exakt die­ses Wort haben die öst­li­chen Nach­barn des Dorfs noch Jahr­zehn­te nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges benutzt, wenn sie sag­ten, dass sie nach Wierz­chu­ci­no füh­ren. Den Bewoh­nern des Ortes muss die­se Zuord­nung beson­ders unan­ge­mes­sen erschie­nen sein, weil sie selbst 1919 inten­siv – wenn auch ver­geb­lich – für einen Anschluss an Polen optiert hat­ten. Immer­hin hat­te der rus­si­sche Sla­wist Alex­an­der F. Hil­fer­ding (1831–1872) bei sei­nen For­schun­gen, die er 1856 in der Regi­on unter­nom­men hat­te, gera­de Wier­zu­schin als Teil einer kaschu­bi­schen Enkla­ve in Pom­mern – und mit­hin an der West­gren­ze der Kaschub­ei – ver­or­tet. Dafür sprach nicht zuletzt der kon­fes­sio­nel­le Unter­schied zwi­schen den Bewoh­nern die­ses Dor­fes einer­seits, die sich ent­schie­den zum Katho­li­zis­mus bekann­ten, und den pro­tes­tan­ti­schen Slo­win­zen im Wes­ten andererseits.

Dem Dorf Nadol­le hin­ge­gen gelang es, ent­ge­gen den ursprüng­li­chen Bestim­mun­gen des Ver­sailler Ver­tra­ges und trotz der pro­ble­ma­ti­schen Lage, bei der es an drei Sei­ten von der neu­en Staats­gren­ze umge­ben wur­de, ein Teil Polens zu wer­den. Nun bil­de­te es unter sei­nem pol­ni­schen Name „Nado­le“ – im strik­ten Gegen­satz zu den Nach­barn in Wier­schutz­in – einen regel­rech­ten „Vor­pos­ten“ oder „Brü­cken­kopf des Polen­tums“ im Gebiet des Deut­schen Rei­ches. Die­se beson­de­re Posi­ti­on präg­te das Bewusst­sein der wie auf einer Insel leben­den Ein­woh­ner nach­drück­lich und för­der­te die Bil­dung der Mythen, die in Berich­ten und Legen­den bis heu­te kol­por­tiert wer­den und die­sen Ort auch wei­ter­hin von den Nach­bar­ge­mein­den durch eine ima­gi­nä­re – inzwi­schen ledig­lich wie­der sicht­bar gemach­te – Gren­ze abge­trennt haben.

Die­se seit 1920 gestif­te­te Tra­di­ti­on der Geschich­te und Geschich­ten vom Brü­cken­kopf Nado­le wer­den im nächs­ten Abschnitt aus­führ­lich dis­ku­tiert. Zuvor soll aber nicht uner­wähnt blei­ben, dass die Wir­kun­gen der in Ver­sailles aus­ge­han­del­ten Rege­lun­gen die Dör­fer Nado­le und Wie­schutz­in kom­mu­nal­po­li­tisch auch noch nach dem Kriegs­en­de beschäf­tigt haben, obwohl bei­de nun wie­der gemein­sam auf dem Ter­ri­to­ri­um nur eines Staa­tes lagen. Die Ein­woh­ner von Nado­le ent­schie­den sich, die bis 1939 erhal­te­ne Rol­le des „Vor­pos­tens“ ver­wal­tungs­recht­lich auf­zu­ge­ben, qua­si die Brü­cke, die sie mit dem Gebiet der alten Graf­schaft Put­zig ver­band, abzu­bre­chen, und schlos­sen sich 1954 der Gemein­de Gne­win (Gnie­wi­no) im Bezirk Lau­en­burg an. Dem­ge­gen­über nah­men die Bür­ger von Wier­schutz­in, das nun Wierz­chu­ci­no hieß, ihren Plan wie­der auf, den sie schon 1919 ver­folgt hat­ten :  nicht län­ger Pom­mern zuge­ord­net zu blei­ben, son­dern sich Polen anzu­schlie­ßen. Es scheint gera­de­zu, als ob die­se jahr­hun­der­te­al­te Gren­ze seit 1920 zu einer kaum über­wind­ba­ren Bruch­li­nie zwi­schen dem „hei­li­gen“ Polen­tum und dem pro­fa­nen Deutsch­tum über­höht wor­den sei und nun über 1945 hin­aus men­tal fort­be­stan­den hät­te. Des­halb bemüh­ten sich die Gemein­de­rä­te nach dem Kriegs­en­de mehr­mals und beharr­lich, die­se Bar­rie­re doch noch zu über­win­den, indem ihr Dorf – in einer Gegen­be­we­gung zu den Nach­barn in Nado­le – den Bezirk Lau­en­burg gera­de ver­las­sen und dem Mee­res­kreis (Powi­at mor­ski) mit der Haupt­stadt Neu­stadt zuge­ord­net wer­den soll­te. Die­ses Vor­ha­ben ließ sich letzt­lich aber eben­falls nicht realisieren.

Der Mythos von Nadole

Im Som­mer 1920 kam die pol­ni­sche Armee in das Dorf Nado­le und wur­de dort von den Bewoh­nern fei­er­lich mit Brot und Salz emp­fan­gen. Spä­tes­tens jetzt war für jeden offen­sicht­lich, dass es unum­kehr­bar gelun­gen war, die in Ver­sailles fest­ge­leg­te Staats­gren­ze zu ver­schie­ben, sie ent­lang dem West­ufer des Zar­no­wit­zer Sees zu füh­ren und um das Dorf her­um­zu­lei­ten. Die­ser Erfolg muss den Men­schen als ganz außer­ge­wöhn­lich erschie­nen sein – und so kamen bald auch Erzäh­lun­gen auf, in denen die Vor­ge­schich­te die­ses Tri­um­phes in leuch­ten­den Far­ben aus­ge­malt wurde.

Bis heu­te wird berich­tet, dass in Nado­le eine regu­lä­re Volks­ab­stim­mung statt­ge­fun­den hät­te. Die Nach­fah­ren der damals Betei­lig­ten wuss­ten min­des­tens noch in den 1970er Jah­ren genau anzu­ge­ben, wie vie­le Stim­men dabei für Polen abge­ge­ben wur­den und wie die ein­zel­nen Wäh­ler hie­ßen. Erst recht sind wei­ter­hin die Akteu­re geläu­fig, die damals die Initia­ti­ve ergrif­fen hat­ten und den Plan letzt­lich ver­wirk­lich­ten. Dabei wird nicht nur der bekann­te pro­pol­ni­sche Akti­vist Anto­ni Abra­ham genannt, son­dern auch der Name von Augus­tyn Kon­kol, des­sen Grund­be­sitz den Zar­no­wit­zer See mit umschloss, oder auch der­je­ni­ge von Augus­tyn Struk, der eben­falls zu den Hono­ra­tio­ren des Ortes gehör­te. Klei­ne­re Rol­len über­neh­men der Wirt Igna­ti­us Stiel­au, in des­sen Gast­haus wich­ti­ge Abspra­chen getrof­fen wer­den, oder der Zar­no­wit­zer Pfar­rer Kurt Reich, der sich als lei­den­schaft­li­cher Jäger dafür ein­setzt, auf bei­den Sei­ten des Sees ein Jagd­ge­biet zur Ver­fü­gung zu haben.

Selbst­ver­ständ­li­cher­wei­se wer­den die­se Geschich­ten im Lau­fe der Zeit auch wei­ter aus­ge­schmückt, unter Beru­fung auf Aus­sa­gen von unmit­tel­bar Betei­lig­ten als authen­tisch bezeugt und auch schrift­lich fest­ge­hal­ten. Dabei wer­den ande­re Momen­te mit ein­ge­passt – zum Bei­spiel die Äuße­rung eines ent­schie­de­nen „Macht­worts“, das Gegen­po­si­tio­nen kei­nen Raum mehr lässt, oder die Wir­kung alko­ho­li­scher Geträn­ke, die den Ent­schluss zum Han­deln bzw. die Über­zeu­gungs­kraft der Argu­men­te verstärken.

In kon­zen­trier­ter Form spie­gelt die fol­gen­de Erzäh­lung die Ten­den­zen die­ser Mythen­bil­dung wider :  Anto­ni Abra­ham und Augus­tyn Kon­kol rei­sen nach Ver­sailles, tref­fen dort mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Wood­row Wil­son und dem bri­ti­schen Pre­mier­mi­nis­ter David Lloyd Geor­ge zusam­men, um ihnen per­sön­lich das Ergeb­nis der Volks­ab­stim­mung von Nado­le zu über­rei­chen. Wäh­rend des anschlie­ßen­den, durch­aus kon­tro­ver­sen Gesprächs wird dann der Punkt erreicht, an dem Augus­tyn Kon­kol mit der Faust auf den Eichen­tisch schlägt, um damit der Aus­sa­ge, dass sei­ne Fami­lie seit 700 Jah­ren in die­sem Ort ansäs­sig und Eigen­tü­mer des Sees sei, gehö­ri­gen Nach­druck zu ver­lei­hen. Wil­son und der – kei­nes­wegs Polen zuge­wand­te – Lloyd Geor­ge sind davon schließ­lich der­art beein­druckt, dass der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent per­sön­lich die Land­kar­te zur Hand nimmt und den Grenz­ver­lauf im gewünsch­ten Sin­ne korrigiert.

Wie bei allen Mythen über­rascht es nicht, dass die zugrun­de lie­gen­den gesi­cher­ten oder zumin­dest wahr­schein­li­chen Fak­ten deut­lich ande­re Zusam­men­hän­ge zu erken­nen geben. – Der Dan­zi­ger His­to­ri­ker und maß­geb­li­che För­de­rer der kaschu­bi­schen Autonomie-­Bestrebungen Józef Bor­zy­sz­kow­ski hat in den 1970er Jah­ren die Chan­ce genutzt, eine Zeitzeugen-Befragung durch­zu­füh­ren. Dabei hat ihm Jad­wi­ga Kandau-Konkol gesagt, dass ihr Ehe­mann nicht nach Ver­sailles gereist sei, dass Alko­hol bei den Abspra­chen kei­ne Rol­le gespielt habe und auch gar kei­ne offi­zi­el­le Volks­ab­stim­mung statt­ge­fun­den hät­te. Viel­mehr wären Anto­ni Abra­ham und Augus­tyn Struk mit einer Unter­schrif­ten­lis­te durchs Dorf gegan­gen, und die meis­ten Bewoh­ner hät­ten ledig­lich unter­schrie­ben, dass sie für Polen optierten.

Die­ser Vor­gang hat vor allem erst 1920 statt­ge­fun­den, denn die Ent­schei­dung über den end­gül­ti­gen Grenz­ver­lauf tra­fen inter­na­tio­na­le Kom­mis­sio­nen vor Ort ;  im Fal­le der Nord-Kaschubei arbei­te­te solch ein Gre­mi­um in Put­zig, und zu deren Mit­glie­dern gehör­ten der Arzt und kaschu­bi­sche Schrift­stel­ler Dr. Alex­an­der Maj­kow­ski, der spä­ter­hin als „Remus“-Autor bekannt wur­de, sowie Anto­ni Abra­ham und Augus­tyn Konkol.

Zu einer nüch­ter­ne­ren Betrach­tung der Ent­wick­lun­gen for­dert erst recht die Tat­sa­che auf, dass die Exkla­ve Nado­le kei­nes­wegs vor­aus­setz­ung­los – nur auf der Grund­la­ge tra­dier­ter Rech­te und des Volks­wil­lens – erstrit­ten wur­de, son­dern dass die deut­sche Sei­te die­sem Wun­sche ent­sprach, weil sie selbst im Gegen­zug einen erheb­li­chen Vor­teil erhielt :  Beim Dorf Knie­wen­bruch befand sich eine für den Kreis Lau­en­burg wich­ti­ge Trinkwasser-Entnahmestelle, die nun beim Deut­schen Reich blieb. Der über­ra­schen­de Ver­lauf der Gren­ze um die Exkla­ve Nado­le fin­det somit – weni­ge Kilo­me­ter süd­lich davon – ein min­des­tens eben­so auf­fäl­li­ges Pen­dant in der eigen­tüm­li­chen, extrem spitz­wink­li­gen Aus­buch­tung der Linie. Ohne die­sen Aus­gleich der Inter­es­sen, der zu dem Gebiets­tausch geführt hat, wäre der „Sieg“ von Nado­le schwer­lich errun­gen worden.

Versailles als regionaler Erinnerungsort

Dass der Mythos von Nado­le kei­nes­wegs an der his­to­ri­schen „Wahr­heit“ schei­tert, ist schon für sich genom­men nicht unge­wöhn­lich, denn die Kon­struk­tio­nen von „Geschich­te“ ent­wi­ckeln gegen­über his­to­ri­schen Klar­stel­lun­gen oft­mals erheb­li­che Wider­stands­kräf­te. Die Glaub­wür­dig­keit der loka­len Dar­stel­lun­gen lässt sich zudem über die Per­son Anto­ni Abra­hams absi­chern. Sie bil­det eine wesent­li­che Brü­cke zu den Vor­gän­gen in Nado­le, weil Abra­ham selbst auch dort aktiv gewe­sen ist und weil Augus­tyn Kon­kol gemein­sam mit ihm zwar nicht nach Paris, aber doch immer­hin zu Vor­ver­hand­lun­gen auf natio­na­ler Ebe­ne nach War­schau gereist war. Auf die­se Wei­se kann der Kampf um den „Vor­pos­ten des Polen­tums“ am Zar­no­wit­zer See eng an das Wir­ken eines kaschu­bi­schen Akti­vis­ten ange­kop­pelt wer­den, des­sen Ruhm bis heu­te andau­ert bzw. in jün­ge­rer Zeit sogar noch zuneh­mend ver­stärkt wird.

Anto­ni Abra­ham (1869–1923) erfüllt alle Vor­aus­set­zun­gen, um als ein „Held“ in die Geschich­te ein­zu­ge­hen. Er hat von früh an gesell­schafts­po­li­ti­sche und natio­na­le Inter­es­sen ver­folgt und dafür auch Repres­sio­nen in Kauf genom­men. Vor allem aber ist er tat­säch­lich nach Paris gefah­ren und hat sich dort im Rah­men der pol­ni­schen Dele­ga­ti­on auch an den Ver­hand­lun­gen mit Wood­row Wil­son und David Lloyd Geor­ge betei­ligt. Die­se Rei­se ist schon bald nach sei­nem Tode im Sin­ne eines Helden-Epos mys­ti­fi­ziert wor­den. Abra­ham gelingt es, die deut­sche Gren­ze zu über­schrei­ten, um nach War­schau zu gelan­gen, er wird als einer der drei kaschu­bi­schen Dele­gier­ten aner­kannt, nimmt an der aben­teu­er­li­chen Fahrt über Kra­kau, Wien und die Schweiz nach Paris teil und kehrt nach erfolg­rei­chen Ver­hand­lun­gen mit den Gro­ßen die­ser Welt ruhm­reich zurück :  Pom­me­rel­len wird zum „Kor­ri­dor“ und dem wie­der­erstan­de­nen pol­ni­schen Staat zugeschlagen.

Dass Anto­ni Abra­ham expli­zit als kaschu­bi­scher Diplo­mat aktiv wur­de, ver­schafft ihm ein erheb­li­ches sym­bo­li­sches Kapi­tal. Damit gewinnt er die Chan­ce, regio­nal nicht nur im kom­mu­ni­ka­ti­ven, son­dern auch im kul­tu­rel­len Gedächt­nis ver­an­kert zu wer­den. Als „Tri­bun“ oder „König der Kaschub­en“ ver­mö­gen er und sei­ne Mis­si­on eine eben­so her­aus­ra­gen­de his­to­ri­sche Ori­en­tie­rungs­mar­ke zu bil­den wie Polens „Ver­mäh­lung mit dem Meer“, die Gene­ral Józef Hal­ler am 10. Febru­ar 1920 zum ers­ten Male voll­zo­gen hat und die Jahr für Jahr in einem patrio­ti­schen Ritus wie­der­holt wird – und dadurch eine ähn­li­che Fes­tig­keit erhält wie die Denk­mä­ler, die für Anto­ni Abra­ham inzwi­schen errich­tet wor­den sind.

Die­se Phä­no­me­ne erwei­sen sich mit­hin als tra­gen­de Kom­po­nen­ten eines insti­tu­tio­na­li­sier­ten Geden­kens an Ver­sailles und die Bil­dung der Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik. Damit kön­nen sie im Sin­ne des fran­zö­si­schen His­to­ri­kers Pierre Nora als Tei­le eines „Erin­ne­rungs­orts“ (lieu de mémoi­re) gedeu­tet wer­den, weil sie ober­halb der „Geschich­te ers­ten Gra­des“ zu Kon­stel­la­tio­nen von men­ta­len Kon­zep­ten und Sym­bo­len zusam­men­tre­ten und wesent­lich zur sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Iden­ti­täts­stif­tung der jewei­li­gen Gegen­wart beitragen.

Vor die­sem Hin­ter­grund dürf­te nun gänz­lich plau­si­bel wer­den, war­um der Mythos von Nado­le sei­ne Wirk­sam­keit kei­nes­wegs ver­lo­ren hat und war­um über­dies der Rat der Gemein­de Kroc­kow auf eine Initia­ti­ve des Bür­ger­meis­ters hin 2011 beschlos­sen hat, den Ver­lauf der 1920 gezo­ge­nen Gren­ze durch Unter­rich­tungs­ta­feln und Gra­nit­säu­len wie­der ins Bewusst­sein der Bür­ger und Tou­ris­ten zu heben, und sich von die­sem Plan auch nicht durch anfäng­li­che Pro­tes­te und Zer­stö­rungs­ak­te abbrin­gen ließ. Mitt­ler­wei­le fin­den die Grenz­mar­kie­run­gen und Infor­ma­ti­ons­an­ge­bo­te eine brei­te und ein­hel­lig posi­ti­ve Reso­nanz. Zwi­schen der Nord-Kaschubei und „Ver­sailles“ besteht, so legt die­se mikro­his­to­ri­sche Betrach­tung nahe, offen­bar eine spe­zi­fi­sche, enge Ver­knüp­fung, die dafür sor­gen dürf­te, dass der lan­ge Schat­ten der Pari­ser Vor­ort­ver­trä­ge in die­ser Regi­on auch wei­ter­hin noch deut­lich erkenn­bar blei­ben wird.