Lange Zeit war der deutsche Blick auf Kultur und Geschichte Westpreußens dominiert von der Betonung kultureller Errungenschaften in Mittelalter und Neuzeit auf der einen und – nach Ende des Zweiten Weltkrieges – von den Erfahrungen des Heimatverlusts auf der anderen Seite. Jedoch entwickeln sich die Bilder, die die Geschichtsschreibung entwirft, laufend fort. Neue Perspektiven treten hinzu, bisherige Schwerpunkte treten in den Hintergrund. So haben sich auch in der westpreußischen Landesgeschichte während der zurückliegenden Jahrzehnte spürbare Verschiebungen ergeben.
Dabei hat in den letzten Jahren auch verstärkt die Zeit des Zweiten Weltkriegs – und damit zugleich die von deutschen Verantwortungsträgern im Weichselland verübten Verbrechen – Aufmerksamkeit gefunden: Dies macht schon die neue Dauerausstellung des Westpreußischen Landesmuseums deutlich, in der jetzt des Konzentrationslagers Stutthof ebenso gedacht wird wie des Massakers von Piasnitz. Schon vor dieser Erweiterung der zeitgeschichtlichen Perspektive haben kultur- und alltagsgeschichtliche Fragen Einzug in die Landesgeschichte gehalten. Diese methodische Hinwendung zur »Mikrogeschichte« – also zur Geschichte »im Kleinen« – konnte freilich auf eine reiche Tradition volkskundlicher Forschung zurückgreifen.
Der folgende Beitrag führt diese beiden Entwicklungen innerhalb der Landesgeschichtsschreibung zusammen: Zum einen rückt er die Opfer des Konzentrationslagers Stutthof ins Zentrum – denn der Verfasser gibt uns hier einen Einblick in seine aktuellen Forschungen über die deutschen Opfer dieses KZ. Zum anderen wählt er einen Zugang zur Thematik über die detailreiche, dichte Schilderung und Untersuchung eines Einzelschicksals. Dadurch gewinnen wir Einsichten in das soziale Gefüge sowie die wechselseitigen Abhängigkeiten und persönlichen Verstrickungen einzelner Akteure im Umfeld des Konzentrationslagers. – Wir sind dem Autor dankbar dafür, dass wir diesen Beitrag hier wiedergeben können, und wünschen eine ertragreiche Lektüre.
DW
Von Piotr Chruścielski
In einem Brief an den Kommandanten des KZ Stutthof bat Karoline W., Mutter des im Oktober 1944 verhafteten Paul W., Häftlingsnummer 97431, dass »die Strafe für ihn nicht allzu hart ausfällt. Sollte mir kein Beistand gewährt werden, bin ich der Verzweiflung nahe, und bin bereit, mein Leben in Kürze abzuschließen. […] Ich möchte meinen Sohn Paul noch einmal gerne sehen. Und vielleicht gewährt mir der Herr Kommandant die Bitte, daß ich mit dem Herrn Kommandanten einmal mündlich sprechen kann, denn ich möchte doch gerne wissen, was für eine Schuld mein Sohn auf sich geladen hat, da ich bis jetzt über alles im Unklaren bin«. Die siebzehnfache Mutter, seit 1933 in der NS-Frauenschaft tätig, hatte bereits zwei ihrer Söhne »dem Vaterlande geopfert«. Bei Kriegsbeginn hatten NS-Propagandisten verlauten lassen, das »Waldlager« Stutthof sei für polnische »Banditen« bestimmt. Im Laufe der Jahre aber mussten die Einwohner der Gemeinde Stutthof erkennen, dass auch sie für Verfehlungen hinter den Stacheldrahtzaun kommen konnten. Die Inhaftierung von Paul W. war die Folge einer solchen »Verfehlung«.
Der Verhaftete wurde am 19. Januar 1919 als jüngster Sohn von Gustav W. und seiner Frau Karoline im Dorf Mittelhaken in der Landgemeinde Stutthof (Kreis Danziger Niederung) geboren. Gustav hatte 36 Jahre lang auf einem Hof gearbeitet, dessen Besitzer Ewald Foth war, der Leiter des Judenlagers im KZ Stutthof. Paul diente von 1939 bis 1943 in der Wehrmacht. Nach dem Verlust des linken Oberarmes wurde der Gefreite 1944 Pförtner bei der Maschinenfabrik Gerhard Epp in Stutthof, einem der größten Unternehmen in der Region. Die Firma produzierte u. a. für die Rüstungsindustrie und beschäftigte bereits 1942 Gefangene aus dem KZ Stutthof – Ende 1944 waren es etwa 500. Für die Einteilung von Häftlingskommandos war Paul W. verantwortlich.
In diese Zeit fällt seine Verlobung mit Ida T., einer Schlosserhilfsarbeiterin bei Epp. Die bevorstehende Hochzeit und die Gelegenheit, einen »Geldfonds für die Zukunft anzulegen«, wie Paul später bei seiner Vernehmung aussagte, sollen ihn dazu bewogen haben, das Unerlaubte zu wagen: Obwohl der außerdienstliche Verkehr mit den Gefangenen streng verboten war, nahm er mit zwei deutschen Kapos persönlichen Kontakt auf: Walter G., Häftlingsnummer 14329 und Erich F., Häftlingsnummer 21202. Gegen Geld sowie Kleidungsstücke, die aus Lagermagazinen kamen, belieferte er sie einige Wochen lang mit Spirituosen.
Walter G. und Erich F. waren als Berufsverbrecher ins KZ Stutthof gekommen, wurden mit der Zeit Funktionshäftlinge und hatten nun die Aufsicht über die im Außenkommando Epp eingesetzten Mithäftlinge. Ein Privileg, das bei geschicktem Handeln zusätzliche Vorteile verschaffte. So berichtete die Politische Abteilung, die örtliche Vertretung der Danziger Gestapo im KZ Stutthof: »Seit einiger Zeit fiel es auf, daß mehrere Häftlinge des hiesigen Lagers unter dem Einfluß von Alkohol standen. […] Trotz unauffälliger Beobachtung der Häftlinge war es bisher nicht möglich, die Quelle der in das Lager geschmuggelten Alkoholgetränke zu entdecken«. Eine Durchsuchung trieb die beiden Häftlinge schließlich in die Enge.
Der erste gab zu, dass er dem Zivilisten Paul W. einen Anzug und eine Lederjacke geliefert und von ihm als Gegenleistung mehrere Flaschen Alkoholgetränke bekommen hätte. Außerdem habe er »Schiebereien« mit zwei französischen Kriegsgefangenen und einem örtlichen Bauern, der für Epp als Fuhrmann arbeitete, getrieben. Walter G. gab zu, dass er mit Paul W. Geld und Wertsachen für Alkoholgetränke eingetauscht habe: »Den Alkohol habe ich im Lager nach der Arbeitszeit gelegentlich gemeinschaftlich getrunken«. Außerdem habe er der bei der Firma Epp beschäftigten Zivilangestellten Emma S. ein Paar Damenstiefel geschenkt. Für seine »Machenschaften« wurde Walter G. mit 25 Schlägen bestraft. Man kann annehmen, dass Erich F. eine ähnliche Strafe auferlegt wurde. Die Politische Abteilung stellte nun Paul W. zur Rede. Er erklärte, wie das wochenlange Tauschgeschäft vonstattengegangen war: Von dem Geld, das er von den beiden Häftlingen erhielt, kaufte der junge Pförtner mehrmals von einem gewissen Bruno L. aus Gotenhafen diverse Spirituosen, die er dann an die deutschen Kapos ablieferte. Als Mittelsmann fungierte ein Schornsteinfeger namens Leo K., der im Auftrag eines Danziger Schornsteinfegermeisters auf der Frischen Nehrung tätig war und zeitweilig in Stutthof wohnte. Eine polizeiliche Fahndung nach beiden setzte ein (das Fahndungsergebnis ist unbekannt). Bei der Durchsuchung der Wohnung von Ida T. wurden Geld, zwei Flaschen Alkohol und ein schwarzer Anzug gefunden. Von der Herkunft der ihr »zur Aufbewahrung und Verwendung für die Hochzeit übergebenen« Sachen wollte sie nichts gewusst haben. Im Abschlussbericht der Politischen Abteilung heißt es: »Nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis hat sich [W.] des unerlaubten Verkehrs mit Häftlingen, wegen Devisenvergehens und des Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsverordnung schuldig gemacht. Er wurde vorläufig festgenommen und in die Arrestzelle des Konzentrationslagers Stutthof eingeliefert«. Schutzhaft und Einweisung in ein KZ wurden empfohlen.
Kurz darauf ging das Bittgesuch der Mutter im Lager ein. Kommandant Hoppe zeigte sich bereit, der besorgten Frau persönlich Auskunft über die Verfehlung ihres Sohnes zu geben. Mehr noch: Der Briefwechsel zwischen dem Lagerkommandanten und dem Kommandeur der Sicherheitspolizei in Danzig lässt vermuten, dass die Kommandantur des Lagers Stutthof mehr als sonst tat, um dem Häftling zur Freiheit zu verhelfen. Ob es tatsächlich zu einer mündlichen Rücksprache kam, lässt sich allerdings nicht feststellen. Einige Wochen später teilte die Sicherheitspolizei Danzig der Lagerkommandantur Stutthof mit, für Paul W. sei beim Reichsicherheitshauptamt in Berlin Schutzhaft beantragt worden. Nach Angaben des Betroffenen dauerte seine Haft bis April 1945. In der Zwischenzeit waren die meisten Häftlinge »evakuiert« worden und ein großer Teil der Wachmannschaft samt dem Kommandanten geflohen. Paul W. gelang es, aus dem unter dem Zeichen der Auflösung stehenden Lager zu entkommen und nach Dänemark zu fliehen. Hier fand er Ida T. wieder, bevor die Internierung ins Flüchtlingslager Oksböl erfolgte. Im Juni 1946 heirateten sie und brachten einige Monate später ihre erste Tochter Ingrid zur Welt. In den kommenden Jahren folgten die Kinder Ursel, Helga und Dieter. 1947 wurde Paul W. nach Drübeck im Harz angesiedelt. Von hier floh er 1948 zu seinem Bruder nach Kiel-Wellsee. 1949 wurde er als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt. 1954 siedelte die fünfköpfige Familie von Kiel nach Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen über. Die Nachkriegszeit bedeutete für Paul W. nicht nur ständige Umzüge, sondern auch Arbeitslosigkeit und häufige Berufswechsel. 46-jährig erlag er in Castrop-Rauxel am 23. Juli 1965 einem Herzinfarkt.
Der Artikel stützt sich größtenteils auf die erhaltene Dokumentation der Gedenkstätte Stutthof in Sztutowo. Für zusätzliche Informationen bedanke ich mich bei Herrn Thomas Jasper, Herrn Werner Schneider und Frau Irmgard Stoltenberg.
Liebe Leserinnen und Leser!
Waren Sie Häftling im KZ Stutthof? Sind Sie Angehörige eines ehemaligen Häftlings? Sind Ihnen Personen bekannt, die im Lager Stutthof in Haft waren? Können Sie allgemein über die NS-Zeit in Danzig und Umgebung berichten? Helfen Sie mit und schreiben Sie an den wissenschaftlichen Mitarbeiter der Gedenkstätte Stutthof, Herrn Piotr Chruścielski, der mit seiner Dissertation zum Thema »Deutsche Häftlinge des KZ Stutthof« eine Lücke im Wissen über das KZ bei Danzig schließen möchte. Um ein möglichst breites Panorama der deutschen Häftlingsgesellschaft im Lager schildern zu können, sucht er nach Personen, Zeugnissen und anderen Erinnerungsstücken, die für seine »Rekonstruktion« von Bedeutung sein könnten. Auf diese Weise können Sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Geschichten von unseren während der NS-Herrschaft verfolgten Landsleuten nicht in Vergessenheit geraten! Ihre Nachricht an Herrn Chruścielski können Sie auf postalischem Weg oder per E‑Mail schicken:
Piotr Chruścielski, Muzeum Stutthof, ul. Muzealna 6, 82–110 Sztutowo, POLEN
E‑Mail: piotr.chruscielski@stutthof.org