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Vergiftete Nachbarschaft

Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (2): Die umkämpfte deutsch-polnische Kontaktzone von den „Teilungen“ bis zum Zweiten Weltkrieg

Von Jochen Boehler

Finis Poloniae

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, existierte der polnische Staat gar nicht. Ende des 18. Jahrhun­derts war das geschwächte polnisch-litauische Common­wealth, einst das größte Reich des frühneu­zeit­lichen Europas, infolge eines „der größten Raubüber­fälle in der modernen europäi­schen Geschichte“ (Norman Davies) von seinen mächtigen Nachbarn Russland, Öster­reich und Preußen euphe­mis­tisch gesprochen „geteilt“, in Wirklichkeit von der Landkarte getilgt worden. Jede der „Teilungs­mächte“ annek­tierte Gebiete des ehema­ligen Polens und unterwarf seine polnisch­spra­chigen Einwohner einer Fremd­herr­schaft. Der größte Teil zwischen Ostsee und Schwarzem Meer wurde als „Westter­ri­torium“ (russ.: Zapadnyĭ Kraĭ), später als „Weich­selland“ (russ.: Privis­linskiĭ Kraĭ) ein wesent­licher Bestandteil des russi­schen Reiches. In Polnisch hießen und heißen diese Gebiete landläufig aller­dings bezeich­nen­der­weise das „Wegge­nommene Land“ (Ziemie Zabrane) und – nach dem Wiener Kongress 1815, auf dem das nachna­po­leo­nische Europa aufge­teilt wurde – „Kongress­polen“ (Kongresówka). Mitte des 19. Jahrhun­derts besaß Russland über 80 Prozent, Österreich-Ungarn etwas mehr, Preußen etwas weniger als zehn Prozent der Landmasse des ehema­ligen Polen-Litauen.

Während die Polnisch sprechende Bevöl­kerung im russi­schen ‚Teilungs­gebiet‘ stark benach­teiligt und im öster­rei­chi­schen stark bevor­teilt war, ging Preußen in seinen dazuge­won­nenen östlichen Terri­torien einen Mittelweg. Seit Jahrhun­derten eine deutsch-polnische Kontaktzone, erlebten sie von Anfang an eine Welle der „Germa­ni­sierung“, die mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 an Fahrt aufnahm. Die staat­liche Politik zielte hierbei auf die Assimi­lation von ethni­schen Polen ab, die – bei einer Gesamt­be­völ­kerung von fast vier Millionen Menschen – durch­schnittlich etwa einen von drei Stadt­bürgern und drei von fünf Landbe­wohnern stellten. Neben der Minderheit von einem Prozent Juden bildeten sie die bedeu­tendste ethnische Gruppe in Pomme­rellen (poln.: Pomorze) und Großpolen (poln.: Wielko­polska). Die bald einset­zenden diskri­mi­nie­renden Maßnahmen hatten jedoch einen gegen­läu­figen Effekt und leiteten den stärksten polni­schen National- und Identi­täts­bil­dungs­prozess aller drei „Teilungs­zonen“ ein. Zugleich jedoch verzeichnete das preußische „Teilungs­gebiet“ – gemessen an den anderen – einen höheren Lebens­standard und brachte zahlreiche moderne polnische Vertre­tungen wie Vereine, Verlage oder Arbei­ter­ge­werk­schaften nach deutschem Vorbild hervor. Dadurch unter­schieden sich die Polen auf preußi­schem Gebiet erheblich von ihren Mitbürgern in Österreich-Ungarn und Russland.

Der polnische Nationalismus erwacht

Im 19. Jahrhundert erwachte der polnische Natio­na­lismus, und die Forderung nach der Wieder­her­stellung eines polni­schen Staates bildete das seine verschie­denen Lager einende Ziel. Uneinigkeit bestand hinsichtlich der Wahl der Mittel: Während man im rechts­kon­ser­va­tiven Spektrum unter Roman Dmowski auf „organische Arbeit“ in den drei Parla­menten setzte, entschied sich der linke sozia­lis­tische Flügel unter Józef Piłsuski für den bewaff­neten Kampf gegen Russland: zunächst im Unter­grund mit terro­ris­ti­schen Anschlägen, nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges dann mit regulären Streit­kräften, „polnische Legionen“ genannt, auf Seiten Österreich-Ungarns. Das war ein Ritt auf Messers Schneide, denn 1915 besetzten Deutschland und Öster­reich auch das russische „Teilungs­gebiet“. Polnische Soldaten dienten also nun den Herren, die sie eigentlich auf lange Sicht aus ihrem Land vertreiben wollten, und kämpften zugleich gegen Soldaten auf russi­scher Seite, die ebenfalls Polnisch sprachen.

Aus deutscher Sicht war der Einsatz zusätz­licher polni­scher Truppen­kon­tin­gente dringend erfor­derlich. Dafür war man sogar zu politi­schen Zugeständ­nissen bereit: 1916 wurde im deutschen Besat­zungs­gebiet, dem General­gou­ver­nement Warschau, ein polni­scher Regent­schaftsrat ins Leben gerufen, der offiziell als Vorform polni­scher Staat­lichkeit ausge­geben wurde, in Wirklichkeit aber nicht mehr war als eine Mario­net­ten­re­gierung von deutschen Gnaden.

Dennoch wurde ein Sieg der Mittel­mächte immer unwahr­schein­licher. In dieser Situation kündigten Piłsudski und seine Legionäre dem deutschen Kaiser die Gefolg­schaft und gingen als Märtyrer in die Gefan­gen­schaft. Ein Mythos war geboren.

Als die deutsch-österreichische Herrschaft im Osten im November 1918 zusam­men­brach, blickte man auf einen Scher­ben­haufen. Für die Polen, die im Ersten Weltkrieg kämpften, war ihr Einsatz im Rückblick lediglich ein Schritt auf dem Weg zur Unabhän­gigkeit, aber nur wenige hatten dieses Ziel im Sinn gehabt, als sie sich 1914 zum Dienst meldeten. Es war vor allem die harte Realität der deutschen und öster­rei­chi­schen Herrschaft, die die polnische Zivil­be­völ­kerung entfremdete und sie zunehmend für eine nationale Alter­native empfänglich machte. Die Besatzung der Mittel­mächte in Polen zwischen 1914 und 1918 ist zwar keineswegs mit der zwischen 1939 und 1945 zu vergleichen. Doch trotz gegen­tei­liger Absichts­er­klä­rungen hatte man die Gelegenheit verpasst, der polni­schen Bevöl­kerung eine gewisse Autonomie zu gewähren, und sie vielmehr gegen sich aufge­bracht, indem man ihr Land lediglich als billiges Wirtschafts- und Arbeits­kräf­te­re­servoir betrachtete. Ausbeutung und Zwangs­arbeit sollten ein Viertel­jahr­hundert später unter deutscher Herrschaft in neuen, schreck­lichen Dimen­sionen wiederkehren.

Ein ostmitteleuropäischer Bürgerkrieg

Der November 1918 ist ohne Frage ein Schlüs­sel­moment der europäi­schen Geschichte, nur wird er im Westen des Konti­nents ganz anders wahrge­nommen als im Osten. Hier bilden die Waffen­still­stände das Ende des Ersten Weltkrieges, dort bildet der Niedergang der Imperien die Gründung neuer Natio­nal­staaten (und weiter östlich schon zuvor des bolsche­wis­ti­schen Russlands). Die Grenze zwischen beiden Erinne­rungs­kul­turen verläuft genau zwischen Deutschland und Polen: Auf der einen Seite die Niederlage, auf der anderen Seite der wieder­erstandene Staat.

Ende 1918 herrschte in der Zweiten Polni­schen Republik aber nicht nur die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft vor, sondern auch die Erinnerung an eine albtraum­hafte Vergan­genheit. Die polnische Unabhän­gigkeit nahm in zerstörten Räumen Gestalt an. Vor seiner Blütezeit im November 1918 hatte Polen enorm unter den Auswir­kungen des Krieges gelitten und einige der heftigsten Schlachten der Ostfront erlebt, die in ihren Schrecken denje­nigen der Westfront nicht nachstand. Epidemien und Hungersnöte plagten die ländliche und städtische Bevöl­kerung Ende 1918, die Menschen starben noch immer in Massen. Mit dem Rückzug der deutschen Ober-Ost-Truppen mangelte es großen Teilen Ostpolens monate- oder sogar jahrelang an wirksamer staat­licher Kontrolle. Der spätere US-Präsident Herbert Hoover, der damals die ameri­ka­nische Hilfs­be­hörde leitete, bemerkte 1919 zutreffend, dass Teile Polens während des Krieges sieben Invasionen und Rückzüge mit Hundert­tau­senden von Opfern erlebt hatten, die von massiven Zerstö­rungen begleitet waren.

Zugleich bildeten die Jahre 1918 bis 1921 das Endstadium eines weltweiten Konflikts, der im Osten von einem weitgehend konven­tio­nellen Krieg zwischen den Mittel­mächten und Russland in einen Bürger­krieg ihrer ehema­ligen Unter­tanen überging. Hier wurden die Grenzen der nun inmitten der imperialen Ruinen aufstre­benden Natio­nal­staaten ausge­fochten. Geogra­fisch im Auge des Zyklons, beanspruchte der aufstre­bende ethnische polnische Natio­nal­staat Gebiete, in denen sich Minder­heiten fast aller an diesem „mittel­eu­ro­päi­schen Bürger­krieg“ betei­ligten Nationen befanden. Zwischen 1918 und 1921 befanden sich die Polen in einem perma­nenten Zustand des erklärten oder unerklärten Krieges an buchstäblich allen Grenzen, mit Ausnahme der rumäni­schen: mit Ukrainern im Osten, mit Litauern im Norden, mit Tschechen im Süden – und mit Deutschen im Westen. Auch wenn diese Grenz­kämpfe in der polni­schen Histo­rio­graphie als nationale Unabhängigkeits­kämpfe stili­siert werden, sollten sie in der Praxis der Zweiten Republik schlichtweg ihr Überleben sichern: erstens durch Gebiets­er­obe­rungen – denn wie anders sollte sonst das ein gutes Jahrhundert zuvor von der Landkarte getilgte polnische Staats­wesen wieder­richtet werden –, zweitens durch die Sicherung geogra­phi­scher und wirtschaft­licher Vorteile – wie einen Zugang zur Ostsee und den Anschluss indus­tri­eller und urbaner Zentren – und drittens durch die Schaffung einer möglichst loyalen Mehrheits­be­völ­kerung in den umkämpften Grenzgebieten.

Kampf um Grenzen und Menschen

Der Ärger in der deutsch-polnischen Kontaktzone begann mit dem Besuch Ignacy Paderewskis in Posen im Dezember 1918. Der polyglotte Starpianist, der gewöhnlich in den Verei­nigten Staaten lebte und tourte, setzte sich seit vielen Jahren für einen unabhän­gigen polni­schen Staat ein. Eigentlich hatte seine Reise nach Warschau gehen sollen, den Sitz der neu gebil­deten Regierung unter Józef Piłsudski. Statt­dessen hatten seine Gastgeber ihn nach Posen gelotst, die Hochburg der polni­schen Natio­nal­de­mo­kraten und zugleich – als ehemalige deutsche Haupt­stadt im großpol­ni­schen „Teilungs­gebiet“ – ein Hexen­kessel, in dem pro- und antipol­nische Emotionen brodelten. Am 27. Dezember hielt Padere­weski vom Fenster seines Hotel­zimmers aus vor 50.000 begeis­terten Zuschauern – aber auch vielen deutschen Gegen­de­mons­tranten – eine impro­vi­sierte flammende Rede zum Wieder­aufbau Polens. Als deutsche Soldaten die alliierten Flaggen, die die Polen gehisst hatten, nieder­rissen, gingen beide Gruppen aufein­ander los. Der Hexen­kessel kochte über. Die Polen waren besser vorbe­reitet und übernahmen im Laufe des Tages die Macht in Posen und den umlie­genden Städten. Sie entwaff­neten die verblüfften deutschen Soldaten. Für den Moment gab es keinen großen Kampf und nur wenige Verluste. Die deutschen Truppen konnten die polni­schen Aufstän­di­schen nur in den Städten mit deutscher Mehrheit weiter nördlich und westlich aufhalten.

Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen hatten die Männer der „Polni­schen Militär­or­ga­ni­sation“ – einer parami­li­tä­ri­schen Miliz, die bereits während des Ersten Weltkrieges gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatte – sowie demobi­li­sierte polnische Soldaten aus den Reihen des deutschen Heeres ein klares Ziel. Immerhin hatten einige von ihnen jahrelang auf diesen Moment hinge­ar­beitet. Die deutschen Soldaten waren ihrer­seits von den Ereig­nissen der vergan­genen Wochen überwältigt: der bedin­gungs­losen Kapitu­lation ihrer Armee; dem Zusam­men­bruch der Regierung, für die sie gekämpft hatten; und der Bildung einer neuen Regierung, die ihnen keine klaren Anwei­sungen gab, wie sie sich angesichts des polni­schen „Verrats“ zu verhalten hatten. Viele deutsche Soldaten aus der Arbei­ter­klasse sympa­thi­sierten sogar offen mit ihren ehema­ligen polni­schen Kameraden. Die Situation änderte sich, als auch deutsche Parami­litärs die Bühne betraten: die Freikorps, gebildet aus demobi­li­sierten Soldaten des deutschen Heeres und Männern, die zu jung gewesen waren, um selbst im Weltkrieg zu kämpfen und sich nun an der Front bewähren wollten. Sie folgten bereit­willig dem Ruf der Reichs­re­gierung, die deutschen Ostge­biete gegen den polni­schen Ansturm zu verteidigen.

Was sich nun im Raum Großpolen und bald auch in Oberschlesien Bahn brach, war ein unerklärter Krieg zwischen auswär­tigen deutschen und polni­schen Parami­litärs, dem sich zwar Teile der örtlichen Bevöl­kerung auf beiden Seiten anschlossen, der aber für ihre überwie­gende Mehrheit kein natio­naler Helden­kampf, sondern eine Tragödie war, denn beide Seiten beraubten und ermor­deten Zivilisten. Nun setzte in der Region ein Bürger­krieg ein, der die vier voraus­ge­henden Jahre des Weltkrieges bei weitem in den Schatten stellte. Im zwischen Deutschland und Polen umkämpften Gebiet sind seinerzeit mindestens 6.500 Menschen umgekommen, von einer hohen Dunkel­ziffer ist auszu­gehen. Es ist schlichtweg unmöglich, hierbei zwischen ‚polni­schen‘ und ‚deutschen‘ Opfern zu unter­scheiden. Das Natio­na­li­täts­prinzip war der Region von außen von beiden Konflikt­par­teien überge­stülpt worden, noch dazu in Form zweier Hüte gleich­zeitig, die niemandem richtig passen wollten. Die Bevöl­kerung Oberschle­siens war gemischt, mehrsprachig und über ethnische Grenzen hinweg mitein­ander seit über hundert Jahren nachbar­schaftlich, weitgehend freund­schaftlich und teilweise durch Famili­en­bande verbunden. Neue Studien zeigen, dass Oberschle­sie­rinnen und Oberschlesier häufig unter Natio­na­lität schlichtweg eine temporäre Loyalität verstanden und dass sie sich häufig je nach wirtschaft­licher oder politi­scher Lage bewusst für die deutsche oder die polnische Seite entschieden.

Von polni­scher Seite werden sowohl die Erhebung im Raum Posen als auch die drei Erhebungen in Oberschlesien damals wie heute als „Aufstände“ dekla­riert. Man sollte jedoch bedenken, dass zumindest Oberschlesien mit seinem prospe­rie­renden Indus­trie­gebiet jahrhun­der­telang Teil des Heiligen Römischen Reiches gewesen und Polen nicht im Zuge der „Teilungen“ wegge­nommen worden war. Der Konflikt drehte sich hier um Terri­torien und Wirtschafts­güter, nicht darum, sich gegen eine deutsche Fremd­herr­schaft aufzulehnen.

Letztlich hatte Deutschland als „Schur­ken­staat“ in Versailles dennoch die schlech­teren Karten: Die polni­schen Erobe­rungen in Großpolen wurden gebilligt, und die Aufteilung Oberschle­siens spiegelte das Ergebnis der Volks­ab­stimmung in Oberschlesien von 1923 nicht adäquat wider: Deutschland hatte die Wahl zwar gewonnen, aber dennoch sein Indus­trie­gebiet verloren. Ebenso schmerzlich für die deutsche Seite war die Einrichtung eines „Korridors“ durch Westpreußen, der das polnische Staats­gebiet mit der Ostsee verband und zugleich Ostpreußen vom Rest des Reiches trennte. Westpreußen war aller­dings vor den „Teilungen“ seit der Lubliner Union von 1569 polni­sches Staats­gebiet gewesen. Hier war formal­ju­ris­tisch kein neuer Zustand geschaffen, sondern ein alter wieder­her­ge­stellt worden, der freilich aufgrund der zwischen­durch erfolgten Reichs­gründung 1871 nun dazu führte, dass Deutschland fortan geteilt war (siehe Karte 1).

„Entdeutschung“

Als die bürger­kriegs­ähn­lichen Wirren an seinen Ost- und Westgrenzen in den frühen 1920er Jahren abgeklungen waren, machte sich der polnische Staat daran, dort – metapho­risch gesprochen – die nicht passenden Hüte passend zu machen. Im Osten geschah dies durch eine Politik der „Poloni­sierung“, denn Ukrainer und Weißrussen galten als prinzi­piell integrierbar. Dasselbe galt nicht für Deutsche im Westen. Wieso eigentlich nicht? In kultu­reller und sprach­licher Hinsicht war die deutsch-polnische Kontaktzone ebenso durch­mischt wie die polnisch-ukrainische. Entscheidend ist, dass nach über hundert Jahren deutsch-österreichischer Oberhoheit in beträcht­lichen – und nach vier Jahren Besatzung in allen – polnisch­spra­chigen Gebieten das Tischtuch zwischen den Nachbarn zerschnitten war. Im Westen verfolgte die Regierung der Zweiten Polni­schen Republik daher eine gegen­läufige Politik der „De-Germanisierung“. Die Blaupause dafür hatte ihr die frühere „Germanisierungs“-Politik des Deutschen Reiches geliefert. Nun wurden statt deutsch­spra­chiger polnisch­spra­chige Siedler aus anderen Landes­teilen in die umstrit­tenen Gebiete gelockt, statt polnisch­spra­chigen deutsch­spra­chige Einwohner durch staat­liche Maßnahmen drang­sa­liert. Landre­formen benach­tei­ligten deutsche Großgrund­be­sitzer im Westen und bevor­teilten zugleich polnische Großgrund­be­sitzer im Osten. Indus­trie­an­lagen in deutscher Hand wurden staatlich enteignet, deutsche Arbeiter in Massen entlassen. Staat­liche Lizenzen für deutsche Betriebe wurden oft aus faden­schei­nigen Gründen nicht verlängert. Die Folge war ein wahrer Exodus deutsch­stäm­miger Familien. Mitte der 1920er Jahre überstieg die Zahl deutscher Emigranten aus Großpolen und Pomme­rellen bereits eine halbe Million, bis 1939 wuchs sie nochmal um etwa die Hälfte. Wo ganze deutsche Schul­klassen verschwanden, konnte der polnische Staat deutsche Schulen schließen. Das Vorgehen entsprach ganz der Linie, die der Marschall des polni­schen Parla­ments (Sejm) Stanisław Grabski bereits 1919 in seinem „Posen-Programm“ vorge­geben hatte: „Wir wollen unsere Bezie­hungen auf Liebe gründen, aber es gibt eine Art von Liebe für Lands­leute und eine andere für Ausländer. Ihr Prozentsatz unter uns ist definitiv zu hoch; Posen kann uns zeigen, wie der Prozentsatz von 14 Prozent oder sogar 20 Prozent auf 1,5 Prozent gesenkt werden kann. Das fremde Element wird überlegen müssen, ob es anderswo nicht besser dran ist. Polni­sches Land für die Polen!“ Zugleich drängte die Reichs­re­gierung deutsche Familien, in Polen zu bleiben, da sie sie als Faust­pfand ansah.

Da die Grenz­frage zwischen Weimar und Warschau in den 1920er Jahren virulent blieb, wurde die deutsche Minderheit in Polen zum Spielball beider Seiten. Selbst ein gemäßigter Politiker wie Außen­mi­nister Stresemann nannte 1925 als wichtigste Ziele neben der Lösung der Repara­ti­ons­frage „den Schutz der Auslands­deut­schen, jener 10–12 Millionen Stammes­ge­nossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben“ sowie „die Korrektur der Ostgrenzen: die Wieder­ge­winnung von Danzig, vom polni­schen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien“. Dennoch sollte die politische Brisanz des deutsch-polnischen Konfliktes nicht darüber hinweg­täu­schen, dass in der Kontaktzone selbst bis unmit­telbar vor dem Zweiten Weltkrieg ein weitgehend normales deutsch-polnisches Zusam­men­leben möglich war.

Regie­rungen können sich streiten, Nachbarn müssen irgendwie im Alltag mitein­ander klarkommen. Aber auch wenn sie ihre Vertre­tungen im polni­schen Parlament hatten: Angehörige von Minder­heiten – nicht nur der deutschen – waren in der Zweiten Polni­schen Politik de facto Bürger zweiter Klasse. Nach seinem Beitritt 1926 brachte Deutschland die Lage der deutschen Minderheit in Polen wiederholt vor den Völkerbund.

Ausblick

Die emotionale Aufladung des politi­schen Konfliktes hatte langfristig fatale Folgen für die deutsch-polnische Nachbar­schaft. Die Offiziers­ränge der parami­li­tä­ri­schen und militä­ri­schen Verbände des „Dritten Reiches“  – SS und Wehrmacht – waren voll von ehema­ligen Freikorps­kämpfern, die ihr Ressen­timent gegen Polen vereinte. Ähnlich, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, sah es in den Vetera­nen­ver­bänden polni­scher „Aufstän­di­scher“ aus. Der ameri­ka­nische Histo­riker Winson Chu hat aber darauf hinge­wiesen, dass das politische Gezerre um die deutsche Minderheit in Polen in den 1920er Jahren auch die Gemüter der nachkom­menden Generation vergiftete. In einer Umfrage im Deutschen Reich von 1932 gaben über 90 Prozent der nahe der Ostgrenze lebenden Schüle­rinnen und Schüler im Alter zwischen 11 und 14 Jahren an, Polen und seine Bewohner zu hassen. Sie seien der Feind im Osten, den es zu zerstören gelte. „So war die Einstellung derje­nigen Generation“, resümiert Chu, „die 1939 Waffen tragen sollte“.


Wenn es um das Ende von Westpreußen geht, sind für deutsche Beobachter die Profile der Kontrahenten in der Regel klar bestimmt: An der jeweiligen Zuordnung von Recht und Unrecht, Makellosigkeit und Verworfenheit oder – ganz allgemein – von Hell und Dunkel gibt es kaum Zweifel. Ungeachtet dieser Zuweisungen, die hier wohlgemerkt gar nicht zur Debatte stehen, zeigt sich allerdings, dass Polen, der eine Akteur, dem die Charakteristika des Finsteren, Illegitimen zufallen, oft auf seine reinen Funktionen innerhalb des Rollenspiels beschränkt bleibt. Der östliche Widerpart wirkt dann eigentümlich konturlos: ohne eigenständige Geschichte, ohne nachvollziehbare eigene Handlungsgründe und auch ohne interne Konflikte. – In einer umfangreichen Artikelserie, die sich mit der „Vierteilung“ Westpreußens auseinandersetzt, können derartige Verkürzungen allerdings nicht fortgeschrieben werden, denn hier ist es unausweichlich, auch jenen Gegenspieler differenziert zu betrachten und dessen spezifische Perspektive auf das Geschehen zur Kenntnis zu nehmen. Diese heikle Aufgabe hat dankenswerterweise Jochen ­Boehler übernommen, der sich seit vielen Jahren mit Problemen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte beschäftigt und erst im letzten Jahr im äußerst renommierten Verlag der Universität Oxford eine Untersuchung zum Bürgerkrieg in Zentraleuropa während der Jahre 1918 bis 1921 und zur Wiederbegründung des polnischen Staates veröffentlicht hat. DW