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Priorität der Nächstenliebe

Anlässlich des 250. Geburtstags von Johannes Daniel Falk verortet der Theologe und Falk-Forscher Dr. Johannes Demandt den Nestor der modernen Diakonie in dessen geistesgeschichtlichem Umfeld und spricht über Falks bleibendes Erbe. – Dr. Johannes Demandt war bis 2016 Pastor der Freien Evangelischen Gemeinde in Düsseldorf und ist Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach.

Johannes Daniel Falk wuchs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­derts in Danzig auf. Wie haben die Erfah­rungen seiner Kindheit und Jugendzeit sein späteres Denken und Handeln geprägt ?

Falks evangelisch-reformiertes Elternhaus mit pietis­ti­scher Prägung hat ihm – trotz der damit verbun­denen geistigen Enge – einen Fundus an Bibel­kenntnis und auch eine Gottes­be­ziehung vermittelt, die er selten wie eine Monstranz vor sich her trug, wohl aber als wertvollen Schatz in seinem Herzen behielt. Es war für den bildungs­hung­rigen jungen Falk eine persön­liche Tragödie, dass seine Eltern ihn als kaum Zehnjäh­rigen aus der Schule nahmen, damit er im väter­lichen Perücken­ma­cher­be­trieb helfen sollte. Seinen Wissens­durst und seine Sehnsucht nach großer Literatur suchte er fortan durch heimliches Lesen zu Hause oder im Later­nen­licht auf den Beischlägen der Danziger Gassen zu stillen. Als er sechs Jahre später durch Fürsprache eines Lehrers und vor allem des Gemein­de­pastors Samuel Ludwig Majeswki wieder das Gymnasium besuchen und anschließend sogar Theologie studieren durfte, nutzte er die gewonnene Freiheit, um sich ein breites Wissen anzueignen. In jener Zeit wird er sich vorge­nommen haben, sich immer dafür einzu­setzen, dass nicht nur Kinder aus wohlha­benden Eltern­häusern Zugang zu guter Bildung erhalten.

Auch wenn Falk sein späteres Theolo­gie­studium nicht abschloss :  Wo ist er in der theolo­gi­schen Landschaft seiner Zeit einzuordnen ?

Als aufmerk­samer Gesprächs­partner seines aufge­klärten Pastors Majewski suchte der kritische Gymna­siast Falk nach Vernunft­gründen für die christ­liche Wahrheit. – Während seines Studiums in Halle und auch danach als satiri­scher Schrift­steller in Weimar hatte er wenig mit der Kirche zu tun, gleichwohl verfolgte er den theolo­gi­schen Betrieb mit lebhaftem Interesse. Die eine Generation älteren Wieland, Herder und Goethe schätzten Falks ethisches Engagement. Nach seiner Hinwendung zur Erziehung in Not geratener Kinder und Jugend­licher (seit 1813) entdeckte Falk den christ­lichen Glauben neu als entschei­dende Orientierungs- und Lebens­hilfe, ohne dass man ihn deshalb als Pietisten oder typischen Vertreter der Erweckungs­be­wegung bezeichnen könnte und ohne dass er deshalb wichtige Impulse des Humanismus verachtet hätte. Sein „Geheimes Tagebuch“ belegt eindrucksvoll Falks innere, oft im Gebet ausge­fochtene Kämpfe. Mehrere Brüche in seinem Lebenslauf, die Ausein­an­der­setzung mit Strömungen der Aufklärung und Romantik und nicht zuletzt die gemeinsam mit seiner Frau Caroline erlebten harten Schick­sals­schläge (1813 verloren sie vier, 1819 und 1821 zwei weitere eigene Kinder) sowie die selbstlose, praktische Hilfe für Notlei­dende formten sein Inneres zu einer eigen­stän­digen, reifen Glaubens­haltung. Der in seiner Kindheit in ihn gelegte Same ging auf, aber ganz anders, als es sich die betende Mutter einst vorge­stellt hatte.

Welche theolo­gi­schen Fragen waren für Falk zeit seines Lebens prägend – und wurden ggf. auch zum Motor seines diako­ni­schen Wirkens ?

Seit der Erfahrung eigener Benach­tei­ligung in seiner Kindheit trieb ihn die Frage nach sozialer Gerech­tigkeit um. Auch in seiner „unfrommen“ Phase bewegte ihn die Frage, wie die in der Bibel erkennbare Partei­nahme Gottes für die Recht­losen gesell­schafts­re­levant gelebt werden kann. Schließlich bedrängte ihn die Frage, wie Regie­rende ebenso wie normale Bürger der dringend nötigen, prakti­zierten Nächs­ten­liebe Priorität geben können.

Bis heute gibt es zahlreiche diako­nische Einrich­tungen, die den Namen Falks tragen. Wie lebt – jenseits der nament­lichen Bezug­nahme – sein Erbe noch heute in der Diakonie fort ?

Leider ist es weithin in Verges­senheit geraten, dass Falk der entschei­dende Impuls­geber und das wichtigste Vorbild für Johann Hinrich Wichern, den Gründer der „Inneren Mission“, war. In seiner berühmten Witten­berger Kirchen­tagsrede hat Wichern sich 1848 ausdrücklich auf Falk bezogen, als er die Notwen­digkeit betonte, der „äußeren“ Mission eine „innere“ Mission an die Seite zu stellen. Er drang darauf, dem gesell­schaft­lichen Niedergang durch entschlos­senen, in der Liebe tätigen Glauben zu begegnen, wie es Falk vorgelebt hatte. Wo immer Diakonie heute so motiviert arbeitet, lebt Falks Erbe fort.

Falk galt als kriti­scher Beobachter und Analy­tiker der gesell­schaft­lichen Umstände seiner Zeit. Welche Anfragen würde er an unsere heutige Gesell­schaft stellen ?  Und was können wir – anders gewendet – im Jahr seines 250. Geburtstags von ihm für unsere Gegenwart lernen ?

Ich denke, er würde den egois­ti­schen Missbrauch unseres Wohlstands anprangern und zugleich beispielhaft sein Leben mit Bedürf­tigen teilen. Vielleicht würde er fragen :  Wie kann es sein, dass in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, der Unter­schied zwischen Armen und Reichen immer größer wird ?  Wie kann es sein, dass z. B. in Syrien seit Jahren Zigtau­sende gewaltsam sterben, vor allem Frauen und Kinder ?  Wie kann es sein, dass wir Deutschen mit der größten Selbst­ver­ständ­lichkeit an den herrlichen Stränden des Mittel­meers Urlaub machen, uns aber gleich­zeitig gegen die aus ihrer Heimat fliehenden Männer, Frauen und Kinder abschotten und fast teilnahmslos hinnehmen, dass sie in demselben Meer ertrinken ?  Falk würde dazu aufrufen :  Lasst uns nicht nur fromm oder geist­reich reden, sondern nach Kräften etwas wirklich Hilfreiches tun !

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.