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Max Reimanns Besuch in Elbing / Elbląg

Max Reimann, der am 31. Oktober 1898 in Elbing geboren wurde, ist eine bedeutende Persönlichkeit der jüngeren deutschen Geschichte, an der die Brechungen und Widersprüche der Zeit zwischen dem späten Kaiserreich und der 1969 einsetzenden allmählichen Normalisierung des Zwei-Staaten-Konzepts von BRD und DDR deutlich hervortreten. Im Abstand von nunmehr vier Jahrzehnten betrachtet – Reimann starb am 18. Januar 1977 in Düsseldorf –, wird allerdings deutlich, in wie weite Ferne gerückt uns die damaligen ideologischen Verwerfungen und die politisch-moralischen Verstrickungen Einzelner heute erscheinen. Gleichwohl lohnt es gerade für den Westpreußen, anlässlich des 40. Todestages an Max Reimann zu erinnern ;  denn seit kürzerer Zeit liegt ein detaillierter Bericht vor, der erstmals die Möglichkeit eröffnet, einen Tag im November des Jahres 1968 zu rekonstruieren, an dem Reimann als einer der großen deutschen Repräsentanten der Arbeiter- und Bauernklasse noch einmal seine – nun Elbląg genannte – Heimatstadt besucht hat. Dabei werfen die Vorgänge nicht nur ein bezeichnendes Licht auf Reimanns Persönlichkeit, sondern auch auf die außergewöhnliche Bedeutung, die dem Besuch von den polnischen Genossen beigemessen wurde, sowie auf die Privilegien, die die damals »Herrschende Klasse« genoss.

Als überzeugter Kommunist, Gewerk­schaftler und antifa­schis­ti­scher Aktivist war Max Reimann 1939 verhaftet worden und brachte die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Gefäng­nis­in­sasse und KZ-Häftling zu. Nach dem Kriegsende stieg er rasch zum Führer der KPD auf, wurde Landtags­ab­ge­ord­neter in Nordrhein-Westfalen und zog auch als Abgeord­neter in den 1. Deutschen Bundestag ein. 1954 setzte er sich aller­dings in die DDR ab :  Wegen seiner unrühm­lichen Betei­ligung an stali­nis­ti­schen »Säube­rungen«, bei denen er mehrere hochrangige Genossen nach Ost-Berlin gelockt und damit dem KGB ausge­liefert hatte, wurde er mit Haftbefehl gesucht und entzog sich dessen Vollstre­ckung durch die Übersiedlung. Erst Ende 1968, nachdem seine Taten verjährt waren, ging er neuerlich in die Bundes­re­publik und wurde dort 1971 schließlich Ehren­vor­sit­zender der inzwi­schen gegrün­deten (und offiziell gedul­deten) DKP.

Aus dieser Phase der Rückkehr in den Westen stammt die Episode, in der Reimann noch einmal seine westpreu­ßische Heimat­stadt gesehen hat. Mirosław Dymczak, seit 1946 Bürger von Elbing und ­A­­ugenzeuge dieses großen Tages, hat jüngst nicht nur den Zeitpunkt des Besuchs genauer bestimmt, sondern auch etliche Einzel­heiten ­geschildert. Max  Reimann war zusam­men mit einer Delegation deutscher Kommu­nisten zum 5. Kongress der Polni­schen Verei­nigten Arbei­ter­partei (PVAP) einge­laden worden, der vom 11. bis zum 16. November 1968 in Warschau stattfand. Im Zusam­menhang mit diesem Kongress machte er sich nach Elbing auf. Wahrscheinlich war es Reimanns erster Besuch seit 1938. Doch vor Ort zeigte sich, dass er sich immer noch bestens in El­bing auskannte. Bei der staat­lichen Organi­sation folgte alles einer minutiös geplanten »Choreo­graphie«. Offenbar wollten die örtlichen Partei­ver­treter ihren hohen Gast so empfangen, dass die Genossen in der Warschauer Zentrale in jedem Falle zufrieden sein konnten. Die PVAP hatte für die Fahrt »Gomułkas Salon­wagen«, einen äußerst eleganten Staats­bahn­wagen, zur Verfügung gestellt. Er war 1956 in den PaFaWag-Werken in Breslau herge­stellt worden und bestand aus zwei Salons, drei Zweibett­zimmern mit Wasch­becken sowie einem Bad und einer Küche. Die Heizung funktio­nierte autark, und die Innen­räume waren mit Holz und hochwer­tigen Materialien verkleidet.

Nach der Begrüßung auf dem Elbinger Bahnhof begab sich Max Reimann in Begleitung einiger Personen zum Friedhof der St.-Annen-Kirche an der Agrykola (ehem. Jahnstraße). Hier, im ungenutzten Teil des Friedhofs zum Dolinka-Park hin (ehem. Pulver­grund), verweilte er am gut erhal­tenen Grabmal seiner Eltern. Es bestand aus einer großen Stein­platte (die ungefähr zehn Jahre später aller­dings spurlos verschwunden war). Von dort fuhr er zur ehema­ligen Ferdinand-Schichau-Schule, damals Felix-Dzierżyński-Grundschule (Nr. 9, später Grund­schule Nr. 7, heute Mittel­schule Nr. 9), an der Browarna-Straße, ehem. Ziese­straße. Der frühere Schüler durch­schritt – sichtlich bewegt – die Korridore und verge­gen­wär­tigte sich offenbar nochmals seine Schulzeit. Anschließend fuhr er zur Wiej­ska-Straße (ehem. Pangritz­straße), um dort sein Geburts- und Elternhaus anzuschauen. All dies beein­druckte ihn sehr, was er auch nicht zu verbergen suchte.

Von der Wiejska-Straße ging es weiter zu den Mecha­ni­schen Werkstätten Zamech, der früheren Schich­au­werft, wo er in seiner Jugend als Nieter gearbeitet hatte. Hier wartete bereits das Empfangs­ko­mitee, darunter der Stadt- und Kreis­se­kretär der PVAP, Mirosław Demichowicz, der Zamech-Direktor, Zygmunt ­Nawrocki, und der Sekretär der Werks­par­tei­zelle (Betriebs­ko­mitee der PVAP), Janusz Leszc­zyński. Im Sonntags­staat, mit einem üppigen Blumen­strauß in der Hand, erwar­teten sie den hohen Gast am Tor. Da fuhren zwei schwarze Limou­sinen am Verwal­tungs­ge­bäude vor, aus denen tadellos gekleidete Herren ausstiegen. Dem ersten der beiden überreichte man bereit­willig die Blumen und bat ihn nach oben. Dort äußerte der Gast aller­dings sein Erstaunen, weil er es noch nie erlebt hätte, dass – Vertrags­partner so großzügig und entge­gen­kommend empfangen worden wären !  Diese Worte konster­nierten alle, und plötzlich stellte sich das Empfinden ein, in eine Szene aus Gogols »Revisor« geraten zu sein ;  denn nun ergab sich, dass es sich um zwei Vertreter eines griechi­schen Reeders handelte, die mit Zamech über die Bestellung einer Schiffs­schraube verhandeln wollten. Mit kühlem Kopf überwand man aber die Verblüffung. Geschickt wurden die Gäste hinter Nawrockis Direk­to­ren­zimmer durch den dort befind­lichen kleinen Konfe­renzraum hinaus­ge­führt. Auf diese Weise ließen sich sogar auch wieder die Blumen »retten«, die die Besucher im Vorzimmer zurück­ge­lassen hatten. Trotzdem entgingen den eiligst hinaus­kom­pli­men­tierten Zamech-Kunden natürlich nicht die gedeckten Tische im Konfe­renzraum, auf denen ein Imbiss für den eigent­lichen Besucher bereitstand.

Max Reimann bekam kurz darauf die wieder­ge­won­nenen Blumen, führte die üblichen Gespräche und besich­tigte die Zamech-Werke. Als er sich müde zu fühlen begann, geleitete man ihn für einige Zeit in ein für ihn vorbe­rei­tetes Zimmer. Immerhin war er damals bereits 70 Jahre alt und gesund­heitlich angeschlagen ; ein Auge wurde zudem von einer schwarzen Augen­klappe verdeckt. Abgerundet wurde der Besuch in Elbing schließlich durch ein festliches Essen im Restaurant Słowiańska (dem ehem. Central-Hotel). Am Bahnhof wartete dann wieder »Gomułkas Salon­wagen« auf den hohen Gast. Der letzte Nutzer dieses Luxus-Wagens war übrigens Minis­ter­prä­sident Piotr Jaroszewicz, der ebenso wie Parteichef Edward Gierek sein Amt im Reformjahr 1980 verlor. Ein Jahr später wurde der Waggon aus dem Verkehr gezogen, und er befindet sich heute im Eisen­bahn­museum in Chabówka (Kreis Neumarkt) in Klein­polen. (Vor einigen Jahren diente er auch zu Drehar­beiten für die Filme Ekstra­dycja und Różyczka.)

Auf seinen Elbing-Aufenthalt kam Reimann noch gelegentlich zurück. Einmal sagte er bei einer Rede: Ich habe meine Heimat­stadt nach dem Krieg gesehen. Es war nicht mehr die Stadt, in der ich geboren wurde und gearbeitet habe. Von dieser Stadt sind nur zwei Häuser geblieben. Alles andere hat der Krieg dem Erdboden gleichgemacht.

Seine Formu­lierung, dass allein »zwei Häuser« vom deutschen Erbe Elbings übrig­ge­blieben seien, war gewiss eine Übertreibung oder eine bewusste Überzeichnung. Passen könnte sie jedoch zum damaligen Aussehen der Altstadt, die nach Abriss, Planierung und Herrichtung des ganzen Geländes tatsächlich den Anblick eines großen mittel­al­ter­lichen Angers mit einer gotischen Kirche in seiner Mitte bot.

Lech Słodownik / DW