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In den Blick genommen

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter. C. H. Beck: München, 2018

„Ich liebte den Alten Herrn, und ich war praktisch der Einzige im Haus, der keine Angst vor ihm hatte. […] Schon mehrmals hatte er mir erklärt, wie wichtig ich als Stamm­halter für die Familie und für ihn persönlich war. Ich hatte längst nicht alles begriffen, obwohl mir schon klar war, dass es nicht unvor­teilhaft sein konnte, ein Einzelkind zu sein, wenn man einen reichen Opa hatte.“

Dieses Kind, der 1944 geborene Journalist Alexander Münninghoff, verfolgt in seinem autobio­gra­fisch geprägten Roman über drei Genera­tionen die Geschichte seiner außer­ge­wöhn­lichen Familie in histo­risch turbu­lenten Zeiten. Der Alte Herr – das ist der nieder­län­dische Kaufmann Joannes Münninghoff, eine exzen­trische Persön­lichkeit, die noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Gründen, die nie richtig nachvoll­zogen werden können, nach Lettland auswandert und durch Tatkraft, eisernen Willen, Wagemut und nicht zuletzt die richtigen Kontakte binnen fünfzehn Jahren ein sagen­haftes Vermögen erwirbt. Sind es zunächst landwirt­schaft­liche Produkte, mit denen Münninghoff handelt, weitet sich die Palette der von seinen Firmen umgeschla­genen Waren aus auf andere, kriegs­wichtige Güter, denn :  „Der Krieg war eine einmalige Chance für ihn. Und diese Chance hat er genutzt. So war er.“ Aufgrund seiner natür­lichen Begabungen, ausge­zeich­neter Bezie­hungen – sowohl zu namhaften Politikern als auch zu diversen obskuren Gestalten –, mit dem richtigen Instinkt und mit Glück gelingt der Aufbau eines Wirtschafts­imperiums, so dass Münninghoff in den Zwischen­kriegsjahren einer der wichtigsten und reichsten Männer Lettlands wird. Dabei bleibt er nieder­län­di­scher Staats­bürger, was im tenden­ziell auslän­der­feind­lichen Lettland bemer­kenswert ist und sich später als hochbe­deutsam erweisen wird.

Befördert wird der Aufstieg des Einwan­derers durch die Heirat mit einer jungen Gräfin aus deutsch-baltischem Adel, Tochter eines Hofrats bei Zar Nikolaus II. Vier Kinder kommen zwischen 1920 und 1925 zur Welt. Selbst­ver­ständlich ist der Erstge­borene – Frans, Vater des Erzählers – als Nachfolger vorge­sehen, doch zeigt sich schon in frühesten Jahren, dass der Sohn nicht weniger eigen­sinnig und dickköpfig ist als der Vater. Aus pädago­gi­schen Gründen wird Frans in die Nieder­lande geschickt, aber das Projekt der Hollan­di­sierung scheitert, denn der junge Mann begeistert sich vielmehr für die von ihm als stark und selbst­be­wusst wahrge­nom­menen Natio­nal­so­zia­listen und sieht Berlin als einzige Weltstadt an. Im vom benach­barten Bolsche­wismus bedrohten Lettland finden sich unter den Adligen zunehmend Befür­worter von Hitler, auch in der Familie, nicht aber der Alte Herr.

Mit Kriegs­beginn 1939 ändert sich für die Deutschen im Baltikum die Lage grund­legend. Wegen eines geheimen Zusatz­pro­to­kolls des Hitler-Stalin-Pakts wird die russische Macht­über­nahme in Lettland erwartet. Aus Angst vor bolsche­wis­ti­schen Gräuel­taten den kapita­lis­ti­schen Erzfeinden gegenüber setzt sich die Familie unter Zurück­lassung fast aller wertvollen Besitz­tümer in die vermeintlich sichere nieder­län­dische Heimat ab. Dort werden die Münning­hoffs jedoch als Fremde empfunden, und in der eigenen Wahrnehmung sehen sie sich als Vertriebene, das Ende des Luxus­lebens in Lettland bedauernd. 1940 kommt es fast zeitgleich zur Besetzung der Nieder­lande durch die Natio­nal­so­zia­listen und der Balten­staaten durch sowje­tische Truppen.

Die bei Frans sich immer stärker ausbil­dende Hinwendung zu Nazi-Pathos, Uniformen und nicht zuletzt die Ablehnung der Übernahme von Verant­wortung in väter­lichen Firmen führt im gleichen Jahr dazu, dass der Junior – noch nicht volljährig – sich gegen den Willen des Vaters der Waffen-SS anschließt, beseelt vom Wunsch, gegen den Bolsche­wismus zu kämpfen, aber auch, weil es für ihn ein ersehntes Abenteuer darstellt und er in seinem Leben zum ersten Mal einen echten Sinn sieht. Während Frans in solda­ti­schen Missionen durch die vom natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland eroberten Staaten unterwegs ist, verschlägt es seine junge Ehefrau Wera in einer Heim-ins-Reich-Aktion nach Kolberg.

Vater Joannes lehnt die SS ab, behält aber den ältesten Sohn als Art „Trumpf­karte“ für Kontakte mit den deutschen Besatzern in der Hinterhand. Und dem ebenso schlauen wie oppor­tu­nis­ti­schen Alten gelingt der Neuaufbau seines Imperiums. Als geradezu genial für den wirtschaft­lichen Erfolg erweist sich dabei der Erwerb einer Lizenz für einen Gasge­ne­rator, sind doch für die Deutschen, welche ständig große Mengen an Trans­porten von Gütern und Personen zu bewäl­tigen haben, Fragen der Energie­be­schaffung absolut zentral. Zudem bedeutet die Herstellung kriegs­wich­tigen Materials großzügige Reise­er­laub­nisse der Deutschen, so dass Münninghoff seine Besit­zungen in Lettland besuchen kann (obschon immer klarer wird, dass sie nicht zu retten sein würden), aber nahezu ungehindert auch geheim­dienstliche Tätig­keiten einfädelt und pflegt. Einer seiner Brüder engagiert sich im nieder­län­di­schen Wider­stand, ein anderer ist durch Heirat schwe­di­scher Staats­bürger geworden, in Kriegs­zeiten sind das Kontakte von unschätz­barem Wert. Wenn der Enkel dem Großvater rückbli­ckend „eine andere Seite, die Rückseite des Spiegels, in den er die Menschen seiner Umgebung blicken ließ“, bescheinigt und dann präzi­siert: „und manchmal war die Rückseite dunkel“, deutet er damit die Vielschich­tigkeit dieses Charakters an: ebenso charmant und weltge­wandt wie egois­tisch und skrupellos.

In der letzten Phase des Krieges, in „pechschwarzer Zeit“, wird in der von Weltun­ter­gangs­stimmung geprägten Stadt Posen eben dieser Enkel Alexander geboren, der Stamm­halter. Die letti­schen Besitz­tümer sind nach dem Krieg endgültig verloren, das „Paradies“ unwie­der­bringlich zerstört. Aber das Leben geht weiter, auch für einen früheren SS-Mann in den Nieder­landen. Als „zwielichtige Figur“ soll Frans Münninghoff nach Südamerika abgeschoben werden, was aus unerfind­lichen Gründen hinaus­ge­zögert und schließlich gar nicht umgesetzt wird. Heftigste innerfami­liäre Turbu­lenzen zwischen dem Sohn im „Warte­stand“ und dem Vater, der inzwi­schen in die extrem gewinn­trächtige Glas- und Fliesen­pro­duktion einge­stiegen ist, prägen die ohnehin schwie­rigen Nachkriegs­jahre, verstärkt noch durch die neue Frau an der Seite von Frans. In jahre­langen gericht­lichen Ausein­an­der­set­zungen um Stamm­halter und Unterhalt versuchen der Alte Herr, sein Sohn und die Schwie­ger­tochter sich gegen­seitig zu übervor­teilen, bis der Großvater schließlich mit einer überra­schenden Entscheidung endgültig Weichen stellt.

„So war er : Was ihm gehörte, gab er nicht aus der Hand, und wenn man es ihm mit Gewalt wegnahm, ruhte er nicht, bis er es wiederbekam.“

Frans, besessen von der Idee, reicher als der Alte Herr zu werden, versucht sich in verschie­denen Geschäfts­be­reichen, doch das unter­neh­me­rische Talent des Vaters hat er nicht geerbt. Zudem verstrickt er sich in eine weitere proble­ma­tische Liebes­be­ziehung, leidet unter fehlender gesell­schaft­licher Akzeptanz und den nach dem Tod von Joannes Münninghoff aufbre­chenden Erbstrei­tig­keiten. Für den vom Alten auser­wählten Stamm­halter bringt er kein Interesse mehr auf.

Ruhig, fast sachlich, mit feiner Ironie und dem Wissen des Nachge­bo­renen erzählt Alexander Münninghoff die Geschichte seiner Familie. Trotz einer Vielzahl von Protago­nisten, verwi­ckelter Verwandtschafts‑, Freundschafts- und Geschäfts­be­zie­hungen, bei etlichen Antizi­pa­tionen und erzäh­le­ri­schen Umwegen gelingt es dem Autor, die zentralen Persön­lich­keiten im Fokus zu behalten und die Geschichte für den Leser übersichtlich und verständlich zu gestalten – keine kleine Leistung. Die versunkene Welt des 20. Jahrhun­derts in einer Fülle von politi­schen, gesell­schaft­lichen und persön­lichen Facetten wird in dieser überwäl­ti­genden Chronik äußerst lebendig und mit wunder­barer Leich­tigkeit darge­stellt. So erweist sich auch der Stamm­halter einer außer­ge­wöhn­lichen Familie als großartige Persön­lichkeit – als ein präziser Beobachter und ein begna­deter Erzähler. 

Annegret Schröder