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Häftlingsanzug statt Marineuniform

Wegen „Wehrkraftzersetzung“ im KZ Stutthof

Von Piotr Chruścielski 

Ein Foto fesselte besonders meine Aufmerk­samkeit. Es zeigt eine Familie aus Krefeld am Nieder­rhein zu Weihnachten 1958. Im Wohnzimmer der Seniorin Josephine Scheuß lachen drei Genera­tionen in die Kamera. Die Stimmung ist aufge­lo­ckert und dennoch schwingt ein unbehag­licher Nebenton in dem Foto mit. Ein großes Bild eines jungen Mannes hängt an der Wand und lässt den Betrachter die Perspektive wechseln. Aus dem Bild lächelt Gerhard, Josephines zweit­jüngster Sohn, mit, als ob er an der lustigen Gesell­schaft teilhaben wollte. Seinen Verlust im Jahr 1944 hat die Familie nicht überwinden können. „Meine Tante und mein Vater trauerten ihrem Bruder bis zu ihrem Tod nach. Meine Tante glori­fi­zierte ihn zeitweise, aller­dings nicht als jemanden, der vermeintlich durch die Hand des eigenen Volkes getötet wurde, sondern als Gefal­lenen“, berichtet Gilbert Scheuß, dessen Spuren­suche ihn 2018 nach Polen führte. Hier liegen zwei Leidens­sta­tionen seines Onkels. Die eine war die Marine­feld­son­der­kom­panie auf der Halbinsel Hela, eine gefürchtete Einrichtung der deutschen Kriegs­marine für „schwer erziehbare“ Soldaten, die andere das KZ Stutthof, in das die „unver­bes­ser­lichen“ Ex-Matrosen überstellt wurden. Hier fand der 23-jährige Gerhard seinen Tod.

Die auf der Landzunge zwischen den Ortschaften Heisternest und Hela gelegene Marine­feld­son­der­kom­panie Hela-Wald (1943–1944) bzw. ihre Vorgän­ger­ein­richtung, die Kriegs­son­der­ab­teilung Ost (1939–1942), hatten das Ziel, wegen straf­recht­licher Verur­tei­lungen oder diszi­pli­na­ri­scher Verfeh­lungen bestrafte Soldaten auf den „richtigen Weg“ zu bringen und als „Wehrwürdige“ wieder im Kampf einzu­setzen. Dabei galt die Straf­kom­panie Hela-Wald als die letzte Bewäh­rungs­mög­lichkeit für jene, die mit ihrem Verhalten gegen die solda­tische Ordnung verstießen. Da die „Erzie­hungs­maß­nahmen“ in ständigem Hunger, hartem Arbeits­dienst und erbar­mungs­losem Drill ihren Ausdruck fanden und nicht selten in Gewalt und Willkür ausar­teten, wurden die Sonder­sol­daten auf eine harte Probe gestellt, die nicht alle durch­zu­halten vermochten. Sei es aus Anpas­sungs­un­fä­higkeit, Freiheits­drang, Leichtsinn, weltan­schau­licher Überzeugung oder purem Überle­bens­willen, – manche gerieten in eine Sackgasse, die hinter Stachel­draht endete. Wegen „Wehrdienst­sa­botage“ (die freilich ohne Rücksicht auf objektive Gegeben­heiten definierbar war) wurden sie aus der Wehrmacht entlassen und der Gestapo Danzig bzw. ihrer Außen­stelle in Gdingen (ab 1939 Goten­hafen) zwecks Einlie­ferung ins KZ Stutthof übergeben. Dort sollten sie als „Schutz­häft­linge“ bis zur Demobil­ma­chung bleiben, denn ihre „Wehrun­wil­ligkeit“ gefährdete nach NS-Prinzipien die Mannes­zucht in ihrer Truppe und damit die deutsche Volks­ge­mein­schaft als solche. Die Lager­kan­di­daten bezeichnete man als „haltlose und gemein­schafts­un­fähige Soldaten“, „unver­bes­ser­liche Tauge­nichtse“ und „böswillige Schäd­linge“. Zirka 150 Ex-Marine-Sondersoldaten kamen in das Konzen­tra­ti­ons­lager Stutthof bei Danzig. Sie trugen als Abzeichen den roten Winkel der politi­schen Gefan­genen und wurden als SAW-Häftlinge katego­ri­siert („Sonder­ab­teilung Wehrmacht“ bzw. „Sonder­aktion Wehrmacht“).

Ein Häftlingsschicksal

Der am 12. Januar 1921 in Krefeld geborene Gerhard Scheuß wurde am 21. Juli 1943 nach Stutthof überstellt. Den Dienst in der Kriegs­marine hatte er am 1. April 1939 angetreten. „Soweit mir bekannt, auf eigenes Bestreben“, erzählt Gilbert. „Er hatte ein Faible für die schicke Uniform und das allge­meine Ansehen der ‚Blauen Jungs‘. Dies war eher naiver Natur und nicht politisch oder gar natio­na­lis­tisch motiviert. Einge­zogen wurde Gerhard zu der 6. Schiffs­stamm­ab­teilung nach Wilhelms­haven. Dort erhielt er seine Grund­aus­bildung“. In der Kriegszeit diente der junge Krefelder auf den Schlacht­schiffen „Gneisenau“ und „Tirpitz“ (wohl als Oberge­freiter, später wurde Gerhard zum Matrosen degra­diert). Waren es ein militär­ge­richt­liches Urteil oder Diszi­pli­nar­strafen, die ihn über Hela-­Wald nach Stutthof führten ?  Hatte er sich an einer Meuterei beteiligt, wie Gilberts Vater nach dem Krieg erzählte ?  Und wann wurde Gerhard nach Hela straf­ver­setzt ?  Weder in den Beständen der Abteilung PA (Perso­nen­be­zogene Auskünfte zum Ersten und Zweiten Weltkrieg) des Bundes­ar­chivs in Berlin-Reinickendorf (ehemals WASt), noch in der Abteilung MA (Militär­archiv) in Freiburg findet man Antworten auf diese Fragen. Auch im Archiv des Museums Stutthof lässt sich kein Hinweis auf die tatsäch­lichen Gründe für Gerhards KZ-Einweisung finden. Fest steht, dass er im Winter 1942 / 1943 in einem Lazarett lag, und zwar bei dem von der Wehrmacht besetzten Luga in der Oblast Leningrad in der Sowjet­union. Ende Februar 1943 wurde die im August 1942 zum Einsatz im Hinterland der Ostfront abkom­man­dierte Marine­kom­panie von der Halbinsel Hela – jetzt Marine­feld­son­der­kom­panie (MFSK) – an ihren alten Standort rückge­führt. Auch Gerhard kam nach Hela (zurück). In den kommenden Monaten musste er mehrmals diszi­pli­na­risch bestraft worden sein, denn Anfang Juli wurde er auf Antrag des Chefs der MFSK bzw. nach Entscheidung des Marine­ober­kom­mandos Nordsee in Wilhelms­haven aus der Wehrmacht entlassen und kurz darauf der Danziger Gestapo übergeben. Diese beantragte bei dem Reichs­si­cher­heits­hauptamt in Berlin Schutzhaft und Einweisung ins KZ. Nach einer sogenannten erken­nungs­dienst­lichen Behandlung, bei der u. a. ein Polizeifoto von Gerhard erstellt wurde (nicht erhalten) und dessen „Haft– , Lager‑, Transport- und Arbeits­fä­higkeit“ vom Polizeiarzt befunden wurde, kam er mit fünf anderen Ex-Matrosen in Stutthof an. In seinem nicht mehr existie­renden sog. Schutz­haft­befehl könnte gestanden haben :  „Er gefährdet nach dem Ergebnis der staats­po­li­zei­lichen Feststel­lungen durch sein Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem er Sabotage des Wehrdienstes treibt.“ Einer von Gerhards Mithäft­lingen berichtete nach dem Krieg :  „Am ersten Tag wurden uns sämtliche eigene Sachen abgenommen, die Haare kurz geschnitten und in der Mitte eine Läusebahn einra­siert. Dann gab es Zeug :  eine Hose bis an die Knie, ein kleines Jäckchen, beides Zebrazeug, ein Paar Holzpan­toffeln und ein zerfetztes Hemd. Strümpfe und Mütze waren Luxus.“ Gerhard erhielt die Häftlings­nummer 24284.

Im Archiv der KZ-Gedenkstätte Stutthof befinden sich nur wenige Dokumente, die einen Einblick in Gerhards Leben im Lager geben. Dazu gehört u. a. eine Effek­ten­karte, die seine wegge­nom­menen persön­lichen Sachen auflistet (seine Beklei­dungs­stücke wurden an die MFSK Hela abgesandt ;  die Körper­pfle­ge­ar­tikel gingen in das Eigentum des KZ über ;  der Wehrpass war ihm bereits auf Hela abgenommen worden). Außerdem gibt es noch zwei Tages­mel­dungen aus dem Häftlings­kran­kenbau vom August und November 1943. Dass Gerhard und einige seiner Marine­ka­me­raden wenige Wochen nach ihrer Einlie­ferung in die Kranken­station mussten (und noch später in kurzen Zeitab­ständen immer wieder ins Lazarett zur Behandlung kamen) kann auf ihre körper­liche Verfassung hinweisen, die auf die „Erzie­hungs­maß­nahmen“ in Hela zurück­zu­führen war, und von den Umständen zeugen, denen sie im KZ Stutthof ausge­setzt waren. „Sie wurden schika­niert, geschlagen und zu schwerer Arbeit getrieben. Viele von ihnen starben, geschwächt von Hunger und Krankheit“, berichtete ein ehema­liger Häftling über die Situation der Ex-Marine-Sondersoldaten. Straf­ex­er­zieren gehörte auch dazu. Ein überle­bender SAW-Gefangener :  „Es dauerte immer den ganzen Nachmittag. Das Exerzieren fand auf sog. Schlacke-Boden statt, was besonders schmerzhaft war, weil wir alle barfuß antreten mussten.“ Wollte man den ehema­ligen Angehö­rigen der Kriegs­marine mit einem solch hartem Drill ihre „Drücke­ber­gerei“ vergelten ?  Der Lager­kom­mandant soll zu einem SAW-Gefangenen gesagt haben :  „Bei uns bist du viel besser aufge­hoben, als wenn du weiterhin Krieg spielen würdest.“

Gerhard wurde in einem der Häftlings­blocks im Neuen Lager „aufge­hoben“, nachweislich im Block VIII. Bereits drei Tage nach seiner Ankunft wurde er dem nicht weit vom Lager entfernten Ziegelei-Kommando, einem der härtesten Arbeits­kom­mandos im gesamten Lager­komplex, als Tischler zugewiesen. Da er selbst in der Textil­in­dustrie zum Filmdru­cker­ge­sellen ausge­bildet und handwerklich tätig gewesen war, profi­tierte Gerhard zunächst von der Famili­en­tra­dition :  All seine Brüder waren Bauhand­werker und arbei­teten im väter­lichen Bauun­ter­nehmen. Dauerhaft half ihm das aller­dings nicht. Das Lager forderte einen hohen Tribut :  Gerhard starb am 28. Januar 1944. Seine Asche wurde in der Nähe des KZ verscharrt. Gilbert :  „Ende Januar 1944 haben meine Großeltern eine schrift­liche Nachricht von einem Ortsgrup­penmann überbracht bekommen. In diesem Schreiben wurde mitge­teilt, dass Gerhard im Januar 1944 an Magen­ka­tarrh verstorben und einge­äschert worden sei. Die Familie hat wohl gewusst, dass Gerhard 1943 nach Hela verbracht wurde, und so vermu­teten meine Großeltern aus irgend­einem Bauch­gefühl heraus einen politi­schen Hinter­grund beim Tod ihres Sohnes und verwei­gerten die Zahlung für die Überführung und Aushän­digung der Urne.“ So wie Gerhards Häftlings­per­so­nalakte aus dem KZ Stutthof im Zuge der Auflösung des Lagers vernichtet wurde, ging auch die Nachricht über sein Ableben in den Kriegs­wirren verloren.

Mühen der Erinnerungsarbeit

Da Gerhards Eltern die Benach­rich­tigung über dessen Tod innerlich nicht akzep­tierten und eine Urnen­über­stellung ablehnten, konnte ein Verdrän­gungs­prozess einsetzen :  Gerhard galt innerhalb der eigenen Familie über viele Jahre als „verschollen“. Erst 1960 wurde er für tot erklärt. Dies ging mit der allge­meinen Vergan­gen­heits­be­wäl­tigung der Deutschen einher. Den Verur­teilten der NS-Militärjustiz wurde das Brandmal eines Verräters aufge­drückt. Gilbert bringt es so auf den Punkt :  „Stellen Sie sich ein Land und seine Bevöl­kerung vor, welches schon zwei Kriege im 20. Jahrhundert angezettelt und auch noch mit Schande verloren hat. Was sind dann die toten, verwun­deten und trauma­ti­sierten Soldaten wert ?  Wofür sind sie gestorben, verletzt worden ?  Und dann kommt Familie Scheuß daher und kommu­ni­ziert in die Öffent­lichkeit, dass einer der Ihren ein Kriegs­ver­wei­gerer, Wehrkraft­zer­setzer, Degra­dierter, Angehö­riger eines Straf­ba­taillons und zum Schluss KZ-Häftling war ?  Sie haben sich dem entzogen. Meine Tante hat immer behauptet, Gerhard sei an der Ostfront gefallen. In gewisser Weise stimmte das ja auch und entsprach dem Mainstream der damaligen Nachkriegszeit. Nur mein Vater hat sich immer hinge­stellt und offen ausge­sprochen, was er dachte, dass Gerhard im KZ getötet worden war.“ Gilbert sagt, er habe ihn bewundert, wahrscheinlich als Rebell. Und er fügt noch hinzu :  „Ich glaube aller­dings nicht, dass der Grund der Trauma­ti­sierung der Tod seines Bruders war, sondern die Gesamt­um­stände, wozu sicherlich auch die Bewäl­tigung der in deutschem Namen verübten Gräuel­taten stand, von denen er sich, zu Recht, distan­zierte. Dass der Verlust des Bruders schmerzlich war, haben alle unter­schwellig mir gegenüber geäußert. Das gilt haupt­sächlich für meine Tante und für meinen Vater. Die anderen Onkel waren dagegen zurück­hal­tender.“ Außerdem wollte, wie Gilbert betont, keiner mehr über den Krieg nachdenken :  „Es galt, alles wieder aufzu­bauen und in Frieden zu leben.“

Mit den Recherchen zum Schicksal seines Onkels begann Gilbert 1993 nach dem Tod seines Vaters. Dieser hatte vergeblich versucht, die Famili­en­ge­schichte zu rekon­stru­ieren. Der Neffe hatte mehr Glück. Er „wollte Klarheit und eine Rehabi­li­tation erwirken“. Seine Spuren­suche passte auch gut in die Zeit der Verän­de­rungen. Die von deutschen Militär­ge­richten wegen „Fahnen­flucht“, „Kriegs­dienst­ver­wei­gerung“ oder „Wehrkraft­zer­setzung“ Verur­teilten hatten über viele Jahre hinweg kaum eine Chance gehabt, als NS-Opfer anerkannt und entschädigt zu werden. Von 1998 bis 2009 hob der Deutsche Bundestag die Unrechts­ur­teile der Wehrmacht­justiz des Zweiten Weltkrieges auf und rehabi­li­tierte damit die Opfer. 2017 schrieb Gilbert schließlich an das Museum Stutthof und nahm mit dem Autor Kontakt auf. Dadurch konnten Lücken gefüllt werden, die in vielen anderen Familien immer noch klaffen.


Der Artikel stützt sich auf das Famili­en­archiv von Gilbert Scheuß sowie auf Unter­lagen aus den Beständen des Museums Stutthof in Sztutowo, der Abteilung PA des Bundes­ar­chivs in Berlin-Reinickendorf (ehemals WASt) und des Landes­ar­chivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen in Münster. Die Hinter­grund­in­for­ma­tionen zur Marine-Sonderabteilung in Hela-Wald liefert das Buch „Endstation Hela ?  Die Sonder­ab­tei­lungen der deutschen Kriegs­marine (1936–1945)“ von Hans-Peter Klausch, Bochum [2017] (Kleine Schrif­ten­reihe zur Militär- und Marin­ege­schichte. Bd. 26).


Piotr Chruścielski, der in unserer Zeitung schon mehrmals aus seinen Forschungen über deutsche und öster­rei­chische Stutthof-Häftlinge berichtete und zuletzt in DW 12/2017 die Geschichte der in „Sippenhaft“ genom­menen Familien verfolgt hat, ist bei seinen Arbeiten auf den Fall eines Ex-Matrosen aus Krefeld gestoßen, der in Stutthof inhaf­tiert worden war und dort zu Tode kam. Dabei vermag er aufgrund neuerer Zeugnisse auch in den Fokus zu rücken, auf welche Weise die Angehö­rigen des Opfers nach dem Kriege versucht haben, dessen Schicksal in die eigene Famili­en­ge­schichte einzulesen.


MUSEUM STUTTHOF
ul. Muzealna 6, 82–110 Sztutowo
Tel.: +48 . 55 . 2 47 83 53

Die Gedenk­stätte ist täglich geöffnet:
1. Mai–30. September: 8–18 Uhr
1. Oktober–30. April: 8–15 Uhr

Weitere Infor­ma­tionen: www.stutthof.org

Der Autor Piotr Chruścielski, wissen­schaft­licher Mitar­beiter des Museums, ist unter der E‑Mail-­Adresse piotr.chruscielski [at] stutthof.org erreichbar.