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Erinnerungen an den Karneval in Preußisch Friedland

Von Udo Götze

Karneval erfährt in dieser Jahreszeit ein beson­deres öffent­liches Interesse. Daran haben die Fernseh-übertragungen von farben­frohen Sitzungen und von den Umzügen am Rosen­montag wesent­lichen Anteil.

Vor bald 80 Jahren wurde vom Rosen­montag des Jahres 1938, am 1. März, der bei uns schon tradi­tio­nelle Karneval aus der alten westpreußisch-pommerschen Grenz­feste Preußisch Friedland zum letzten Male über Radio im Deutsch­land­sender übertragen. Zu hören war dort die Ansprache des Bürger­meisters Hermann Götze, der dem Prinzen Karneval Gerhard I. (Forst­meister Gerhard Fischer) auf dem Empfang vor dem Rathaus am Markt die Schlüssel der Stadt für die drei Tollen Tage überreichte, als Zeichen des Ruhens der öffent­lichen Verwaltung und der beruf­lichen Tätigkeit in dieser Zeit.

Der Bürger­meister begrüßte das Prinzenpaar mit den Worten:

Hochedler Herr, erlauchter Gebieter,
es grüßt Euch dieser Narren­stadt Hüter
und verleihet Euch nach der Väter Sitte
den Schlüssel zur Stadt in des Volkes Mitte,
der Euch die Herzen der Menschen erschließt,
darin Euer Gnaden heut König ist. –

[…]

Es lebe, ich ruf es, stimmt ein mit Schall,
Seine fürst­liche Hoheit Prinz Karneval !

Sr. Tollität Prinz Gerhards I. Ansprache begann mit den Worten:

Dich Fried­lands hochehr­samen Bürger­meister !
Dich Elferrat der erlauchten Geister !
Euch tollen Narren allesamt ohne Zahl
grüßt heute in Hulden Prinz Karneval.
Er will wie immer an Faschings­tagen
auch heut’ der Narren­stadt Szepter tragen.
Will herrschen nach Brauch und alter Sitte
als Haupt der Narren in Eurer Mitte.
So sei’s denn zuerst gesagt und verkündet :
Wer heute sich nicht der Narrheit verbündet
und tollt und jubelt und küsst und lacht,
sei vor das Narren­ge­richt gebracht.

Die Freude an ausschwei­fender Narrenrede ebenso wie die freund­liche Geduld des Bürger­meisters müssen stark ausge­prägt gewesen sein, denn erst nach 39 weiteren Paarreimen fand die Ansprache des Prinzen ihren Abschluss :

Doch komme, was immer kommen mag.
Heut’ jubelt, denn heute ist Karne­valstag !
Und nur einmal im Jahre ist Fastel­nacht,
nur einmal in Preußisch Friedland die Liebe lacht.
Nur einmal gesungen, getrunken, geliebt.
Nur einmal in Friedland es Fastnacht gibt.

Für diesen im Osten Deutsch­lands meines Wissens einma­ligen volks­tüm­lichen Brauch karne­va­lis­ti­schen Treibens war die Stadt festlich geschmückt. Die Prunk­wagen des großen Festumzugs, die am Rosen­montag durch die alte Ordens­stadt fuhren, wurden vorwiegend von Pferden, aber auch von Treckern gezogen und orien­tierten sich an einem jährlich wechselnden, für die Stadt bezie­hungs­reichen Motto. Sie lauteten 1934: »Wenn Friedland eine Eisenbahn hätte« ;  1935: »Nacht muss sein, wenn Fried­lands Sterne leuchten« ;  1936:  »Friedland – ahoi – eine Seestadt« ;  1937:  »Friedland als Märchen­stadt« und 1938:  »Es spukt in allen Gassen«.

Seit 1936 erschien eigens jeweils eine dem Motto entspre­chende Karne­vals­zeitung. Auf den Straßen, in allen Hotels, Gaststätten und sonstigen Veranstaltungs-räumlichkeiten, z. B. im Schüt­zenhaus, und in den Familien zu Hause war die Bevöl­kerung – mit und ohne Kostü­mierung – einschließlich der zahlreichen Gäste unterwegs und feierte bis zum Kehraus am Ascher­mittwoch. Von der geradezu überre­gio­nalen Bedeutung mag sprechen, dass zum großen Umzug 1938 bereits etwa 5.000 auswärtige Gäste gezählt wurden – und das bei knapp 4.000 Einwohnern. Außerdem konnte der Fried­länder Karneval andeu­tungs­weise mit empfangen werden, wohin der Deutsch­land­sender reichte, der ihn in Repor­tagen seit 1935 regel­mäßig übertrug. So hieß es in Friedland, überall in Deutschland hört man den Fried­länder Karneval im Radio, nur in Friedland nicht, dort erlebt man ihn. Eigens kompo­nierte eingängige Karne­vals­lieder sowie die launig verfassten Karne­vals­zei­tungen trugen zur Stimmung bei.

Einge­bunden war der Karneval meist in eine der Jahreszeit entspre­chende, bei uns im Osten meist winter­liche weiße Landschaft. An den zur damaligen Zeit aufwen­digen Kostü­mie­rungen, Ausschmü­ckungen der Festwagen und Umzüge nahm fast die gesamte Bevöl­kerung teil. Klein­bür­ger­liches Leben, vorwiegend protes­tan­tisch geprägt, charak­te­ri­sierte die Stadt an sich mit Acker­bürgern, Bauern, Gewer­be­trei­benden verschie­den­ar­tiger Genres, Geschäfts­leuten und Verwal­tungs­mit­ar­beitern. Als Mitbürger willkommen und integriert waren die Lehrer und Schüler der Höheren Lehran­stalten, des Humanis­ti­schen Gymna­siums und der Aufbau­schule für Mädchen, die aus einem relativ großen Einzugs­gebiet kamen.

Besondere Bedeutung für die Karne­vals­umzüge hatten die Acker­bürger und Landwirte, weil sie Wagen und Gespanne mit Pferden und auch Trecker, die Voraus­setzung für den Umzug der präch­tigen Gefährte am Rosen­montag, bereit­stellten. In diesem Zusam­menhang sorgten die Zimmer‑, Tischler- und Schloss­erbe­triebe schon lange im Voraus für die Aufbauten der Festwagen und wettei­ferten dabei sogar mitein­ander. Die Ausmalung besorgte das Maler­ge­werbe nach Vorlagen, die im künst­le­ri­schen Bereich der Schulen entworfen wurden und die dem jewei­ligen Karne­vals­motto entsprachen. So schreibt ein ehema­liger Konpennäler :

Im Zeichensaal der Penne taten die Zeichen­lehrer und ein Stab begabter Pennäler ihr Bestes, schufen Entwürfe und kühne Dekora­tionen für die Festwagen und die Veran­stal­tungssäle, malten Plakate und entwarfen besonders auch die Karne­vals­zei­tungen. Die Mädchen vor allem schnei­derten Kostüme.

Die Jugend hatte von Anfang an großen Anteil an der Vorbe­reitung und Durch­führung des Karnevals. Von ihr wurde gemalt, gedichtet und musiziert, vor allem aber – mitge­macht. Von den Höheren Lehran­stalten insbe­sondere gingen vielfältige geistige Impulse aus. Die Schüler als Kenner klassi­scher Verskunst legten in wohlge­formten Penta­metern und Hexametern reichlich Zeugnis ihres Wissens und Könnens ab. Nach dem karne­va­lis­ti­schen Grundsatz :  persi­flieren, parodieren und karikieren, stellten sie Ereig­nisse der Stadt und ihrer Bürger in reifen Versen dar und bildeten Vorlagen für Ansprachen und Bütten­reden, in denen die allge­meinen politi­schen, kommu­nalen wie lokalen Ereig­nisse, die Erfolge und auch Pannen und Sorgen sowie die Befind­lich­keiten der Menschen und Verant­wor­tungs­träger aufs Korn genommen wurden. Dies lässt sich teilweise auch in den Karne­vals­zei­tungen noch nachverfolgen.

Als Beispiel für die Lieder und Gedichte voller Lebens­freude und Heimat­liebe mit Selbst­ironie und Humor mag die letzte Strophe eines Trink­liedes dienen. Es wurde 1936 von einem Primaner geschrieben (der sich offenbar durch die Lektüre des Faust zur Verwendung von Goethes Knittelvers hat inspi­rieren lassen) :

Doch wenn’s von Narren­geis­ter­massen
In Friedland spukt in allen Gassen,
wenn durch die Lüfte Elfen schweben
und alte Geister wieder leben,
wenn alle Erden­schwere schwindet,
wenn Narr und Geist sich froh verbindet,
dann ruf ich laut :  Hinein !  Hinein !
Heut will ich unmenschlich lustig sein !
Drum reicht mir Wein, nur immer Wein !
Der Weingeist, der soll mein Geist sein !

Nimmt man den Inhalt wörtlich, so kann man die Aussage eines Narren verstehen, der den Karneval offenbar voll genossen hat, wenn er schreibt :  »Wer am 4. Tag, dem Ascher­mittwoch, wieder arbeiten musste, der war ein bedau­erns­wertes Geschöpf, fast ein Märtyrer der Lebensfreude.«

Prof. (em.) Dr. med. vet. Udo Götze, Berlin, lebte bis zu seiner Flucht 1945 in Preußisch Friedland / Kr. Schlochau. Er besuchte in den letzten Jahrzehnten wiederholt seine westpreußisch-pommersche Heimat und berichtet aus eigenem Erleben in Vorträgen und Veröffentlichungen über diese Region sowie andere nordost- und ostmitteleuropäische Städte und Staaten.


Der Karneval ist in der Kulturgeschichte Westpreußens – vorsichtig ausgedrückt – kein herausragendes, sonderlich auffälliges Phänomen. Selbstverständlicher Weise gehören Fastnacht, Karneval und Fasching, insbesondere in katholischen Regionen, zu den seit Jahrhunderten gepflegten Bräuchen. Davon zeugt beispielsweise das Fastellauwends-Led, das wir bei der Beschäftigung mit August Semrau (DW 9/2016) in seinen Plattdeutschen Gedichten entdeckt haben und hier neuerlich abdrucken. Zudem belegen mannigfache persönliche Berichte oder auch Geschäftsanzeigen für »Karnevalsbedarf«, dass in Familien und privaten Kreisen auch nach dem Muster des Rheinischen Karnevals gerne und ausgelassen gefeiert wurde. Selbst von Umzügen z. B. in Zoppot liegen Berichte vor ;  dafür spricht ebenfalls, dass Zoppot als einzige ostdeutsche Stadt am I. Internationalen Karneval-Kongress teilgenommen hat, der vom 14. bis zum 17. Januar 1937 in München stattfand.

Aus diesem wenig profilierten Feld sticht allerdings eine Stadt hervor, deren Feste und Umzüge in den 1930er Jahren dort regelrecht eine »fünfte Jahreszeit« gebildet haben und sogar überregional als der »Karneval des Ostens« an sich wahrgenommen worden sind :  Preußisch Friedland im Landkreis Schlochau (aus dem übrigens auch August Semrau stammt). Aus diesem Grunde haben wir Herrn Prof. Dr. Götze, der den Friedländer Karneval noch persönlich kennengelernt hat, gebeten, der Leserschaft des Westpreußen seine Erinnerungen mitzuteilen und uns auch einen kleinen Einblick in sein umfangreiches Archiv zu gewähren.

Die DW-Redaktion

EIN PROMINENTER ALS TEXTER UND KOMPONIST DES PREUSSISCH FRIEDLÄNDER KARNEVALS:

Loblied auf meine Heimat­stadt Pr. Friedland
Otto Dobrindt, Deutschlandsender

Preußisch Friedland am Dobrin­kastrand,
Du Perle, traut, im Preußenland !
Wie lieb’ ich Dich, Du Feine,
Mein Herz schlägt nur alleine
Für Dich,
Nur für Dich.
Preußisch Friedland im Grenz­markland,
Wer je bei Dir zu Gast sich fand,
In Deinen alten Mauern
Verging ihm Sorg’ und Trauern,
Und froh
Ward er, froh !

[…]

Drum wollen stets wir lustig sein,
Liegt unsere Stadt auch nicht am Rhein,
Daß immerdar treu bliebe
Preußisch Friedland uns’re Liebe,
Nur sie,
Sie allein !

Otto Dobrindt, geboren am 24. August in Henkendorf (Gemeinde Märkisch Friedland) in Westpreußen, war ein in seiner Zeit berühmter Orchesterleiter und Filmkomponist. Das Orchester Otto Dobrindt begleitete z. B. viele Ufa-Stars wie Lilian Harvey oder Hans Albers bei Platteneinspielungen, und 1935 übernahm Dobrindt die Leitung des Unterhaltungsorchesters beim Deutschlandsender. Nach dem Kriege arbeitet er weiterhin als Orchesterleiter, und zwar in Ost-Berlin. Da er im Westteil der Stadt lebte, gab er diese Tätigkeiten nach dem Mauerbau 1961 auf. Er starb im September 1963.

KARNEVAL – UND ANTISEMITISMUS:

»Heil Hitler und Alaaf !  Karneval in der NS-Zeit« – unter diesem Titel haben Anfang 2008 der Kölner Journalist und Autor Carl Dietmar sowie sein WDR-Kollege Thomas Förster erstmals im Fernsehen gezeigt, welchen nachdrück­lichen Einfluss die Natio­nal­so­zia­listen seit 1933 auf den Kölner Karneval genommen haben. Die zuneh­mende ideolo­gische Vorherr­schaft und Kontrolle führten dazu, dass auch der völkische Antise­mi­tismus immer schonungs­loser an die Oberfläche trat, und wie weit die zynische Verhöhnung der jüdischen Mitbürger selbst bei Rosen­mon­tags­um­zügen ging, wurde auf beklem­mende Weise durch Bilddo­ku­mente belegt. Das Ausmaß dieser scheinbar »normalen« Verächt­lichkeit und Bruta­lität löste damals bei allen, die das Bild der »unschul­digen«, nur heiter-unbefangenen Feier-Kultur des Rheini­schen Karnevals aufrecht­erhalten hatten, einen regel­rechten Schock aus.

Unter dieser Voraus­setzung nimmt es nicht wunder, dass auch in den Preußisch Fried­länder Karne­vals­zei­tungen vergleichbare Tendenzen auftauchen, wobei sie aber anscheinend nur von einem Autor (R. Reichau mit Namen) vertreten werden. – 1936 wird ein umfang­reiches Gedicht veröf­fentlich, durch dessen Titel, Meister Reichau’s Träume, sich der Autor gerne in die Tradition des Meister­sangs einschreiben möchte. Gegen Ende der insgesamt 23 Strophen, eher unauf­fällig eingefügt, werden den »Kindern Israel« die folgenden Ratschläge erteilt :

19. Zum Karneval das erste Schiff
hier aus dem Hafen läuft.
Habt keine Angst, hier ist kein Riff,
und keiner hier versäuft!

20. Auch Ihr, Ihr Kinder Israel
habt jetzt Gelegenheit ;
wir rufen Euch mit lauter Kehl’  :
Verpaßt nicht diese Zeit !

21. Das erste Schiff fährt gratis Euch
bis an den Jordan­strand,
so kommt Ihr alle arm und reich,
in das gelobte Land.

22. Und nun, Matrosen, ran an Bord,
die Segel aufgehißt,
die Leinen los, die Taue fort,
ein jeder Griff, der sitzt !

Welche »Norma­lität« solchen Äußerungen zugekommen sind, lässt sich aus solchen Einzel­bei­spielen nicht erschließen. Sie geben aber doch einen deutlichen Hinweis darauf, dass der Antise­mi­tismus Teil des allge­meinen Diskurses gewesen ist und somit in gewisser Weise »von selbst verständlich« war. – R. Reiche gibt ein Jahr später eine weitere Probe seiner ideolo­gisch übersät­tigten Texte :

Der Kaufmann war ja von jeher
als Wucherer verschrien.
und nahm er mal ä bisje mehr,
so wurd’ ihm das verzieh’n.
Es kauft sich gut bei Itzig Cohn,
bei Ephraim und Mendelsohn ;
doch heut’ ist’s hiermit nun vorbei,
d’rum in der Welt dies groß’ Geschrei.
Der Kaufmann-Stand kommt wieder hoch
und singt vergnügt :  Wir leben noch !

Hier, im Jahre 1937, ist der Ton nochmals aggres­siver geworden, und auf den noch vermeintlich »heiteren«, »launigen« Traum des Meisters folgt jetzt ein kämpfe­ri­scher Text (»Hoha – wir leben noch!«), der von einer völki­schen Wagenburg-Mentalität zeugt und darauf dringt, dass die deutschen Inter­essen gegen alle Wider­stände von außen rigoros durch­ge­setzt werden :

 „Das Ausland schmäht das Deutsche Reich,
man hört es überall,

[…]

Dies ist der russi­schen Juden Wunsch, jedoch
Hoha, in Friedland leben wir noch.“