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»Einer der fundiertesten Analytiker des Nazismus«

Zum 130. Geburtstag von Senatspräsident a.D. Hermann Rauschning

Personengedenktage geben einen willkommenen Anlass, an die historischen Verdienste zu erinnern, denen ein Jubilar seine Stellung im kollektiven Gedächtnis verdankt. Zugleich ermuntern sie aber auch dazu, Aspekte seiner Biografie in Erinnerung zu rufen, die im populären Diskurs nur nachrangig Berücksichtigung finden. Beiden Dimensionen möchte der folgende Beitrag nachgehen, der sich aus Anlass des 130. Geburtstags dem am 7. August 1887 in Thorn geborenen Hermann Rauschning widmet :  Das dominierende Bild vom ersten NSDAP-Senatspräsidenten der Freien Stadt Danzig und späteren Hitler-Gegner bliebe unvollständig, wenn nicht auch die Jahre von 1945 bis zu seinem Tod am 8. Februar 1982 in Portland (Oregon, USA) Beachtung fänden, denn hier begegnet uns Rauschning sowohl als vielbeachteter Zeitzeuge wie als politischer Denker, der sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik nachdrücklich am öffentlichen Diskurs über die Deutschland-Politik beteiligte.

Von Thorn nach Portland – ein verschlungener Lebensweg 

Der Weg, den Hermann Rauschning nach seinen Jugend-jahren in Thorn mit einem Studium der Musik­wis­sen­schaft in München und Berlin einschlug, ließ eine spätere politische Karriere noch nicht erahnen. Zumindest jedoch offen­barte bereits seine Disser­tation über die Geschichte der Musik und Musik­pflege in Danzig (1911), dass Rauschning in seinem Denken natio­nalen Paradigmen durchaus verpflichtet war – so dass seine überar­beitete Abhandlung bei ihrer Druck­legung im Jahre 1931 dann, den Tendenzen der Zeit entspre­chend, dezidiert die Zugehö­rigkeit Danzigs allein zur deutschen Kultur propa­gieren konnte.

Sein Eintreten für nationale Inter­essen – zunächst einmal für dieje­nigen der Deutschen als natio­naler Minderheit im Polen der Zwischen­kriegszeit – prägte sich bei seiner ersten beruf­lichen Tätigkeit als Leiter der Deutschen Bücherei in Posen ab 1920 sodann schon deutlicher aus. Sein nach der Übersiedlung in die Freie Stadt Danzig erschie­nenes Buch Die Entdeut­schung Westpreußens und Posens. Zehn Jahre polni­scher Politik (1930) hat bis heute wesent­lichen Einfluss auf das gängige Bild über die Lage der Deutschen im Korridorgebiet.

In den Jahren 1931 bis 1934 sollte Rauschning eine wechsel­hafte Rolle in der Freien Stadt spielen :  Nachdem er 1931 der NSDAP beigetreten war, brachte ihn 1933 eine Koalition mit dem katho­li­schen Zentrum in das Amt des Danziger Senats­prä­si­denten. Schon bald offen­barten sich jedoch wesent­liche weltan­schau­liche Diffe­renzen zur Mehrheit der Danziger Natio­nal­so­zia­listen, an deren Spitze Gauleiter Albert Forster stand. Diese Spannungen hat Marcus Pyka (Zürich 2005) auf den Punkt gebracht :  Während „etwa Gauleiter Forster in erster Linie Natio­nal­so­zialist und somit ganz und gar auf Hitler fixiert war, hatte der stell­ver­tre­tende Gauleiter Rauschning durchaus seinen eigenen Kopf. Dieser zeigte sich etwa bei der Frage der Wirtschafts­po­litik […]. Daneben betrachtete Rauschning einen Ausgleich mit Polen als ein politi­sches Ziel von eigenem Wert, und auch mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Rassen­ideo­logie konnte er wohl nur bedingt etwas anfangen.“

Am Ende dieser Ausein­an­der­set­zungen verließ Rauschning 1934 Amt und Partei und schlug sich auf die Seite der Opposition ;  1934 emigrierte er schließlich nach Polen und ab 1938 mit Zwischen­sta­tionen in der Schweiz und Frank­reich in die USA. In diesen Jahren erreichte sein publi­zis­ti­sches Wirken einen ersten Höhepunkt :  Den größten – und bis heute anhal­tenden – Bekannt­heitsgrad erreichten die 1940 veröf­fent­lichten Gespräche mit Hitler ;  mindestens ebenso bedeutend war jedoch sein Entwurf einer konser­va­tiven Faschismus­theorie in seiner Monographie Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, die besonders bemer­kenswert ist, da diese funda­mentale Kritik bereits 1938 – also deutlich vor den Gräueln des Zweiten Weltkriegs – formu­liert wurde.

Natio­nal­so­zia­lismus und Weltkrieg hatten dazu geführt, dass Rauschning seinen neuen Lebens­mit­tel­punkt in den 1940er Jahren im US-Bundesstaat Oregon gefunden hatte, wo er sich 1948 als Farmer niederließ. Als Vortrags­rei­sender und Publizist sollte er jedoch weiterhin in der jungen Bundes­re­publik – insbe­sondere in den 1950er Jahren – präsent bleiben.

Der politische Denker

Es verwundert nicht, dass sich der ehemalige Danziger Senats­prä­sident in den Nachkriegs­jahren gerade auch zu Fragen der Vertrie­be­nen­po­litik äußerte. So veröf­fent­lichte das Mittei­lungs­blatt der Lands­mann­schaft Ostpreußen (Wir Ostpreußen 3 / 1950) seinen Artikel „Danzig im gesamt­deut­schen Schicksal“. Hier wandte er sich gegen politische Strömungen, die versuchten, aus der Geschichte und völker­recht­lichen Stellung Danzigs einen vertrie­be­nen­po­li­ti­schen Sonderweg der Danziger jenseits der Gesamtheit der deutschen Vertrie­benen zu entwi­ckeln :  Er forderte, „daß sich die Ostdeut­schen als Ganzes der Würde und Aufgabe als einer […] Gruppe bewußt werden und Einfluß auf die Gestaltung der Gesamt­po­litik Deutsch­lands und Europas zu gewinnen versuchen“.

Unter dem leitenden Motiv des Einsatzes für ein wieder­ver­ei­nigtes und unabhän­giges Deutschland befasste er sich freilich nicht nur mit der deutschen Perspektive, sondern berück­sich­tigte auch stets die Entwick­lungen in der inter­na­tio­nalen Politik. So beobachtete er  im Ostpreu­ßen­blatt (Nr. 11 / 1953) etwa die Aktivi­täten der erst wenige Monate im Amt befind­lichen Regierung Eisen­hower und stellte fest :  „Außerhalb der Verei­nigten Staaten macht sich wohltuend geltend, daß eine Hand die Zügel hält, die weiß, wohin sie fahren will.“

Die Prove­nienz der oben zitierten Artikel darf aller­dings nicht den Blick auf die Breite von Rausch­nings publi­zis­ti­schem Schaffen verstellen. Neben weiteren Artikeln und Monogra­phien wie Die deutsche Einheit und der Weltfriede (1955) betei­ligte sich Rauschning als Autor – und überdies sogar als Mitbe­gründer – an den Blättern für deutsche und inter­na­tionale Politik. Diese sind bis heute eine der angese­hensten Fachzeit­schriften im Umfeld der Politikwissenschaft.

Der Zeitzeuge und Faschismustheoretiker

Ebenso wie der politische Denker war auch der Zeitzeuge und Faschis­mus­theo­re­tiker Rauschning in die öffent­lichen Diskurse der Zeit invol­viert. Dies verdeut­licht eine Reihe von Beiträgen, die über mehrere Jahrzehnte hinweg im Spiegel erschienen sind.

Von beson­derer Bedeutung ist ein Artikel vom 18. November 1959 aus einer Serie, die entgegen der öffent­lichen Mehrheits­meinung für eine Allein­tä­ter­schaft des Kommu­nisten van der Lubbe beim Reichs­tags­brand eintrat. Rausch­nings „Gespräche“ galten zu dieser Zeit noch als ein wesent­licher Beleg für die Täter­schaft der Natio­nal­so­zia­listen, wollte Rauschning doch ein entspre­chendes Einge­ständnis persönlich von Göring vernommen haben. Im Vorfeld der Veröf­fent­li­chung hatte der Spiegel mit Rauschning korre­spon­diert, der nun zurück­ru­derte und lediglich noch Bruch­stücke eines Gespräches von Göring mitgehört haben wollte. Das Magazin kam zu dem Schluss :  Angesichts dieser Einschränkung müsse Rauschning „auch zumindest die Möglichkeit zugeben […], daß er die Worte Görings mißver­standen hat. Als histo­rische Quelle kann sein Bericht jeden­falls nicht gelten“.

Zwar veröf­fent­lichte der Spiegel am 23. Dezember eine ganzseitige Reaktion auf die Kritik Rausch­nings, der Geltungs­an­spruch der „Gespräche“ hatte jedoch erste Risse bekommen. Obwohl sich die Bedenken bereits während der 1960er Jahre noch mehrten, sollte eine fundierte Dekon­struktion von Rausch­nings „kreativer“ Geschichts­schreibung erst in den 1980er Jahren erfolgen. Immerhin zitierte der Spiegel noch 1980 in einer Artikel­serie über die „kurzlebige Selbstän­digkeit des polni­schen Staates von 1918 bis 1946“ Rauschning als verläss­lichen Zeitzeugen.

Auch wenn die immer stärker anwach­senden Zweifel an der Authen­ti­zität letztlich zur Gewissheit über den Fälschungs­cha­rakter der „Gespräche“ wurden, blieb Rauschning in den Nachkriegs­jahr­zehnten ein wichtiger Referenz­punkt für das Nachdenken über die Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus. Dieser Nimbus scheint sich weniger der Korrektheit und Zuver­läs­sigkeit von Tatsa­chen­be­richten als vielmehr dem Verdienst zu verdanken, bereits frühzeitig und hellsichtig das Wesen der NS-Ideologie durch­drungen und als Chronist der NS-Zeit wesent­liche Entwick­lungs­linien nachge­zeichnet zu haben. So schloss Joachim Fest seinen zum 80. Geburtstag Hitlers verfassten Artikel (Der Spiegel, 17 / 1969), in dem er sich gegen die Bagatel­li­sierung des Diktators als „Verkehrs­unfall der deutschen Geschichte“ wandte, mit dezidiertem Verweis auf Rauschning :  dieser, „der ihm eine Zeitlang selbst erlegen ist, hat ihn 1938 eine ‚universale Beunru­higung‘ genannt. Die Gegenwart ist hinter dieser Einsicht noch zurück.“

Die bleibende Bedeutung des Schaffens des Danziger Senats­prä­si­denten brachte gerade einer der Mitbe­gründer der Danziger Solidarność-Gewerkschaft, der Publizist Adam Michnik, in einem Spiegel-Beitrag des Jahres 1994 (Nr. 2) auf den Punkt :  „Hermann Rauschning, einer der fundier­testen Analy­tiker des Nazismus, prägte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs den Begriff der ‚Revolution des Nihilismus‘. Nihilisten waren für ihn gleicher­maßen Hitler und Stalin, die Nazis und die Bolsche­wiken. Sie verbanden die Faszi­nation des primi­tiven Denkens und die Überzeugung von der endgül­tigen Krise der Demokratie.“

Tilman Asmus Fischer