Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

Doch wird ihn jeder lesen? – Im Krebsgang von Günter Grass als Lektüre in einer Abitur-Klasse

Von Annegret Schröder

Die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass hat bei ihrem Erscheinen 2002 erhebliches Aufsehen erregt, weil hier ein namhafter und politisch keineswegs dem »rechten« Spektrum zuzurechnender Autor sich mit der Thematik der Massenflucht am Ende des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt und sich zudem auf die Problematik einlässt, dass auch Deutsche als unschuldige Kriegsopfer zu betrachten seien. Das Interesse an solch einem Buch bedarf freilich immer neuer Impulse. Selbst ein Nobelpreisträger wie Günter Grass ist nicht vor der Gefahr gefeit, die Lessing in Bezug auf einen höchst berühmten Dichter seiner Zeit präzise formuliert hat: »Wer wird nicht einen Klopstock loben. Doch wird ihn jeder lesen? Nein.« Unter dieser Voraussetzung erschien es äußerst spannend, die heutige Vermittlung »großer« Literatur sowie der von Grass aktua­lisierten historischen Vorgänge gemeinsam mit einer Abitur-Klasse wie in einem Modellversuch zu überprüfen.

Als »Eine Novelle« wird Im Krebsgang vom Autor Günter Grass angekündigt, und der durch Johann Peter Ecker­mann überlie­ferten Äußerung Goethes, eine Novelle sei eine »sich ereignete, unerhörte Begebenheit«, folgend, kann das im Mittel­punkt des Textes stehende Ereignis – der Untergang des Flücht­lings­schiffs Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 in der Ostsee – zweifellos als »außer­ordentlich«, »einzig­artig« und »unerhört« charak­te­ri­siert werden. Die realen Gescheh­nisse erweisen sich dabei in doppeltem Sinne als »unerhört«, sind sie doch nach Ansicht des Erzählers bislang nicht ausrei­chend zu Gehör gebracht worden.

Dass aktuell, mehr als siebzig Jahre nach der Schiffs­katastrophe am Ende des Zweiten Weltkriegs, Gesell­schaft und Politik erneut heraus­ge­fordert sind, sich mit Flücht­lings­elend und Vertreibung ausein­ander zu setzen, ist ein Ansatz­punkt für die Behandlung des Krebsgang im schuli­schen Kontext. Die Novelle steht zugleich exempla­risch für die litera­rische Diskussion großer Mensch­heits­themen wie der Frage von Leid und Gerech­tigkeit und des Sinns der Geschichte, aber auch nach kultu­rellem Erbe und natio­naler Selbst­ver­ge­wis­serung. Nicht zuletzt stellen künst­le­rische Substanz und Spezifik ein Kriterium für die Auswahl dieses in vielfacher Hinsicht anspruchs­vollen Textes dar.

Didaktische Hinwege

Eine dreischrittige Erarbeitung – Kennen­lernen der histo­ri­schen Proble­matik anhand verschie­dener Bild- und Textma­te­rialien, Analyse und Reflexion von Erzähl­struktur und ‑strategie, Blick auf den Autor Günter Grass und seine aufklä­re­rische Intention – korre­spon­diert dabei mit den curri­cu­laren Vorgaben entspre­chenden Kompetenz­erwerbs, wobei als ein Schwer­punkt Fragen an Autor und Text gestellt werden sollen. Nicht eine »fertige« Inter­pretation ist das Ziel solcher textlicher wie sachlicher Erschließung, vielmehr sollen damit Versuche unter­nommen werden, das Gelesene in größere Zusammen­hänge einzu­ordnen, Perspek­tiv­wechsel zu wagen und unter Einbe­ziehung erzähl­tech­ni­scher und biogra­fi­scher Charak­te­ristika Anregungen für die eigene Persönlichkeits­entwicklung erfahren zu können.

Mit dem komplexen Neben­ein­ander von Infor­ma­tionen und Daten, von Motiven, Perspek­tiven, persön­lichen Schick­salen, mit seinen Brechungen und Spiege­lungen, darstellend und appel­lativ, erscheint der vielschichtige Krebsgang-Text in beson­derer Weise geeignet, Leser zu konfron­tieren, gleichwohl erschweren es gerade die von Grass gewählte Erzähl­weise und die metanar­rative Ordnung, die darge­stellten Ereig­nisse in einen kausalen Zusam­menhang zu bringen und so einen unmit­tel­baren Zugang zu finden.

Darum war es bei der Erarbeitung im Deutsch­un­ter­richt unerlässlich, mit eigenen Leitfragen, reduziert auf zwei zentrale Elemente, den Studie­renden Hilfe­stellung zu geben: 1. Auf welche Weise wird in der Novelle Im Krebsgang histo­ri­scher Stoff verar­beitet? 2. Worin besteht die aktuelle Relevanz, die überzeit­liche Intention des Textes? Parallel wurde die – doppelte, histo­rische wie fiktive – Chrono­logie der Ereig­nisse als Anker­punkt gewählt, zu welchem im Laufe der Erarbeitung immer wieder zurück­ge­kehrt werden kann.

Auf schwankem Boden

Die Unter­richts­einheit, welche im Herbst 2015 mit angehenden Abitu­ri­enten durch­ge­führt wurde, begann mit einer Überra­schung: Litera­risch sozia­li­siert mit Werken wie Die Blech­trommel, Der Butt, Das Treffen in Telgte bis zu Mein Jahrhundert und das mediale Echo zum Tod des Nobel­preis­trägers wenige Monate zuvor noch in Erinnerung, war ich nicht darauf vorbe­reitet, dass der Autor Günter Grass und seine Bücher den jungen Lesern vollkommen fremd waren. Natio­nal­so­zia­lismus und Zweiter Weltkrieg waren ausführlich im Geschichts­unterricht behandelt worden (mit der bekannten Dominanz des Holocaust), doch blieben wichtige Vorgänge der letzten Kriegs­monate sowie die geschicht­lichen Entwick­lungen nach dem 8. Mai 1945 weitest­gehend ausge­blendet. Weder über Flucht und Vertreibung sowie den folgenden Neuanfang – in West- und Mittel­deutschland – noch über Geschichte und Kultur der deutschen Ostge­biete waren mehr als nur rudimentäre Kennt­nisse vorhanden. Dieser Sachstand führte zu der spontanen Entscheidung, vor der eigent­lichen Arbeit am Text einen »Crash-Kurs« einzu­schieben, um die größten Lücken – histo­ri­scher, politi­scher und litera­ri­scher Art – wenigstens in Ansätzen zu schließen. So gelang es zudem, die Person Günter Grass, ihre Biografie und ihre Heimat­stadt Danzig in den Blick zu nehmen. Schon wegen der zur Verfügung stehenden Zeit war jedoch eine Begrenzung notwendig. Auch wenn die spezi­fische Sprach­re­gelung und Geschichts­deutung der DDR im Buch eine nicht unwesent­liche Rolle spielen, konnte dieses »Unter­thema« nur gestreift werden.

Nachvollziehen und Verstehen zentraler Strukturmomente

Mit den beschrie­benen Eingren­zungen gelang es, den Fokus der eigent­lichen Textarbeit auf das »unerhörte« Ereignis zu legen – und die Orien­tierung an den Leitfragen als eine Art roten Faden beizu­be­halten. Grass überträgt den Erzähl­auftrag einem – fiktiven – Ich-Erzähler, der exempla­risch die Ausein­an­der­setzung mit der Vergan­genheit durchlebt und durch­leidet und, über den Text hinaus­weisend, eine sowohl berichtend-erzählende als auch reflek­tie­rende und kommen­tie­rende Rolle einnimmt. Ausge­stattet mit dem Geburts­datum 30. Januar 1945, dem Tag des Unter­gangs der Gustloff, wird dieser Ich-Erzähler zum selber Betrof­fenen, der sich mit penibler Recherche um umfas­sende und angemessene Geschichts­schreibung bemüht, während er den Versuch unter­nimmt, zugleich Distanz zu halten, sich nicht verein­nahmen zu lassen von den Lebens- und Flucht­er­fah­rungen der Mutter wie von der ideolo­gisch verblen­deten Geschichts­ver­ses­senheit des eigenen Sohnes.

Dieses Motiv der »Verkürzung« mit zuneh­mender zeitlicher Distanz zu den geschicht­lichen Ereig­nissen durch­zieht den gesamten Text, markiert aus der Sicht von Günter Grass eine Art der Überführung von Primär­erfahrungen der Zeitzeu­gen­ge­ne­ration in eine medial geprägte, ganz ­eigene Form der Erinne­rungs­kultur und »Würdigung« der Katas­trophe, angesichts derer er vor dem Wieder­auf­leben faschis­ti­schen Gedan­kenguts, verein­fa­chender Sicht­weise und Geschichts­klit­terung warnt. Dabei wird dieses Spannungs­ver­hältnis vom Autor selber jedoch letztlich nicht aufgelöst. Aus den Reaktionen der jugend­lichen Leser und der Notwen­digkeit, sie angesichts des ohnehin sehr anspruchs­vollen Textes nicht zu überfordern, ergab es sich, dass der Themen­kreis Rechts­ra­di­ka­lismus und Neona­zismus nicht vorrangig unter­sucht wurde. (Auch dies eine Überra­schung – doch hätte es den Rahmen des Deutsch­unterrichts bei weitem gesprengt, diese Thematik vollständig aufzu­ar­beiten, so dass wir uns darauf beschränkten, nur auf der textlichen Ebene, also vor allem mittels der Haltung des Protago­nisten aus der Enkel­ge­neration, die Proble­matik von deutscher Erinne­rungs­kultur in ihrer extremen rechts­ori­en­tierten Ausrichtung zu analy­sieren und zu reflektieren.)

Mit dem Ich-Erzähler Paul Pokriefke und seinem »Warum erst jetzt?« begegnete uns der doppelte Anspruch Grass‹, einer­seits die Erinne­rungen der Zeitzeu­gen­ge­ne­ration zu verschrift­lichen (wobei dieses indivi­duelle Erinnern stets rückge­bunden an kollek­tives Erinnern, in welcher Form auch immer, zu verstehen ist) und damit zu bewahren, anderer­seits das Dilemma einer Generation zu problema­tisieren, die sich von der Zeit, aus der sie hervorging, zu distan­zieren sucht. Diese innere Zerris­senheit, das Leiden an der eigenen Identität, und im weiteren Sinne die Entta­bui­sierung von Flucht­er­fah­rungen und Vertreibungs­geschichte korre­spon­dieren mit der von Grass gewählten sprach­lichen Gestaltung: Rheto­rische Fragen, Störungen des Erzählens wie Redeab­brüche, unvoll­ständige Sätze und Erzähl­ver­zicht signa­li­sieren die Schwie­rig­keiten der Nachfol­ge­ge­neration, Worte zu finden für das Nicht-Erzählbare, das Nicht-Verstehbare. Zugleich spiegeln sich damit die indivi­du­ellen Erfah­rungen der Zeitzeugen, ihre Traumata, ihre emotionale Erregung und Betrof­fenheit. Einen Zugang zu diesem gestal­te­ri­schen wie inhalt­lichen Anspruch versuchten – und reali­sierten – wir über die Titel­gebung. Grass selber erläutert den »Krebsgang« als »Rückwärtsgang« und »der Zeit etwa schräg­läufig in die Quere kommen, etwa nach Art der Krebse, […] doch ziemlich schnell voran­kommen«. Damit beschreibt er das nicht lineare, nicht hierar­chisch gebundene Erzähl­prinzip im Mit- und Neben­ein­ander der verschie­denen Handlungs­stränge und macht deutlich, wie sehr auch er selber – in der Novelle als der »Alte« aus der Ferne beobachtend und begleitend darge­stellt – mit Thema und Form ringen musste.

Die zu analy­sie­renden, vielfäl­tigen Aspekte, mit welchen die Protago­nisten der Novelle das wechsel­seitige Unver­ständnis der Genera­tionen aufzu­brechen suchen, können an dieser Stelle nur ansatz­weise vorge­stellt werden. Genannt sei hier als ein Element der Einsatz von Umgangs­sprache und Dialekt: Das von der Zeitzeugin Tulla Pokriefke verwendete Danziger Platt und ihre stereo­typen Wendungen repräsen­tieren dabei die unter­ge­gangene Epoche des »Dritten Reiches« ebenso wie ihr Herkunfts­be­wusstsein, stehen aber auch für die rezep­tio­nelle Proble­matik der Zeitzeugen. Als textliche »Stolper­steine« hemmen wie unter­stützen sie den inhalt­lichen Anspruch von Authen­ti­zität und Perspektivwechsel.

Erfahrungen und Erträge

Im Bewusstsein, wichtige Fragen wie die bundes­republikanische Opfer-Täter-Debatte, die Blind­stellen offizi­eller DDR-Geschichtspolitik oder die vom Autor deutlich gemachte Medien­skepsis angesichts stetig wachsender, aber undurch­schau­barer, pseudo­his­to­ri­scher Infor­ma­ti­onsflut der neuen Medien nur angerissen zu haben, konnte im Rahmen der Lektüre der Beitrag von Günter Grass, welchen dieser mit der Novelle Im Krebsgang zur Entta­bui­sierung der deutschen Leidens­geschichte geleistet hat, deutlich gemacht werden. Der histo­rische wie biogra­fische Abstand neutra­li­siert den Zugang der jungen Leser. In diesem Sinne lässt sich für das ambitio­nierte Vorhaben resümieren, dass trotz aller zeitlichen und inhalt­lichen Beschrän­kungen wichtige Ziele erreicht werden konnten. Neben dem Kennen­lernen der histo­ri­schen Proble­matik und der Einordnung des »unerhörten« Ereig­nisses in größere Zusam­men­hänge sowie Analyse und Reflexion der Grass’schen Erzähl­muster und ‑strategien sind es vor allem Fragen nach dem histo­ri­schen und kultu­rellen Erbe und der natio­nalen Selbst­ver­ge­wis­serung, welche den Schülern Anregungen für die eigene Haltung geben konnten. Als sehr wertvoll erwies es sich darüber hinaus, dass die Unter­richts­einheit genera­tio­nen­über­grei­fende, indivi­duelle Gespräche in den Familien anzuregen vermochte. Erklärten zu Beginn noch alle betei­ligten Schüler, Flucht und Vertreibung seien keine für sie relevanten Themen, wuchs im Laufe der Ausein­an­der­setzung mit dem Text nicht nur das Interesse an diesem selbst, sondern auch das Bewusstsein für eigene, familiäre Erfah­rungen und Prägungen (diese sind durchaus vorhanden gewesen). In einige der sich ergebenden Gespräche und Diskus­sionen mit Angehö­rigen der Erleb­nis­ge­ne­ration einge­bunden zu werden, ist letztlich eine große Freude und Bestä­tigung gewesen.


Annegret Schröder studierte Germa­nistik, evange­lische Theologie und Pädagogik, zudem Ausbildung zur Verlags­kauffrau; tätig als Gymna­si­al­leh­rerin an einer privaten Wirtschafts­schule. Seit Beginn des Jahres ist sie Mitglied im Stiftungsrat der Kultur­stiftung Westpreußen.