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Die »Schönen Madonnen« von Thorn und Danzig

Bedeutende Werke der bildenden Kunst im Weichselland

Von Siegfried Sieg

»Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion« – so lautet der programmatische und zugleich auch verpflichtende Untertitel dieser »Zeitung für Westpreußen«. Das untere Weichselland von Thorn bis Danzig mit seiner jahrhunderte­langen Geschichte zählt zweifellos zu den bedeutenden Kulturregionen im euro­päischen Kontext. Wir begegnen beeindruckenden Beispielen der Baukunst, mächtigen Burgen aus der Zeit des Deutschen Ordens, großen Kirchenbauwerken wie auch Rathäusern und prächtigen Patrizier­­­häusern in den Städten des Landes. Bedeutende Werke der bildenden Kunst bereichern gleichermaßen das kulturelle Erbe des Landes. Die Aufnahme der Marienburg und der Altstadt von Thorn in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO im Jahre 1997 bezeugen zusätzlich den herausgehobenen Rang dieser europäischen Kulturregion an der Weichsel. Die Wiederherstellung der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zerstörten Großskulptur der Mosaik-Madonna an der Schlosskirche der Marienburg im Jahre 2016 soll Anlass sein, zwei weitere große Werke der bildenden Kunst aus dem Weichselland in den Blick zu rücken.

Thorn an der Weichsel ist die älteste Stadt des Preußen­landes. 1231 vom Deutschen Orden gegründet, stellt Thorn die Ausgangs­basis für die Entwicklung des einst mächtigen Ordens­staates im Osten dar. Von Zerstö­rungen im Zweiten Weltkrieg verschont, zeugen bis in die Gegenwart die großen Bauwerke von der reichen Geschichte der Stadt, der »Königin an der Weichsel«. Die Johan­nis­kirche, Taufkirche des 1473 geborenen Astro­nomen Nicolaus Coper­nicus, zählt mit dem Thorner Rathaus zu den bedeu­tenden mittel­al­ter­lichen Baudenk­mälern Thorns. In dieser Kirche befand sich bis Ende des Zweiten Weltkrieges eines der großen plasti­schen Kunst­werke des Weich­sel­landes von europäi­schem Rang, in der Kunst­ge­schichte als »Thorner Madonna« bezeichnet. Diese Skulptur gilt als ein heraus­ra­gendes Werk der mittel­al­ter­lichen Stilrichtung der »Schönen Madonnen« des sogenannten »Weichen Stils« zu Beginn des 15. Jahrhun­derts. Von Böhmen ausgehend, verbreitete sich dieser Kunststil über Schlesien (»­Breslauer Schöne Madonna«) bis ins Deutsch­or­densland Preußen. Die »Thorner Madonna« gilt neben der aus Krumau in Böhmen als vollkom­menes und ausge­wo­genes Werk jener Zeit und wird als stilbildend für diese Kunst­epoche bezeichnet. Der Terminus »Schöne Madonna« wird übrigens sowohl Wilhelm Pinder, 1923, als auch Alfred Stix zugeschrieben, der bereits 1918 einen »Meister der Schönen Madonna« in die Kunst­li­te­ratur einführte.

Während Maria, die Mutter Gottes, in den mittel­al­ter­lichen Plastiken zumeist würdevoll auf hohem Throne sitzend, den Gläubigen entrückt darge­stellt wurde, wandelte sich der Kunststil an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert zum Typus der dann später so bezeich­neten »Schönen Madonna«. Das war etwas Neuar­tiges in der plasti­schen Kunst jener Zeit. Charak­te­ris­tisch ist bei diesen Madonnen­bildern des Spätmit­tel­alters ein ausge­prägt höfisches, ein edles Antlitz der Maria, jugend­lichen Liebreiz ausstrahlend. Das Gewand ist mit elegantem Faltenwurf und weichen, sogenannten Schüs­sel­falten harmo­nisch gestaltet. Die etwa um 1400 aus Kalkstein geschaffene »Thorner Madonna« zeigt keine symme­trische (parallele), sondern eine kontra­postische Beinstellung. Dadurch ergibt sich die stilspe­zifische Ausformung der Gewand­falten. Obwohl die »Schönen Madonnen« eine Krone tragen, sind sie nicht mehr als hehre Himmels­kö­ni­ginnen zu sehen. Sie wirken vielmehr jungfräulich edel und lieblich, dem Gläubigen nahe und zugewandt. Sie gelten in der Kunst­ge­schichte als ästhe­tisch höchst verfei­nerte Bildwerke aus jener Zeit des späten Mittel­alters. Das Jesuskind auf dem Arm der Maria greift nach dem darge­reichten Apfel – einem Sinnbild der Welt. Das Gesicht ist nicht, wie zuvor üblich, als verklei­nertes Erwach­se­nen­ge­sicht darge­stellt, sondern zeigt einen betont kindhaften Ausdruck.

Der Künstler, in der Kunst­ge­schichte als »Meister der Thorner Madonna« aufge­führt, ist namentlich ebenso wenig bekannt wie derjenige, der die der gleichen Stilepoche zuzuord­nende »Schöne Madonna« in der Danziger Marien­kirche geschaffen hat. Hans-Bernhard Meyer schrieb in einem Beitrag im Westpreußen-Jahrbuch von 1950 sehr treffend :  »In der ›Thorner Schönen Madonna‹ steht ein plasti­sches Werk vor uns, das zu den schönsten seiner Zeit gehört und das von einer Lieblichkeit und Innigkeit ist, die auch auf den heutigen Menschen ihre tiefe Wirkung ausübt.« Das schrieb er fünf Jahre nach Kriegsende, nicht ahnend, dass seine Worte leider nur noch im übertra­genen Sinne gelten konnten. Denn dieses große Kunstwerk ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen. Eine Nachbildung wurde in der Nachkriegszeit geschaffen und in der Thorner Johan­nis­kirche an origi­naler Stelle unter der Orgel im Mittel­schiff aufge­stellt. Eine weitere, verklei­nerte Nachbildung der »Thorner Madonna« befindet sich heute im Westpreu­ßi­schen Landes­museum in Warendorf/Westfalen (aus Lindenholz, geschnitzt von Gerhard Philipp, Hannover ;  Höhe 54,5 cm).

Danzig, die einst bedeu­tende Handels- und Hanse­stadt, »Königin an der Ostsee«, ist mit seiner langen Geschichte, mit seinen berühmten Bauwerken und den reichen Kunst­schätzen in seinen Mauern die große Kultur­me­tropole des Weich­sel­landes. Aus den Gassen der Recht­stadt ragt mächtig die Haupt­kirche der Stadt, St. Marien, empor. In einer der Kapellen, der Annen­ka­pelle im nördlichen Seiten­schiff der Kirche, befindet sich ein der »Thorner Madonna« vergleich­bares, aus der gleichen Zeit stammendes, ebenso großes Kunstwerk, die »Danziger Madonna«. Stilis­tisch ist sie, wie die Thorner, dem Typus »Schöne Madonna« zuzuordnen. Erschaffen wurde sie um 1420 (ungefähr 20 Jahre nach dem Thorner Werk) vom »Danziger Meister«, dessen Name, wie schon gesagt, ebenso wie der des Thorner Künstlers nicht bekannt ist. Es wird vermutet, dass er aus der Umgebung des »Meisters der Thorner Madonna« hervor­ge­gangen ist, später in Danzig ansässig wurde und dort Anfang des 15. Jahrhun­derts seine Werkstatt gründete. Mit der »Danziger Madonna« schuf er sein großes Hauptwerk. Weitere Kunst­werke in St. Marien werden ihm ebenfalls zugeschrieben, so auch die in der Reinhol­dus­ka­pelle aufge­stellte Pietà (Mater Dolorosa). Die Gestalt der leidenden Mutter Gottes, den Leichnam Christi haltend, weist gleiche Stilmerkmale auf wie die Skulptur der »Schönen Madonna«.

Die »Danziger Madonna« wurde – wie ihr künst­le­ri­sches Pendant in Thorn – aus Kalkstein geschaffen. Mit der Krone, die später, Anfang des 16. Jahrhun­derts, hinzu­gefügt wurde, ist sie mit einer Höhe von zwei Metern im Vergleich zur »Thorner Madonna« (die nur 115 cm misst) von auffallend hoher Gestalt. Ebenfalls in dieser Zeit, zu Beginn des 16. Jahrhun­derts, wurde die Madonnen-Skulptur mit einem Holzschrein umgeben. Ausge­schmückt mit goldfar­benen Glori­en­strahlen und Sternen sowie einem silbernen Rosen­kranz, bildet das Innere des Schreins die künst­le­risch gestaltete Umrahmung für die Madonnen-Gestalt. In den Rosen­kranz innerhalb des Schreins eingefügt sind sieben geschnitzte Medaillons, die Szenen aus der Passion ­Christi darstellen. 1979 kam dieser Schrein in beschä­digtem Zustand aus dem Natio­nal­museum in Warschau, wohin er nach dem Kriege gelangt war, wieder nach Danzig zurück. Zwei der sieben Medaillons (Abendmahl und Geißelung Christi) hatten den Krieg überstanden. Die übrigen konnten rekon­struiert, der Schrein selbst restau­riert werden. Unterhalb des Rosen­kranzes sind zu beiden Seiten Gläubige, weltliche Herrscher, Stände­ver­treter sowie Vertreter der hohen Geist­lichkeit darge­stellt. In der Barockzeit ist die Madon­nen­figur dann, typisch für jene Zeit, farbig übermalt worden. Das nun rot-golden leuch­tende Brokat­kleid, der goldge­mus­terte, edle Mantel, die golden glänzenden Haare lassen die Marien­ge­stalt seither noch stärker hervorstrahlen.

Der Zweite Weltkrieg hat mit seinen starken Zerstö­rungen in Danzig tiefe Spuren hinter­lassen. Auch die Marien­kirche war stark beschädigt worden. Dank dem Einsatz des letzten Direktors des Danziger Stadt­mu­seums, Willi Drost, konnten recht­zeitig genug neben anderen auch viele der Kunst­schätze von St. Marien gesichert und schließlich immerhin zu 60 % gerettet werden – so auch die kunst­his­to­risch bedeu­tende »Danziger Madonna«. Thorn ist hingegen als eine der wenigen Städte im Weich­selland von Kriegs­schäden verschont geblieben. Umso schmerz­hafter ist der Verlust der nach (!) dem Kriegsende verschol­lenen »Thorner Schönen Madonna«. Mit der glück­li­cher­weise erhalten geblie­benen »Danziger Schönen Madonna« kann jedoch exempla­risch (und das Eingangs­zitat dieses Beitrages sei hiermit abschließend aufge­griffen) die »Begegnung mit dem Erbe der europäi­schen Kultur­region an der Weichsel« im wörtlichen Sinne – einst wie jetzt – geschehen und zum Erleben von Kultur in der unmit­tel­baren Wahrnehmung führen.