Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

»Die langen Schatten der Erinnerung« : Marianne Goerdeler und das Erbe der Vergangenheit

Von Piotr Chruścielski

Mit Frieder Meyer-Krahmer treffe ich mich an einem Winternachmittag in seiner Berliner Wohnung. Der ausgebildete Ökonom und ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung erzählt, dass seine Mutter Marianne den Widerstand ihres Vaters gegen das NS-Regime zu einem zentralen Thema ihres ­eigenen Lebens und Schaffens gemacht habe. Als Tochter und Historikerin habe sie sich für die Erinnerung an Carl Goerdeler eingesetzt, den in Schneidemühl und Marienwerder beheimateten Juristen und Kommunalpolitiker in Königsberg und Leipzig, dem sein Kampf gegen den NS-Staat das Leben kostete. „Beide Rollen hat sie vollständig angenommen und überzeugend gelebt“, meint der leidenschaftliche Holz-­Bildhauer, der mit seiner Frau in ihrem gemeinsamen Atelier in Steglitz arbeitet. Den Konsequenzen der politischen Tätigkeit des Vaters, darunter der Sippenhaft, die über Frau und Kinder verhängt wurde, habe sich Marianne allerdings nicht ganz „nähern“ wollen; zu diesem Teil der Geschichte gehörte, dass sie selbst Anfang Dezember 1944 ins KZ Stutthof bei Danzig kam. Ein Schock für die behütete Bürgerstochter. Dennoch habe Marianne Zeit ihres Lebens voll hinter der Entscheidung ihres Vaters, in den Widerstand zu gehen, gestanden und dabei ihr eigenes Schicksal akzeptiert.

Das sogenannte „Sonder­lager“, in dem Marianne, ihre Mutter Anneliese, die jüngere Schwester Benigna, die Schwä­gerin Irma, Carls Bruder Gustav sowie Mariannes Cousine Jutta inhaf­tiert waren, existiert nicht mehr. Teils bewaldet, teils umfunk­tio­niert, lässt der Ort seinen histo­ri­schen Gehalt nicht mehr erahnen. Lediglich ein paar Bilder, nach dem Krieg aufge­nommen, geben heute einen Einblick in den Teil des KZ Stutthof, zu dem nur wenige Personen Zugang hatten. Sein Bau wurde im Frühjahr 1944 begonnen und im Sommer desselben Jahres abgeschlossen. Welche Häftlinge dann einziehen sollten, war ein großes Geheimnis. „Erst später stellte sich ganz zufällig heraus, dass dort Familien von Hitler besei­tigter Generäle und anderer Gesell­schafts­träger wohnten, unter anderem die Angehö­rigen von Goerdeler“, schrieb der Ex-Häftling Balys Sruoga in seinem Buch Der Wald der Götter (Langenthal 2005). Das „Sonder­lager“ befand sich circa einen Kilometer nordwestlich vom Haupt­lager entfernt und war von einer hohen Mauer und einem unter Strom stehenden Stachel­draht umschlossen, um die dort Inhaf­tierten komplett zu isolieren. Am 20. Juli 1944 war es zum Hitler-Attentat gekommen, das die Familie Goerdeler wenige Monate später in den Sonderteil des KZ brachte. Da der ehemalige Oberbür­ger­meister von Leipzig zu den führenden System­kri­tikern gehörte und nun noch im Verdacht stand, an dem Staats­streich beteiligt zu sein, wurde er steck­brieflich verfolgt, und seine Familie wurde in Sippenhaft genommen. Ein Racheakt, der in Himmlers Pläne einmündete, die Angehö­rigen der Wider­ständler als Geiseln bei seinen Verhand­lungen mit den Alliierten einzu­setzen. Damit stellte der Reichsführer-SS sie unter einen Sonder­status. Marianne wurde zu einem „Pfand“ des unter­ge­henden Dritten Reichs.

Marianne hatte am 17. Dezember 1919 als drittes der fünf Kinder von Anneliese und Carl Goerdeler in der ostpreu­ßi­schen Provinz­haupt­stadt Königsberg das Licht der Welt erblickt. Nach dem Umzug nach Leipzig 1930 erlebte sie – die, wie Frieder Meyer-Krahmer erzählt, eine enge Beziehung zu ihrem Vater hatte – den Einbruch des Natio­nal­so­zia­lismus und den Weg ihres Vaters in die Opposition. „Immer war in meiner Jugendzeit über Politik gesprochen worden, ob es um Versailles und seine Auswir­kungen auf die Weimarer Republik ging, oder später um die Möglichkeit, das NS-Regime noch irgendwie beein­flussen zu können. Meine Eltern hatten einen sehr innigen Kontakt. Meine Mutter war ihrem Mann ein unent­behr­licher Gesprächs­partner und wir Kinder lernten durch ihre Gespräche, dass Hitler syste­ma­tisch den Rechts­staat zerstörte“, erinnerte sie sich. Vom Kriegs­ge­schehen sei sie nur mittelbar betroffen gewesen, meint der Sohn. Marianne studierte damals Geschichte, Deutsch und Englisch, promo­vierte 1943 und machte im folgenden Jahr ihr Staats­examen für das Höhere Lehrfach :  „Über die geheime Tätigkeit meines Vaters im Einzelnen habe ich damals kaum etwas erfahren. Zum einen fesselte mich mein Studium, ich erschloss mir – 1939 gerade zwanzig geworden – einen eigenen Freun­des­kreis, verliebte und verlobte mich. Zum anderen wurde ich zu meinem eigenen Schutz von den meisten Infor­ma­tionen abgeschirmt“, schrieb sie später. Der Krieg machte sich aber auch in ihrem Leben bemerkbar. Im Mai 1942 fiel ihr geliebter Bruder Christian an der Ostfront, der laut Marianne nach seiner Kritik an Geisel­er­schie­ßungen in Frank­reich dorthin zwangs­ver­setzt worden war. Dieses Ereignis und das kommende Schick­salsjahr 1944/45 schrieben neue Kapitel in ihrem bis dahin „durch die Eltern behüteten Leben“.

„Nach der Verhaftung meines Vaters wurde die ganze Familie erst in Gefäng­nissen, dann in Konzen­tra­ti­ons­lagern festge­halten, bis wir von ameri­ka­ni­schen Truppen befreit wurden. Mich verhaftete die Gestapo in unserem Haus am späten Nachmittag des 27. Juli 1944, einem heißen, klaren Sommertag“ – so begann Mariannes Fahrt ins Ungewisse. Zunächst wurde sie in das Leipziger Polizei­prä­sidium gebracht. Nach einem Zwischen­stopp im Riesen­ge­birge, wo die Familie Goerdeler auf der Hindenburg-Baude bei Bad Reinerz mit Familien anderer Wider­ständler zusam­men­ge­führt wurde, zogen sie alle in einem Sammel­transport weiter. Am 2. Dezember 1944 erreichten sie das Konzen­tra­ti­ons­lager bei Danzig :  „Ich erinnere mich noch an die Ankunft in Stutthof :  der Bus passierte das erste Tor, und es schloss sich, dann fuhren wir durch das nächste Tor, und wiederum schloss es sich hinter uns. Wir hatten das Gefühl, im innersten Kreis zu sitzen. Das war sicher gar nicht der Fall, aber das Gefühl war eben stärker. Umgeben war unsere Baracke noch einmal von Zäunen aus Holz oder Metall, und alle hatten oben eine ‚Krönung‘, nach innen geneigt und sichtbar durch Porzel­lan­man­schetten mit Strom geladen. Unwill­kürlich drängte sich immer wieder der Gedanke auf :  Werden sie uns jetzt, da sie uns alle so gut beiein­ander haben, etwas antun ?“ Die Gruppe, die an diesem Wintertag ins KZ Stutthof kam, bestand aus 22 Personen. Neben den Goerdelers gab es unter den Neuzu­gängen auch Famili­en­an­ge­hörige von Claus Schenk von Stauf­fenberg, Caesar von Hofacker, Ulrich von Hassel, Joachim Kuhn und Hans-Bernd Gisevius.

Auch wenn Angst und Beklemmung Marianne quälten, war die Lage der Häftlinge im Sonderteil günstiger als die von anderen Gefan­genen im Haupt­lager. Als SS-Geiseln waren sie, ohne es zu wissen, mit „Sonder­rechten“ ausge­stattet. Von dem KZ-Kommandanten persönlich in Empfang genommen, wurde den Familien der Wider­ständler eine inhumane Aufnahme erspart. Da sie keine Häftlings­nummern und keine katego­ri­sie­renden Dreiecke erhielten, durften sie quasi ihre Indivi­dua­lität behalten. Die Sippen­häft­linge mussten keine Schwerst­arbeit leisten und hätten laut Marianne nicht wirklich Hunger gelitten. Auch physische Misshand­lungen und Gewalt gehörten nur dem Alltag jener an, die im Haupt­lager ihr Dasein fristeten. Anders als deren Schlaf­stuben waren dieje­nigen im Sonder­lager mit eisernen Bettge­stellen und Spinden einge­richtet. Heizholz und Lebens­mittel für Selbstver­pflegung erhielten sie von der Lagerkomman­dantur. Auch der Zugang zu Büchern, Zeitungen und Radio wurde ihnen nicht verwehrt. Zu Weihnachten bekamen sie einen Christbaum, Gebäck und Kuchen. Als infolge von psychi­schen und körper­lichen Strapazen sowie eiskalter Ostseeluft die gesund­heit­liche Wider­stands­kraft der Sonder­häft­linge merklich nachließ – Marianne und ihre Mutter bekamen die Ruhr – und manche von ihnen in Lebens­gefahr schwebten, versorgte die Komman­dantur die Kranken mit Medika­menten, die Onkel Gustav, der Arzt war, den Leidens­genossen verab­reichte. Diese „Privi­legien“ konnten jedoch nicht über die traurige Tatsache hinweg­täu­schen, dass sie hinter Stachel­draht und Mauer gefangen gehalten wurden – weit weg von dem vertrauten Umfeld und in ewiger Unwis­senheit über ihr Schicksal. „Was einem hier begegnete“ – erinnerte sich Marianne später – „war der blanke, kalte Zynismus, der immer wieder tief kränkte und verun­si­cherte“. Diese Ungewissheit lag wie ein Schatten über ihnen und begleitete sie auch auf weiteren Etappen ihrer Geiselhaft. Am 27. Januar 1945 mussten die Sippen­häft­linge das Lager Stutthof verlassen und bei Eis und Schnee gen Westen ziehen, um der sich nähernden Roten Armee zu entkommen. Ihre Irrfahrt führte sie u. a. durch das SS- und Polizei­straf­lager Matzkau bei Danzig, das Konzen­tra­ti­ons­lager Buchenwald, in dem Marianne ihren Bruder Ulrich traf, und das KZ Dachau, bis sie schließlich am 29. April 1945 in Niederdorf in Südtirol von ameri­ka­ni­schen Truppen befreit wurden. Der Krieg und die Sippenhaft waren zwar zu Ende, aber wie Marianne viele Jahre später bemerkte :  „Es gab für mich kein beschüt­zendes Elternhaus mehr, nicht die Rückkehr nach Leipzig, nicht die geliebte ostpreu­ßische Heimat, in der wir viele glück­liche Jahre verbracht hatten. Und vor allem nicht den Vater. Ohne ihn war nun das Leben zu bestehen.“

Ohne ihn und doch für ihn – denn Mariannes Sippenhaft alleine sei kein großes Thema gewesen, meint Frieder Meyer-Krahmer. Seine Mutter habe sich vielmehr vollkommen mit ihrem Vater identi­fi­ziert und ihre mehrmo­natige Inhaf­tierung als Folge seines opposi­tio­nellen Weges gesehen. Seine dominante Figur habe die Gespräche über die NS-Zeit im Famili­en­kreis wesent­licher bestimmt als ihre eigenen prägenden Erfah­rungen. Die Orte, an denen sie diese gemacht hat, seien nicht der zentrale Punkt gewesen. Wie Mariannes Sohn erklärt, habe eine solche „Dominanz“ zwei komplett unter­schied­liche Seiten. Zum einen werde der Famili­enheld sehr verehrt, zum anderen stelle sich gleich­zeitig eine Art „Entwertung“ der Nachkommen ein. Da die Lebens­prin­zipien des Famili­en­heroen so hoch waren, werde den anderen Angehö­rigen vermittelt :  Das werdet ihr nie erreichen !  „Das habe ich in meiner Familie erlebt. Meine Mutter hat ganz stark diese Botschaft an uns Söhne gegeben, hat diese Botschaft auch sich selber auferlegt.“ Darum waren auch manche Themen damals tabu. Dass es selbst in der engeren Familie Meinungs­ver­schie­den­heiten über den Wider­stand gegen den NS-Staat gegeben hatte, darüber habe Marianne nur selten gesprochen. Auch die seeli­schen Verlet­zungen seien konse­quent ausge­klammert worden. „Sie hat sich dem nicht nähern wollen“, erzählt der Sohn. Vielleicht weil sich Carl Goerdeler mit seiner Entscheidung für den Wider­stand letztlich gegen seine eigene Familie entschieden hat, reflek­tiert der Wissen­schaftler. Für Marianne habe es keine Alter­native gegeben. Er selbst betrachtet die Entscheidung des Großvaters, auf den er dessen ungeachtet stolz ist, diffe­ren­zierter. Er möchte sie nicht kriti­sieren, sehe man aber die emotio­nalen Verwer­fungen, die in der Familie entstanden seien, so hätte man diese Seite des Wider­standes mehr gewichten sollen, meint er.

Laut Frieder Meyer-Krahmer zeigte seine Mutter keine Bereit­schaft, eine Opfer­rolle einzu­nehmen. In ihren eigenen Worten :  „Als unschuldige Opfer der Nazis haben wir uns niemals gefühlt, weil wir das Tun unseres Vaters bejahten.“ Wenn man Bilder sieht, kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass jegliche Form von Passi­vität Marianne fremd war. In ihrem Gesicht zeigen sich innere Stärke und Selbst­be­wusstsein. In einem gewissen Sinne setzte sie das Werk ihres geliebten Vaters fort. Aufklärung über Natio­nal­so­zia­lismus und Wider­stand war ein Schwer­punkt ihrer jahre­langen Arbeit im baden-württembergischen Schul­dienst. Marianne habe akzep­tiert, dass das Deutschland, das den Krieg angezettelt hatte, nach dem Zusam­men­bruch Teile seines Terri­to­riums abgeben musste. In ihren Augen sei es eine gerechte Strafe gewesen. Trotzdem habe sie dabei ein Stück ihres Lebens verloren. Sie habe eine starke Vorstellung von einer morali­schen Schuld der Deutschen gehabt, sagt der Sohn. Das Bewusstsein dieser Schuld sowie ein Gefühl der Mitver­ant­wortung für Gemeinwohl und Gesell­schaft habe sie an ihre beiden Söhne weiter­ge­geben. Wie viele Nachkommen der Wider­ständler, ergriffen sie helfende Berufe. Er selbst studierte Volks­wirt­schaft und Politik­wis­sen­schaft, sein älterer Bruder Christian erlernte den Beruf des Arztes. Marianne Goerdeler :  „Die langen Schatten der Erinnerung werden uns immer wieder erreichen. Und ich denke, sie sollten auch ihren Platz in unserem Leben behalten und uns gemahnen, unserer eigenen Verant­wortung bewusst zu sein. Auch heute gilt es, sich gegen vielfäl­tiges Unrecht zu stellen und immer wieder für eine mensch­liche Zukunft einzu­treten.“ Die älteste Tochter von Carl Goerdeler starb am 7. Dezember 2011 in Heidelberg.


Die Zitate von Dr. Marianne Meyer-Krahmer, geb. Goerdeler, stammen aus ihrem Buch Carl Goerdeler. Mut zum Wider­stand. Eine Tochter erinnert sich (Leipziger Univer­si­täts­verlag 1998) und ihrem Festvortrag (Gedenk­stätte Deutscher Wider­stand in Berlin), den sie am 19. Juli 2005 in der St. Matthäus-Kirche in Berlin hielt.