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Die Elbinger Orgelwerke von Max Gulbins

Ein musikalisches Abenteuer in der Schweiz

Zum verschollenen Musik­­erbe der Stadt Elbing, das schon längst wieder unsere Aufmerksamkeit verdient hätte, gehört sicherlich das Schaffen von Max Gulbins, der hier zwischen 1900 und 1907 tätig war. Eine zentrale Partie seiner Orgelwerke wurde nun im November 2017 an der großen Orgel der Hofkirche Luzern eingespielt und Anfang September 2018 auf einer Doppel-CD veröffentlicht.

Jede größere Stadt in Ost- und Westpreußen verfügt dank ihrer Archi­tektur und Kunst­werke sowie dank eigenen Tradi­tionen über ein spezi­fi­sches kultu­relles Profil, zu dem auch die Kirchen­musik einen wesent­lichen Beitrag geleistet hat. An den wichtigsten Stadt­kirchen wirkten oft die besten Musiker ihrer Zeit. An Elbings Haupt­kirche St. Marien waren Künst­ler­per­sön­lich­keiten tätig wie beispiels­weise Petrus de Drusina im 16. Jahrhundert oder Jeremias du Grain im frühen 18. Jahrhundert. Zum 500-jährigen Jubiläum der Stadt Elbing wurde im Jahre 1737 die Kantate Hermann Balk kompo­niert, an der offenbar kein Gerin­gerer als Georg Friedrich Händel persönlich mitge­wirkt hat. Aber auch die Musik der Elbinger Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert ist sehr reich­haltig und inter­essant, in der heutigen Zeit findet sie jedoch kaum noch Resonanz. Insbe­sondere durch die Geschichts­wende mit ihren Tradi­ti­ons­brüchen am Ende des Zweiten Weltkrieges gerieten viele Meister mit ihrem künst­le­ri­schen Schaffen fast völlig in Verges­senheit. Inzwi­schen haben wir aller­dings die Möglichkeit, solche verges­senen Werke und ihre Meister wiederzuentdecken.

Max Gulbins und seine Zeit in Elbing

Max Gulbins (1862–1932) wurde zwar nicht in Elbing geboren, war mit der Stadt aber in beson­derer Weise verbunden. Er kam am 18. Juli 1862 in Kummet­schen, Kr. Goldap (Ostpreußen), als Sohn des evange­li­schen Lehrers und Organisten Hermann Gulbins zur Welt und wurde in der Alten Kirche zu Goldap getauft. Der Nachname Gulbins ist charak­te­ris­tisch für die Region um Insterburg und zeugt von den altprußisch-litauischen Wurzeln (lit. gulbė – Schwan) der Familie. Seine Kindheit verbrachte Gulbins in Groß Bersch­kallen, wo sein Vater als Schul­meister und auch als Organist und Chorleiter an der evange­li­schen Kirche tätig war. Wahrschein­licher Weise erhielt Max seinen ersten Orgel­un­ter­richt auch vom Vater. Nach seinem Abitur studierte er von 1882 bis 1888 an der Preußi­schen Akademie der Künste in Berlin Kompo­sition und Orgel bei Friedrich Kiel, Benno Härtel und Heinrich von Herzo­genberg, allesamt namhafte Profes­soren ihrer Zeit. Nach seiner Heimkehr wurde er Musik­di­rektor im ostpreu­ßi­schen Stallu­pönen, ein Amt, das er acht Jahre lang innehatte. Die nächsten vier Jahre bekleidete er eine vergleichbare Stelle in Insterburg. 1900 bewarb er sich schließlich um eine der renom­mier­testen Kirchen­mu­si­ker­stellen Westpreußens, um das Amt des Kirchen­mu­sik­di­rektors an St. Marien, der evange­li­schen Haupt­kirche der Elbinger Altstadt. Trotz hoher Anerkennung im öffent­lichen Wettbewerb wurde Gulbins leider nicht ausge­wählt, die Stelle erhielt an seiner statt ein anderer Kandidat, und zwar Franz Rasen­berger aus Glarus in der Schweiz. Wenige Monate später bewarb sich Gulbins dann abermals – und diesmal erfolg­reich – in Elbing :  als Kantor der evange­li­schen Haupt­kirche der Elbinger Neustadt zu den Hl. Drei Königen.

Durch Gulbins’ Wirken gewann die Pfarrei eine musika­lisch völlig neue Basis. Der Kirchenchor zu den Hl. Drei Königen entwi­ckelte sich rasch zu einer der besten und größten Sänger­ver­ei­ni­gungen der Stadt ;  schon bald wurden Konzert­reihen etabliert, die aus dem Musik­leben der Stadt bis 1945 nicht mehr wegzu­denken waren. Im Rahmen dieser kirchen­mu­si­ka­li­schen Aktivi­täten kompo­nierte Gulbins zudem zahlreiche neue Werke, die in Elbing zur Urauf­führung kamen :  durch ihn erfuhr der ohnehin schon hohe kultu­relle Rang Elbings nochmals eine Steigerung. Max Reger, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der wohl promi­nen­teste deutsche Schöpfer von Kirchen‑, insbe­sondere Orgel­musik, kannte und schätzte Gulbins als außer­or­dent­lichen Kompo­nisten :  aus Regers Feder stammen einige Empfeh­lungen und Zeugnisse, die diese Einschätzung wider­spiegeln. 1905 wurde Gulbins bereits zum „König­lichen Musik­di­rektor“ ernannt. In Elbing blieb er bis 1907, dann wechselte er auf eine Stelle als Kantor und „Oberor­ganist“ an St. Elisabeth, einer der wichtigsten Kirchen in Breslau. 1918 erhielt er einen Profes­so­ren­titel und arbeitete bis zu seinem Tode am 19. Februar 1932 als Organist und Musik­lehrer. Trotz seiner späteren Erfolge betonte Gulbins im Nachhinein oftmals, dass die Jahre in Elbing die glück­lichsten seines Lebens gewesen seien ;  und zu dieser positiven Einschätzung dürften auch die eindrucks­vollen Kompo­si­tionen beigetragen haben, die ihm in dieser Zeit gelungen sind. Nach 1945 hatten Künst­ler­per­sön­lich­keiten der Vorkriegszeit und ihr Œuvre im musik­kul­tu­rellen Gedächtnis aller­dings keinen Ort mehr.

Andreas Jetter und die Renaissance der vier Orgelsonaten

Diesen Bann des Vergessens brach erst vor kurzem ein ausge­zeich­neter und namhafter Musiker aus der Schweiz :  Andreas Jetter. Er ist Dommu­sik­di­rektor an der Kathe­drale von Chur und Kantor am Münster zu Radolfzell am Bodensee. Geboren 1978, studierte er bei bekannten Klavier- und Orgel­vir­tuosen (u. a. am Rachmaninow-Institut Tambow/Russland, am Moskauer Konser­va­torium, in Esslingen, Tübingen und Trossingen) und besuchte zahlreiche Meister­kurse. Er konzer­tierte in den wichtigsten Kathe­dralen und Musik­zentren Europas. Von beson­derer Bedeutung ist nicht zuletzt :  Andreas Jetters Vorfahren kamen aus Elbing. Seine Groß- und Urgroß­eltern mütter­li­cher­seits gehörten zur Neustäd­ti­schen Pfarrei zu den Hl. Drei Königen, als deren Kantor Max Gulbins gewirkt hatte.

Bis 2017 waren zwar hier und da immer wieder einmal einzelne Stücke von Gulbins aufge­taucht, die Herkunft dieser Musik und ihr kultu­reller Hinter­grund blieben aber weitgehend unbeleuchtet. Andreas Jetter hingegen sammelt seit geraumer Zeit „vergessene“ Werke aus Ost- und Westpreußen, und er versucht, diese der Öffent­lichkeit wieder zugänglich zu machen. In diesem Kontext entwi­ckelte er auch den starken Wunsch, die großen Orgel­so­naten von Gulbins einzu­spielen. Eine Chance eröffnete sich unerwartet im September 2016 in der Hofkirche St. Leodegar in Luzern, als Jetter dort Gulbins’ 4. Sonate „Paulus“ im Konzert vortrug. Hofor­ganist Wolfgang Sieber war von dieser Musik so faszi­niert, dass er eine CD-Produktion anregte. Die große Hoforgel bietet dafür hervor­ra­gende Voraus­set­zungen. Die beein­dru­ckende Anlage mit 111 Registern verteilt sich auf drei verschiedene Orte :  auf der Westempore befindet sich die Haupt­orgel mit ihrem riesigen Gehäuse, das zwischen 1640 bis 1650 vom Salzburger Orgel­bauer Hans Geisler geschaffen wurde ;  über dem Haupt­ge­wölbe ist das Fernwerk mit akusti­schem Kanal instal­liert, und seitlich, oberhalb des Chorraums, befindet sich auf einer Nordempore das Echowerk, das 2015 durch die Orgel­bau­firma Kuhn aus Männedorf erbaut wurde. Die Luzerner Hoforgel gehört zu den größten Orgeln der Schweiz und zu den vorzüg­lichsten in ganz Europa. Sie bietet univer­selle Möglich­keiten für die Darbietung von Orgel­li­te­ratur der verschie­densten Epochen, und dabei ausdrücklich auch für eine angemessene Aufführung „großer“ Werke des 19. und frühen 20. Jahrhundert, die sich durch sympho­nische Struk­tur­ele­mente und eine ebenso diffe­ren­zierte wie massive Klang­ent­faltung auszeichnen. Die schier unbegrenzten Möglich­keiten dieser Orgel lassen zugleich erahnen, von welch einer hohen techni­schen und ästhe­ti­schen Vollkom­menheit die Terletzki-Orgel in der Elbinger Kirche zu den Hl. Drei Königen gewesen sein muss, an der Gulbins seine Sonaten komponierte.

Hier, inmitten der Alpen, sollten nun beein­dru­ckende Kompo­si­tionen aufge­zeichnet werden, die in Westpreußen entstanden sind. – Das Programm umfasste die vier in Elbing kompo­nierten großen Orgel­so­naten :  Nr. 1 c‑moll op. 4 (1900), Nr. 2 f‑moll op. 18 (1901), Nr. 3 B‑Dur op. 19 (1901) und das monumen­talste Werk, die Sonate Nr. 4 C‑Dur op. 28 aus dem Jahre 1904, die den Unter­titel „Paulus“ trägt. Die Wahl dieses Sujets lässt unschwer erkennen, dass sich Gulbins nicht nur der tiefen, für seine Zeit charak­te­ris­ti­schen Religio­sität der Musik verpflichtet fühlte, sondern sich auch um eine „programm­mu­si­ka­lische“ Verge­gen­wär­tigung dieser bibli­schen Apostel-Gestalt bemüht hat.

Die Aufnahme-Session dauerte vom 14. bis zum 16. November 2017. Wegen techni­scher Probleme mit dem Gebläse-Antrieb der Hochdruck­re­gister im Echowerk wurde die letzte, vierte Sonate schließlich eine Woche später, am 21. November aufge­nommen. 64 Mikrofone waren dabei die Garanten für eine rundum hohe Qualität der Aufnahme. Fast ein Jahr dauerten danach die Bearbeitung und Herausgabe. Die neue Doppel-CD wurde schließlich am 4. September 2018 beim Orgel­sommer in der Luzerner Hofkirche vorge­stellt. Bei dieser denkwür­digen „Wieder­geburt“ musika­li­scher Werke aus Westpreußen waren auch Nachkommen von Max Gulbins anwesend, die – nicht anders als Andreas Jetter – über ihre Vorfahren mit Elbing verbunden sind.

Bartosz Skop


Max Gulbins, Die Elbinger Orgelwerke:

Andreas Jetter an der Kuhn-Orgel der Hofkirche Luzern
Motette Psallite-Verlag, CD Nr. 14121, € 16,70
Die CD enthält ein umfang­reiches Booklet mit Texten von Andreas Jetter und dem Autor dieses Artikels, u. a. über den Kompo­nisten, seine Lebens­ge­schichte, seine Musik und unter­schied­liche Orgeln. Sie ist beim Verlag Motette Psallite in Düsseldorf (und auch im Internet: www.motette-verlag.de) erhältlich.


Während seines ersten Erasmus-­Semesters an der Univer­sität Würzburg (2016 / 17) hat Bartosz Skop den mit ihm befreun­deten Organisten Andreas Jetter wieder­ge­troffen und wurde bei dieser Gelegenheit von ihm einge­laden, an einem spannenden Projekt teilzu­nehmen: Bartosz Skop, der Geschichte studiert, aus Elbląg stammt und als Histo­riker somit auch in der Geschichte der Vorgänger-Stadt Elbing behei­matet ist, eröffnete sich die Chance, sich in Luzern im Spätherbst 2017 an Aufnahmen von Werken eines Elbinger Kompo­nisten zu betei­ligen. Faszi­nierend waren für ihn im Vorfeld freilich auch das majes­tä­tische Alpen­pan­orama, die Verste­hens­bar­rieren, die das bis dahin unver­traute Schwy­zer­dütsch aufrichtete, sowie die Begegnung mit den geradezu riesen­haften Orgel­pfeifen in St. Leodegar, zu denen immerhin die mit 9,7 m größte, mit 383 kg schwerste und, da sie seit 1648 funkti­ons­tüchtig ist, auch älteste Orgel­pfeife der Welt gehört. – Auf dieses „musika­lische Abenteuer“ aufmerksam geworden, haben wir Bartosz Skop gebeten, unseren Leser­innern und Lesern davon ausführ­licher zu berichten.  

DW