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„Der Geist von Rache und Erniedrigung“

Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (1): Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der „Friedensvertrag“ von 1919

Von Martin Koschny

Als am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles der „Versailler Vertrag“ durch die Unter­schriften der Bevoll­mäch­tigten aus 33 Delega­tionen beschlossen wurde, gab man sich nur allzu bereit­willig der Illusion hin, damit eine neue Weltordnung auf dem Grundsatz der Gleich­be­rech­tigung und Selbst­be­stimmung der Völker geschaffen zu haben. Deutschland, als Haupt­schul­diger am Kriegs­aus­bruch, sollte geschwächt und zur „Wiedergut­machung“ verpflichtet werden. Oberstes Credo dieser neuen Weltordnung bestand darin, in Zukunft die Wahrschein­lichkeit für einen vergleich­baren Waffengang so gut wie unmöglich zu machen.

Die Realität sah bereits kurz nach dem Inkraft­treten der Friedens­ordnung ganz anders aus. Die Tinte war noch nicht getrocknet, da ließ sich kaum jemand finden, der bereit gewesen wäre, das Vertragswerk zu vertei­digen. In Deutschland bildete sich rasch eine „Anti-Versailles-Koalition“, die alle Gesell­schafts­schichten erreichte. Selbst innerhalb des alliierten Lagers warfen sich die Politiker gegen­seitig vor, für einen schlechten Frieden verant­wortlich zu sein. Den einen erschien er als zu hart, den anderen wiederum als zu mild. Es verwundert daher kaum, wenn von überall Stimmen laut wurden, die im Vertragswerk eine Ansammlung fauler Kompro­misse sahen. Beispielhaft für diese Enttäu­schung steht die folgende Aussage des ameri­ka­ni­schen Journa­listen und Politikers William
A. White, der 1919 im Gefolge des ameri­ka­ni­schen Präsi­denten Woodrow Wilson nach Paris gereist war:

Wir haben so große Hoffnungen auf dieses Unter­nehmen gesetzt; wir haben geglaubt, Gott selbst hat uns gerufen; und nun, am Ende, müssen wir die schmut­zigste Arbeit der Hölle verrichten: Menschen aushungern, Besitz von Gebieten ergreifen – oder unseren Freunden dabei helfen; wir sind dabei, wenn der Geist von Rache und Ernied­rigung auch diesen Krieg mit der nicht endenden Kette von Kriegen verbindet, die zurück­führt bis zu Kain [und Abel].

Für den briti­schen Kultur­theo­re­tiker und Geschichts­philosophen Arnold Joseph Toynbee, der der briti­schen Delegation angehörte, war die Friedens­kon­ferenz „a soul destroying affair“ [eine seelen­zer­stö­rende Angelegenheit].

So stand und steht Versailles im öffent­lichen Bewusstsein stell­ver­tretend für einen Diktat­frieden der Sieger­mächte, mit dem die Verlierer des Krieges nachhaltig bestraft werden sollten. Die Insze­nierung des Unter­zeich­nungs­aktes, dem es nicht an Symbolik fehlte, stand am Beginn dieser Bestrafung. Im Spiegelsaal von Versailles – dem Ort der Prokla­mation des Deutschen Reiches 1871 – musste die besiegte deutsche Seite durch die Unter­schriften der Bevoll­mäch­tigten Hermann Müller (Reichs­au­ßen­mi­nister, Sozial­de­mokrat) und Dr. Johannes Bell (Zentrum) einen Vertrag unter­zeichnen, der aus deutscher Sicht als drako­nisch empfunden wurde. Ein Augen­zeuge, der engste Berater Woodrow Wilsons, Oberst Edward House, hatte zum Unter­zeich­nungsakt bemerkt: „Ich wünschte, es wäre einfacher gewesen und ein Element der Ritter­lichkeit hätte nicht gefehlt, das völlig mangelte. Die Affäre war sorgfältig insze­niert und war so gestaltet, daß sie für den Gegner so demütigend wie möglich war.“ Komplet­tiert wurde die Symbolik durch eine Gruppe schwer­be­schä­digter franzö­si­scher Soldaten. Diese, in einer Fenster­nische platziert, sollten an die Opfer und das Leid mahnen, welches nun gesühnt werden würde.

Das wesent­liche Merkmal des Friedens­schlusses lag also darin, die Demütigung Deutsch­lands sichtbar zu machen. Dabei waren es weniger die ungeheuren materi­ellen Belas­tungen, die auferlegt wurden – Gebiets­ab­tre­tungen sowie Kriegs­ent­schä­di­gungen gab es auch in früherer Zeit. Die vergif­tende Wirkung lag vielmehr in den bis dahin unüblichen Formen des Vorgehens während der Verhand­lungen und beim Vertrags­schluss. Durch die Entschei­dungen der Friedens­kon­ferenz wurden der Hass und die Gegen­sätze, nicht nur zwischen Deutschland und Frank­reich, sondern auch weit über Europa hinaus, nicht abgebaut. Neues Konflikt­po­tential und weitere Spannungen traten in der Folge auf, die weit in das 20. Jahrhundert hinein­wirken sollten.

Der Weg aus dem Krieg

Während der Kämpfe zwischen 1914 bis 1918 war noch von keiner der kriegs­füh­renden Parteien eine Verstän­digung zu erwarten. Zu fixiert verfolgten sowohl die Alliierten wie auch die Mittel­mächte ihre Kriegs­ziele. Der Ausbruch der Oktober­re­vo­lution und das anschlie­ßende Ausscheiden Russlands aus dem Krieg, die Siege gegen Rumänien und Italien, ließen auf deutscher Seite die Hoffnungen auf einen baldigen Siegfrieden auch an der Westfront steigen. Die Vorstellung, durch eine letzte große Kraft­an­strengung – eine große deutsche Offensive wurde für Ende 1917 geplant – den Krieg mit einem deutschen Sieg zu beenden, half die zuvor bereits aufkom­mende Resignation im Heer und in der Heimat für den Augen­blick zu überwinden. Aussichten, den Krieg mithilfe eines Verstän­di­gungs­friedens beenden zu können, wurden um die Jahres­wende 1917/18 auf deutscher Seite kaum verfolgt. Die immer noch hoch gesteckten deutschen Kriegs­ziele gaben den Blick auf solch eine Alter­native nicht frei.

Nicht anders standen die Dinge auf Seiten der Alliierten. Trotz der zeitweise prekären Lage lässt sich dort keine große Verstän­di­gungs­be­reit­schaft für einen Friedens­schluss erkennen. Die Kriegs­ziel­for­de­rungen waren auch hier hoch angesetzt. Deren Reali­sierung konnte nur durch eine völlige Niederlage der Mittel­mächte gewähr­leistet werden. Der Kriegs­ein­tritt der Verei­nigten Staaten 1917 beflü­gelte zusätzlich die Aussichten auf einen solchen Sieg.

Eine Abkehr von der offen­siven Kriegs­führung lag im Winter 1917/18 somit noch für beide Parteien in weiter Ferne. Erst das Scheitern der groß angelegten deutschen Offensive am 5. April 1918 führte zu einer Neuori­en­tierung. In den Reihen der Soldaten machten sich Enttäu­schung und Frustration breit. Freiwillige Gefan­gen­schaften und Deser­tionen waren an der Tages­ordnung. Ein sukzes­sives Zurück­weichen der deutschen Truppen an allen Abschnitten der Westfront war die Folge. Der rasche Zusam­men­bruch der deutschen Verbün­deten Bulgarien, Österreich-Ungarn und der Türkei verschärfte die Situation zusätzlich. Es dauerte jedoch noch bis Ende September, bis Erich Luden­dorff, der „Erste General­quar­tier­meister“ des deutschen Heeres und Stell­ver­treter General­feld­mar­schalls von Hinden­burgs, zu dem Einge­ständnis bereit war, dass der Krieg verloren sei. Die deutschen Soldaten wurden also – anders als es die beschö­ni­gende und objektiv falsche Formel vom „im Felde unbesiegt“ ausdrückt – tatsächlich im Felde geschlagen. Dieses Faktum des Besiegt-Seins stand somit am Anfang eines Weges, der in Versailles endete.

Vom Waffenstillstandsgesuch zum Waffenstillstandsabkommen

Die drohende deutsche Kriegs­nie­derlage setzte ab September 1918 eine Reihe von Entwick­lungen in Gang, die noch kurz zuvor undenkbar schienen. Die neue deutsche Regierung (mit Vertretern des Zentrums, der Liberalen Fortschritts­partei und der Mehrheits­so­zi­al­de­mo­kratie) richtete nun, bedrängt durch die OHL (Oberste Heeres­leitung), ein Waffen­still­stands­an­gebot an den ameri­ka­ni­schen Präsi­denten Woodrow Wilson. Bereits im Januar 1918 hatte dieser sein „Programm des Weltfriedens“ in den bekannten „Vierzehn Punkten“ dargelegt. In ihnen war als Grundlage eines liberalen Friedens von Demokra­ti­sierung der Außen­po­litik, freiem Zugang zu Märkten und Rohstoffen, Abrüstung und Selbst­be­stimmung die Rede sowie von einem grund­le­genden Neuansatz in den inter­na­tio­nalen Bezie­hungen, einer „allge­meinen Gesell­schaft der Nationen“, die eine insti­tu­tio­nelle Vorkehrung zum schiedlich-friedlichen Konflikt­aus­gleich darstellen und allen Staaten „Unabhän­gigkeit und terri­to­riale Integrität“ garan­tieren sollte.

Wilsons Programm bot aus deutscher Sicht einen geeig­neten Ansatz, um den Krieg zu beenden. In einer Note vom 3. Oktober 1918 bat die Regierung, Wilson solle die Herstellung des Friedens in die Hand nehmen und ersuchte um einen sofor­tigen Waffen­still­stand zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Im Ergebnis fand vom 29. Oktober bis zum 4. November 1918 in Paris eine inner­al­li­ierte Konferenz statt. Die Beratungen kreisten um die 14 Punkte als Grundlage von Waffen­still­stands­be­din­gungen und einem Friedens­schluss. Nicht ein einheit­licher Konsens, sondern eher unter­schied­liche Vorstel­lungen prägten dieses Zusam­men­treffen. Die Briten artiku­lierten vor allem Vorbe­halte gegen den Grundsatz der „Freiheit der Meere“, der einen erheb­lichen Eingriff in das britische Empire nach sich ziehen würde. Die Franzosen bestanden ihrer­seits auf einer möglichst umfas­senden Definition der deutschen Verpflichtung zu Wieder­gut­ma­chungs­leis­tungen. Schließlich waren es die Europäer, die sich mit ihren Forde­rungen nach strengen Bestim­mungen für den Waffen­still­stand durch­setzten. Wilsons Programm sollte dennoch die Grundlage für einen Friedens­schluss mit dem Deutschen Reich bilden. Im Wald von Compiègne, unweit von Paris, erfolgte am 8. November 1918 dann die Entge­gen­nahme der Waffen­still­stands­be­din­gungen durch die deutschen Bevollmächtigten.

Die sofortige Räumung aller besetzten belgi­schen und franzö­si­schen Gebiete wie auch des gesamten linken Rhein­ufers inklusive der drei Brücken­köpfe bei Mainz, Koblenz und Köln, die Zurück­führung des deutschen Ostheeres hinter die Grenze vom 1. August 1914 (die Räumung Rumäniens, Polens, der Ukraine sowie der balti­schen Staaten), eine radikale Abrüstung sowie der Verzicht auf die Regelungen der Friedens­ver­träge von Brest-Litowsk und Bukarest nebst Zusatz­ver­trägen gehörten zu den Haupt­for­de­rungen. Binnen 72 Stunden sollten die Bedin­gungen durch die deutsche Seite angenommen werden.

Am 11. November 1918 um 5 Uhr morgens wurde schließlich, nach vergeb­lichen Versuchen, die Bedin­gungen abzumildern, das Waffen­still­stands­ab­kommen durch die Delega­tionen auf beiden Seiten unter­zeichnet. Anfangs nur auf 36 Tage begrenzt, wurde es in Folge noch dreimal verlängert, bis es schließlich am 16. Februar 1919 auf unbegrenzte Zeit festge­setzt wurde. Dieses aufgrund eines deutschen Ersuchens zustande gekommene Waffenstill­standsabkommen schuf die Voraus­setzung für die nachfol­gende Friedenskonferenz.

Frieden schließen

Erst jetzt, nachdem die Waffen endlich schwiegen, galt es, einen Friedens­vertrag auf den Weg zu bringen, der den Weltfrieden auf Dauer gewähr­leisten würde. Aus der Retro­spektive wird deutlich, das die „Friedens­macher“ von 1919 vor einer Aufgabe standen, die bis dato ohne Beispiel war. Die Voraus­set­zungen des Frieden-Schließens hatten sich nämlich seit dem 19. Jahrhundert in entschei­dender Weise verändert.

Die wohl größte Heraus­for­derung lag in der „Totalität des Krieges“. Die seit über vier Jahren intensiv tätige Propaganda­maschinerie mit ihrem publi­zis­ti­schen Trommel­feuer hatte auf beiden Seiten nationale Leiden­schaften mobili­siert. Eine immer stärkere Ideali­sierung des Krieges sowie eine zuneh­mende Dämoni­sierung des Gegners waren die konse­quente Folge. Angesichts der emoti­ons­ge­la­denen und erwar­tungs­vollen Stimmung in den jewei­ligen Nationen sahen sich die Staats­männer außer Stande, auf die verlo­ckenden Gewinne nach den verlust­reichen Kämpfen zu verzichten. Der britische Diplomat Harold Nicolson räumte ein: „Die Stimmung jener Zeit voraus­ge­setzt und die leiden­schaft­liche Erregung, die sich in den vielen Kriegs­jahren aller Demokratien bemächtigt hatte, wäre es auch für Übermen­schen unmöglich gewesen, einen Frieden der Mäßigung und Gerech­tigkeit zu ersinnen.“

Diese „Totalität des Krieges“ korre­spon­dierte mit einer „Totalität der deutschen Niederlage“. Die Kampf­un­fä­higkeit Deutsch­lands verschaffte den Siegern die Gelegenheit, ihre Ambitionen ohne Risiko durch­zu­setzen. Dies musste zwangs­läufig die Qualität der Friedens­ver­hand­lungen beeinträchtigen.

Eine weitere Heraus­for­derung stellte der Rang des Krieges als eines „Weltkriegs“ dar. Die Betei­ligung zahlreicher Staaten außerhalb Europas, allen voran der USA und Japans, verlangte nach einer Ausweitung der Friedens­re­gelung über Europa hinaus. Neue Problem­kom­plexe wie beispiels­weise die Regelung der Erbmasse des Osmani­schen Reiches oder der aufkom­mende japanische Imperia­lismus in Ostasien kamen hinzu und verlangten ebenso nach einer Regelung.

Nicht zuletzt belastete auch noch der kurz nach dem Waffen­still­stand wieder aufflam­mende Dissens innerhalb der Sieger­mächte die Bemühungen um eine konsen­suelle Klärung der Nachkriegs­ordnung. Die Diskrepanz zwischen Wilsons Friedens­pro­gramm und den jewei­ligen natio­nalen Macht­in­ter­essen warf im Verlauf der Konferenz zahlreiche Streit­punkte auf.

Vor dem Hinter­grund solch verfloch­tener Problem­stränge überrascht es nicht allzu sehr, wieso während der Konferenz nicht mit den Besiegten verhandelt wurde, sondern nur über sie. Die Angst, eine deutsche Delegation könnte in die durchaus brüchige Phalanx der Alliierten einen oder mehrere Keile treiben, erscheint mehr als nachvoll­ziehbar – und auf deutscher Seite legte man die eigene Strategie auch genau darauf an.

Positionen und Ergebnisse

Trotz all dieser Schwie­rig­keiten erfolgte die feier­liche Eröffnung der Konferenz am 18. Januar 1919. Zum Vorsit­zenden wurde der franzö­sische Minis­ter­prä­sident George Clemenceau ernannt. Das wichtigste Entscheidungs­gremium bildete hingegen der „Rat der Vier“, dem Woodrow Wilson, George Clemenceau, der britische Premier­mi­nister Lloyd George und der italie­nische Minis­ter­prä­sident Orlando angehörten. Die Entscheidungs­kompetenz dieses Rates war umfassend. Alle bedeu­tenden Fragen der Pazifi­zierung Europas, die Regelungen in den außer­eu­ro­päi­schen Räumen sowie nicht zuletzt die strit­tigen Fragen innerhalb der unter­ge­ord­neten Gremien wurden in letzter Instanz im „Rat der Vier“ erörtert und entschieden.

In ihren Grund­for­de­rungen nach terri­to­rialen Gebiets­abtretungen, der Zahlung von Repara­tionen wie auch der radikalen Abrüstung herrschte unter den Sieger­mächten Konsens. Über das konkrete Ausmaß dieser Maßnahmen sowie die zukünftige Rolle Deutsch­lands in Europa traten hingegen diver­gie­rende Vorstel­lungen auf, die von hitzigen Debatten begleitet wurden. Auf briti­scher Seite lag das Interesse vor allem auf der Aufrecht­erhaltung des konti­nen­talen Gleich­ge­wichts. Eine allzu große Macht­fülle Frank­reichs galt es ebenso zu vermeiden wie ein Ausgreifen der bolsche­wis­ti­schen Revolution auf Deutschland. Lloyd George plädierte daher für einen harten, aber „gerechten“ Frieden, der nicht von der „Arroganz“ der Sieger geprägt sein dürfe.

Für Frank­reich lag hingegen eine Sicher­heits­doktrin zugrunde, die in umfas­sender Weise geopo­li­tische, strate­gische, bevöl­ke­rungs­po­li­tische und wirtschaft­liche Zielset­zungen bündelte. Die struk­tu­relle Überle­genheit Deutsch­lands sollte durch den Frieden so weit wie möglich reduziert werden. Nur so schien man die Sicherheit Frank­reichs gewähr­leisten zu können. Erreicht werden sollte dieses Ziel vor allem durch umfang­reiche Gebiets­abtretungen im Westen wie im Osten, durch drastische Rüstungs­be­schrän­kungen sowie gewaltige Reparations­verpflichtungen. Eine dauer­hafte Isolation und Kontrolle Deutsch­lands versprach man sich von einem festge­fügten Bündnis­system. In einer Sicher­heitszone, einem „Cordon Sanitaire“, sollte dabei dem wieder­be­grün­deten polni­schen Staat als Puffer zwischen Deutschland und der Sowjet­union eine tragende Rolle zufallen. Für Woodrow Wilson schließlich lag der Schlüssel zum Erfolg des ganzen Friedens­pro­zesses in der Bildung eines Völker­bundes, eines weltweiten Systems kollek­tiver Sicherheit.

Die terri­to­rialen Bestim­mungen des Friedens­ver­trages trafen das Deutsche Reich mit großer Härte. Es verlor über ein Achtel seines Staats­ge­bietes zuzüglich aller Kolonien und damit ein Zehntel seiner Bevöl­kerung. Aus wirtschaft­licher Sicht büßte es 15 % seiner landwirt­schaft­lichen Produktion, 50 % seiner Eisen­erz­ver­sorgung und 25 % seiner Steinkohle­förderung ein.

Befanden sich Wilson und Lloyd George an diesem Punkt noch weitgehend in Überein­stimmung, so sah sich der ameri­ka­nische Präsident in der Repara­ti­ons­frage zunehmend isoliert. Briten wie Franzosen waren fest davon überzeugt, durch rigorose Repara­ti­ons­an­sprüche einen vollstän­digen Ersatz ihrer Kriegs­kosten anzustreben. Dabei spielte ihre hohe Verschuldung gegenüber den USA eine nicht unerheb­liche Rolle. Für die exakte Festsetzung einer Repara­ti­ons­summe wurde eine Kommission einge­setzt, die die Beträge bis 1921 festlegen sollte. Juris­tisch sollte der Anspruch auf Repara­tionen durch den sogenannten Kriegs­schuld­ar­tikel abgesi­chert werden. Aus deutscher Sicht war diese Festlegung gleich­zu­setzen mit einem morali­schen, ehren­rüh­rigen Verdikt: Dass Deutschland die Schuld am Krieg einge­stehen musste, trug massiv zur Emotiona­lisierung der Ausein­an­der­setzung mit dem Friedens­vertrag bei.

Weniger schwierig war ein Konsens der Sieger­mächte im Bereich der militä­ri­schen Bestim­mungen zu erreichen. Einen tiefen Einschnitt bedeutete für Deutschland die Abschaffung der allge­meinen Wehrpflicht, die Auflösung des General­stabs, die Schleifung der Festungen in der neutralen Zone im Rheinland sowie ein Verbot moderner Waffen­arten (Panzer, U‑Boote, Luftwaffe). Das Heer durfte eine Truppen­stärke von 100.000 Mann nicht überschreiten. Eine inner­alliierte Militär­kom­mission hatte über die Bestim­mungen zu wachen.

Als außer­or­dentlich bitter empfand man in Deutschland letztlich auch den Artikel 80, wonach ein Wieder­an­schluss Öster­reichs strikt verboten wurde. Dieser Artikel wog umso schwerer, weil er doch das Selbst­be­stim­mungs­recht, das vor allem von Wilson für die weltweite Friedens­re­gelung so energisch vertreten wurde, eklatant verletzte.

Das Diktat

Trotz eines großen Presse­auf­kommens blieb die Bericht­erstattung über die Verhand­lungen während der Konferenz äußerst spärlich. Dies führte dazu, dass in Deutschland weder die Regierung noch die Öffent­lichkeit ein einiger­maßen realis­ti­sches Bild dessen besaßen, was auf Deutschland zukommen würde. Man klammerte sich daher immer noch an die Illusion, dass auf die harten Waffenstill­standsbestimmungen eher glimpf­liche Friedens­bestimmungen folgen würden. Diese Illusion verpuffte abrupt am 7. Mai 1919, als in Versailles der deutschen Delegation die strengen Friedens­be­stim­mungen übergeben wurden.

Der wohl größte Schock bestand darin, dass hier bereits ein fertiges Vertragswerk präsen­tiert wurde und keine mündlichen Verhand­lungen vorge­sehen waren. Den Wiener Kongress von 1815 vor Augen, hatte man sich auf deutscher Seite gerade im Vorfeld auf solche Verhand­lungen vorbe­reitet. Nachdem die Alliierten daran festhielten, keine mündlichen Verhand­lungen zu gestatten, verlegte sich die deutsche Seite auf einen „Noten­krieg“, freilich ohne einen weiter­rei­chenden Erfolg zu erzielen.

Die geringe Bereit­schaft der Sieger­mächte, den Vertrag noch zu ändern, löste in Deutschland eine intensive Debatte über dessen Annahme oder Ablehnung aus. Schließlich beschloss die Natio­nal­ver­sammlung am 23. Juni, knapp vor Ablauf der von den Alliierten gesetzten Frist, dass die Regierung zur Unter­zeichnung des Friedens­ver­trages ermächtigt sei. Zum Bestandteil des deutschen Staats­rechts wurde der Versailler Vertrag durch das Gesetz über den Friedens­schluss vom 16. Juli 1919.

Nachwirkung in Deutschland

Unmit­telbar nach dem Inkraft­treten des Vertrages brach sich in Deutschland die Überzeugung Bahn, dass dem Land ein „gerechter“ Frieden, auf den man Anspruch zu haben glaubte, versagt worden sei. So waren sowohl die Modali­täten des Zustan­de­kommens wie die konkreten Bestim­mungen des „Diktats von Versailles“ Gegen­stand leiden­schaft­licher – und nicht selten maßloser – Kritik. Als schwere nationale Demütigung wurden, insbe­sondere in bürgerlich-nationalistischen Kreisen, die „Straf­bestimmungen“ des Vertrages, also die Ankla­ge­er­hebung gegen Kaiser Wilhelm II., die Offiziere und Soldaten, empfunden.

Im Zentrum der Agitation gegen den „Diktat-Frieden“ stand aller­dings die These von der deutschen Allein­schuld am Krieg – obgleich im besagten Artikel immerhin die Rede von Deutschland und seinen Verbün­deten ist. Durch eine Wider­legung des Kriegs­schuld­ar­tikels versuchte die deutsche Seite einen Hebel anzusetzen, mit dessen Hilfe eine Gesamt­re­vision der Bestim­mungen hätte erreicht werden können. Diese – fast schon an Beses­senheit grenzenden – Revisi­ons­be­stre­bungen erreichten nahezu alle Schichten der Gesell­schaft. Nur wenige waren in der Lage zu erkennen, dass trotz der harten Bestim­mungen Deutschland noch glimpf­licher davon­ge­kommen war, als es während der Beratungen in Paris zeitweilig im Bereich des Möglichen gelegen hatte. Deutlich wird dies mit Blick auf das Saargebiet, die Rhein­region oder auf Oberschlesien. Die staat­liche Einheit Deutsch­lands blieb ebenso erhalten. Das Ausscheiden Russlands aus dem europäi­schen Konzert wie auch die sich verän­dernden Verhält­nisse in Südost­europa konnten auf längere Sicht für Deutschland sogar von wirtschaft­lichem und politi­schem Vorteil sein. Der Versailler Vertrag eröffnete somit, ungeachtet der aufer­legten Belas­tungen, auch neue Möglich­keiten. Unter Umständen hätte Deutschland sogar über einen größeren außen­politischen Bewegungs­spielraum verfügen können als noch vor 1914. Allein die dafür benötigte Geduld ließen die Deutschen vermissen. Die Fixierung auf das „Trauma Versailles“ verwischte weithin den Blick für neue Chancen. Die Kombi­nation aus der „Dolch­stoß­le­gende“ und der Polemik gegen die Kriegs­schuldlüge sowie die hemmungs­lose Agitation der politi­schen Rechten gegen das „Diktat von Versailles“ insgesamt wurden in den Händen der Republik­gegner, die den „Schmach­frieden“ mit der Existenz der Weimarer Demokratie identi­fi­zierten, zu gefähr­lichen Waffen gegen die Demokratie. All dies blieb zweifellos nicht ohne Eindruck auf einen großen Teil der Bevölkerung.

Die Erfah­rungen des Zweiten Weltkrieges ebneten aber den Weg zu einer weniger emoti­ons­ge­la­denen Bewertung des Friedens­schlusses von 1919 und somit auch zu einer milderen Beurteilung der „Friedens­macher“. Nach dem inzwi­schen erreichten Stand der geschichtswissen­schaftlichen Forschung zeigt sich dem Betrachter heute statt schlichter polarer Deutungs­muster ein kompli­ziertes, nur schwer zu durch­drin­gendes Ursachen­knäuel. – Einen sehr frühen aufschluss­reichen Wandel der Beurteilung vollzog aus der spezi­fisch deutschen Perspektive der bedeu­tende Histo­riker Gerhard Ritter, der 1919 noch ein entschie­dener Gegner der Unter­zeichnung gewesen war, bereits im Jahre 1951:

Für eine kluge, besonnene und geduldige deutsche Politik, die für unseren Staat nichts anderes erstrebte, als ihn zur friedens­si­chernden Mitte Europas zu machen, eröff­neten sich – auf lange Sichte gesehen – die besten Chancen. Daß wir sie verfehlt haben und in maßloser Ungeduld, in blindem Haß gegen das sogenannte Versailler System uns einem gewalt­tä­tigen Abenteuer in die Arme stürzten, ist das große Unglück und der verhäng­nis­vollste Fehltritt unserer neueren Geschichte.