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Auf Teneriffa erprobt, in Thorn perfektioniert

Das Centrum Kulturalno-Kongresowe Jordanki

Bereits im Jahre 2015 wurde in Thorn das moderne Kultur- und Kongresszentrum Jordanki eröffnet. Für die Stadt ist es ein wichtiger Ort geworden, seine Architektur fand international Beachtung. Höchste Zeit also, das Haus einmal genauer zu betrachten.

Als der Jour­na­list Wolf­gang Büscher Anfang der 2000er Jah­re zu einer lan­gen Wan­de­rung auf­brach, deren Doku­men­ta­ti­on spä­ter als Buch unter dem schlich­ten Titel Ber­lin – Mos­kau erschei­nen soll­te, hat­te er als Zwi­schen­sta­ti­on in Polen auch Thorn an der Weich­sel vor Augen. Er stellt es sich als einen „goti­schen Traum“ vor, zeigt sich nach sei­ner Ankunft aber etwas ent­täuscht: Sei­nem Ein­druck nach han­del­te es sich bei der Thor­ner Alt­stadt um eine ein­zi­ge gro­ße Studentenkneipe.

Zwei­fel­los ist das dann doch ein etwas über­spitz­ter Stand­punkt. Inter­es­sant ist die­se Geschich­te den­noch, weil sie gut zeigt, wie es um unse­re Erwar­tungs­hal­tung gegen­über Städ­ten bestellt ist. Wenn man eine alte Han­se­stadt besucht, die noch dazu mit dem Weltkulturerbe-Titel der unesco ver­se­hen ist, erwar­tet man dann nicht oft eine Art Zeit­rei­se – und ist erstaunt, wenn man vor Ort auch der Gegen­wart begegnet?

Ein wich­ti­ger Bau­stein im Gesamt­bild des heu­ti­gen Thorn, das sich nach dem Besuch von Wolf­gang Büscher noch ein­mal erheb­lich wei­ter­ent­wi­ckelt hat, ist das bemer­kens­wer­te Kultur- und Kon­gress­zen­trum Jor­dan­ki. Falls man eine Besich­ti­gung auf die Alt­stadt beschränkt, dann wird man es nicht zu Gesicht bekom­men. Aber es genü­gen schon ein paar Schrit­te nach Nor­den, aus dem his­to­ri­schen Bezirk her­aus, um einen ganz ande­ren Ein­druck zu gewin­nen. Man über­quert eine gro­ße Kreu­zung, pas­siert auf der lin­ken Sei­te den Amts­sitz des Mar­schalls der Woi­wod­schaft Kujawien-Pommern und steht dann vor einem auf­fäl­li­gen, aber kei­nes­wegs auf­dring­li­chen zeit­ge­nös­si­schen Bau­werk: dem Jordanki.

Das Grund­stück, auf dem das Jor­dan­ki geplant wur­de, liegt im Bereich der ehe­ma­li­gen Wall­an­la­gen um die Thor­ner Alt­stadt. In den zwan­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts war die­se Befes­ti­gung end­gül­tig abge­räumt wor­den. Es ent­stand dort ein Park, der nach dem Zwei­ten Welt­krieg zu einem soge­nann­ten Jor­dans­gar­ten („Ogród Jor­d­anow­ski“) umge­baut wur­de, einem öffent­li­chen Spiel- und Sport­platz für Kin­der, nach der Idee des Kra­kau­er Arz­tes Hen­ryk Jor­dan. Lan­ge Jah­re war die­ser Park ein belieb­ter Erho­lungs­ort, den die Thor­ner Bevöl­ke­rung kurz und knapp „Jor­dan­ki“ nann­te. Die­ser Name wur­de schließ­lich auf das neue Kultur- und Kon­gress­zen­trum übertragen.

Zurück geht das Jor­dan­ki auf einen 2008 aus­ge­schrie­be­nen Wett­be­werb für einen Kon­zert­saal. Mit dem ers­ten Preis wur­de unter 21 Teil­neh­mern damals der Ent­wurf des spa­ni­schen Archi­tek­ten Fer­nan­do Menis aus­ge­zeich­net, der inter­na­tio­nal tätig ist, obwohl sein Büro sich an einem schein­bar etwas ent­rück­ten Ort befin­det, auf der Kanaren-Insel Tene­rif­fa. Menis kam dabei sicher zugu­te, dass er bereits meh­re­re beein­dru­cken­de Kul­tur­zen­tren und Kon­zert­hal­len errich­ten konn­te, zum Bei­spiel das Mag­ma in Ade­je auf Tene­rif­fa, des­sen Eröff­nung im Jah­re 2005 gefei­ert wur­de. Nach­dem das Büro von Fer­nan­do Menis, in dem auch jun­ge Archi­tek­tin­nen und Archi­tek­ten aus Polen tätig sind, die Plä­ne noch mehr­fach über­ar­bei­tet hat­te, wur­de 2013 mit dem Bau des Jor­dan­ki begon­nen. Im Dezem­ber 2015 konn­te das Haus schließ­lich der Öffent­lich­keit über­ge­ben wer­den. Die Bau­kos­ten belie­fen sich auf rund 50 Mil­lio­nen Euro. Anstel­le des ursprüng­lich geplan­ten Kon­zert­saals war nun ein städ­ti­sches Zen­trum für ganz unter­schied­li­che Ver­an­stal­tun­gen und Bedürf­nis­se entstanden.

Wegen der Nähe zum Welt­kul­tur­er­be „Thor­ner Alt­stadt“ ent­schied Menis sich dafür, mög­lichst wenig in die Höhe zu bau­en. Ent­stan­den ist so ein Kom­plex aus vier Bau­kör­pern, der sich in der Hori­zon­ta­len aus­dehnt und zur von der Alt­stadt weg­füh­ren­den Solidarność-Allee hin einen Vor­platz ent­ste­hen lässt, wie ihn auch das nicht weit ent­fern­te, vor dem Ers­ten Welt­krieg errich­te­te Thor­ner Stadt­thea­ter besitzt. Im Unter­schied zu sol­chen his­to­ri­schen Refe­ren­zen ziel­te Menis aber auf den Ein­druck „eines natür­li­chen Objek­tes, eines Fel­sens“ ab, der ein­ge­bet­tet ist in die umge­ben­de Park­an­la­ge mit ihrem neu gestal­te­ten, gewell­ten Ter­rain. Auch der Park kann bei Bedarf zum Ver­an­stal­tungs­ort wer­den, dafür lässt sich die Rück­sei­te des Jor­dan­ki öff­nen und als Frei­licht­büh­ne nutzen.

Das Thor­ner Stadt­mar­ke­ting bezeich­net die Archi­tek­tur des Jor­dan­ki als „ein­zig­ar­tig“. Auch wenn gegen­über sol­chen Wer­be­flos­keln immer Skep­sis ange­bracht ist: Fer­nan­do Menis sieht die Arbei­ten sei­nes Büros selbst als Uni­ka­te, ver­gleich­bar mit den hand­ge­fer­tig­ten Instru­men­ten eines Gei­gen­bau­meis­ters. Im Hin­blick auf sei­ne Mate­ri­al­äs­the­tik ist das Thor­ner Bau­werk wirk­lich etwas Beson­de­res. Die Fas­sa­den sind noch über­wie­gend bestimmt von einem hoch­wer­tig ver­ar­bei­te­ten ­sand­far­be­nen Beton. Des­sen Ober­flä­chen sind über­zo­gen von Spu­ren des Her­stel­lungs­pro­zes­ses und einem Netz aus Fugen, die zusam­men ein dia­go­nal ver­lau­fen­des Mus­ter erge­ben. Doch bereits hier ist zudem Menis’ cha­rak­te­ris­ti­sche Hand­schrift zu erken­nen. Es fin­den sich am Außen­bau eini­ge Stel­len, die wie ab- oder aus­ge­schnit­ten wir­ken. Dort kommt ein mosa­ik­ar­ti­ges Reli­ef aus röt­li­chen Zie­gel­bruch­stü­cken zum Vor­schein, die in den Beton ein­ge­gos­sen sind. Das zugrun­de­lie­gen­de, neu­ar­ti­ge Ver­fah­ren nennt Fer­nan­do Menis „Pica­do“, abge­lei­tet vom spa­ni­schen Wort „picar“, das „zer­klei­nern“ oder „behau­en“ bedeu­ten kann. Menis hat es ent­wi­ckelt, beim Bau des Mag­ma auf Tene­rif­fa erprobt und von spa­ni­schen und pol­ni­schen Insti­tu­tio­nen zer­ti­fi­zie­ren las­sen. In Thorn lässt sich der Zie­gel­bruch auch als Bezug­nah­me auf die mit­tel­al­ter­li­che Back­stein­ar­chi­tek­tur der Alt­stadt ver­ste­hen – und genau so ist es vom Archi­tek­ten auch aus­drück­lich gemeint. Tat­säch­lich sind die ver­wen­de­ten Zie­gel sogar aus regio­na­ler Pro­duk­ti­on. Sie stam­men aus dem für her­kömm­li­che Zwe­cke nicht ver­wend­ba­ren Aus­schuss einer Fabrik nörd­lich von Breslau.

Im Inne­ren, in den Foy­ers und Sälen, fin­det sich das Picado-Verfahren fast über­all. Im Zusam­men­spiel mit der Geo­me­trie der abge­knick­ten und schräg ange­leg­ten Wand- und Decken­flä­chen ergibt sich eine höh­len­ar­ti­ge Erschei­nung, die anfangs gewöh­nungs­be­dürf­tig sein mag. Das ame­ri­ka­ni­sche Maga­zin Archi­tec­tu­ral Record lob­te jedoch nach der Eröff­nung, das Jor­dan­ki set­ze sich ab von der übli­chen glatt­po­lier­ten Gedie­gen­heit sons­ti­ger Kon­zert­sä­le; ande­re Fach­zeit­schrif­ten hoben die gro­ße Sorg­falt in der Ver­wen­dung der Mate­ria­li­en her­vor. Außer­dem ist die­se expres­si­ve Art von moder­ner Archi­tek­tur natür­lich kei­ne will­kür­li­che Neu­erfin­dung eines exzen­tri­schen Archi­tek­ten – sie hat längst ihre eige­ne Geschich­te. Vom fan­tas­ti­schen Moder­nis­mus eines Anto­ni Gau­dí über den orga­nisch geform­ten Pots­da­mer Ein­stein­turm von Erich Men­dels­ohn – der neben­bei bemerkt im nur rund 150 Kilo­me­ter von Thorn ent­fern­ten ost­preu­ßi­schen Allen­stein gebo­ren wur­de – bis hin zu der eben­falls oft als Fel­sen beschrie­be­nen Wall­fahrts­kir­che in Velbert-Neviges von Gott­fried Böhm las­sen sich dafür im 20. Jahr­hun­dert meh­re­re Bezugs­punk­te identifizieren.

Auf sei­ne Ästhe­tik lässt sich das Jor­dan­ki aber kei­nes­wegs redu­zie­ren. Auch funk­tio­nal hat das Bau­werk viel zu bie­ten. Es ver­fügt über zwei gro­ße Räu­me, einen Kon­zert­saal mit rund 900 Plät­zen und einen klei­ne­ren Kam­mer­mu­sik­saal mit Platz für rund 300 Gäs­te. Die Trenn­wand zwi­schen bei­den Sälen lässt sich ent­fer­nen, sodass ein noch grö­ße­rer Raum ent­steht. Auch bei Musik­auf­füh­run­gen macht sich die Wand­ge­stal­tung in der Picado-Technik bezahlt, denn sie hat akus­ti­sche Vor­tei­le: Je nach Aus­füh­rung kann der Schall gezielt absor­biert oder reflek­tiert wer­den. Dank beweg­li­chen Decken­ele­men­ten, die um meh­re­re Meter abge­senkt wer­den kön­nen, ist es zusätz­lich mög­lich, die Nach­hall­zeit der Räu­me anzu­pas­sen. Je nach Anlass kön­nen Ver­an­stal­ter also ent­schie­den, ob es eher „tro­cken“ oder „fül­lig“ klin­gen soll. Schließ­lich kön­nen auch die anstei­gen­den Zuhö­rer­rän­ge bei Bedarf aus­ge­baut wer­den, sodass ebe­ne Flä­chen zur Ver­fü­gung ste­hen, was die mög­li­chen Arten der Nut­zung noch ein­mal erheb­lich erwei­tert. Ein Kul­tur­haus mit sol­cher Fle­xi­bi­li­tät sucht man in Deutsch­land bis­her ver­geb­lich, auch wenn immer wie­der fest­ge­stellt wird, dass das eigent­lich zeit­ge­mä­ßer wäre als ein im Ver­gleich eher unbe­weg­lich wir­ken­der „Musik­tem­pel“ wie etwa die Ham­bur­ger Elbphilharmonie.

Außer­dem gibt es im Jor­dan­ki wei­te­re Tagungs­räu­me, ein Restau­rant sowie einen spe­zi­ell für Pres­se­kon­fe­ren­zen aus­ge­stat­te­ten Saal. Wie in so vie­len Kul­tur­häu­sern über­all auf der Welt ist auch im Jor­dan­ki aber seit Mit­te März wegen der Corona-Pandemie Stil­le ein­ge­kehrt. Im Moment gibt es also kei­ne Kon­zer­te des Thor­ner Sin­fo­nie­or­ches­ters, kei­nen Jazz, kein Kaba­rett, kei­ne Tanz­auf­füh­run­gen, Musi­cals, Mes­sen, Märk­te und was im Jor­dan­ki seit sei­ner Eröff­nung sonst noch alles statt­ge­fun­den hat. Die nächs­ten Ver­an­stal­tun­gen sind zur­zeit für den August ange­kün­digt. Wenn dann irgend­wann wie­der Tou­ris­ten nach Thorn kom­men, dann soll­ten sie auch dem Jor­dan­ki einen Besuch abstatten.

Alexander Kleinschrodt