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Europa – eine Idee als Heimat 

Ein Sammelband bringt unterschiedliche Europa-Bilder ins Gespräch

Bereits Ende 2018 hat­te der lang­jäh­ri­ge CSU-Europapolitiker Bernd Pos­selt mit sei­nem Buch Bernd Pos­selt erzählt Euro­pa nach­drück­lich auf die Not­wen­dig­keit eines – für die euro­päi­sche Staa­ten­fa­mi­lie iden­ti­täts­stif­ten­den – Nar­ra­ti­ves für Euro­pa hin­ge­wie­sen. Eines der mög­li­chen Nar­ra­ti­ve legt nahe, Euro­pa als „Hei­mat“ zu ver­ste­hen. Eine sol­che Europa-Deutung – die einen mit viel­fäl­ti­gen Asso­zia­tio­nen besetz­ten Begriff, der sich ursprüng­lich auf einen enge­ren Lebens­raum bezieht, auf einen gesam­ten Kon­ti­nent anwen­den will – ist jedoch vor­aus­set­zungs­reich und wirft weit­rei­chen­de Fra­gen auf. Und so erscheint es nur schlüs­sig, dass Mar­tin W. Ramb und Hol­ger Zaba­row­ski hin­ter den Titel ihres 2019 erschie­ne­nen Sam­mel­ban­des ein Frage- und kein Aus­ru­fe­zei­chen set­zen: Hei­mat Europa ?

Auf mehr als 400 Sei­ten brin­gen die bei­den Phi­lo­so­phen, die an katholisch-theologischen Fakul­tä­ten bzw. Hoch­schu­len leh­ren, viel­fäl­ti­ge und sich stim­mig ergän­zen­de – wis­sen­schaft­li­che, essay­is­ti­sche, lite­ra­ri­sche wie auto­bio­gra­fi­sche – Annä­he­run­gen an den Fra­gen­kom­plex zusam­men, der sich hin­ter den zwei Wor­ten „Hei­mat Euro­pa“ ver­birgt. Dabei gelingt es ihnen, ganz unter­schied­li­che – affir­ma­ti­ve bis kri­ti­sche – Posi­tio­nen zu Wort kom­men zu las­sen und damit einen wich­ti­gen Bei­trag zur – nicht zuletzt seit dem Brexit und den west-östlichen Span­nun­gen um die Migra­ti­ons­po­li­tik – viru­len­ten Debat­te um die Zukunft der Euro­päi­schen Uni­on vor­zu­le­gen :  Sie eröff­nen ein Kalei­do­skop unter­schied­lichs­ter Zugän­ge zu Euro­pa, die sich nicht im Klein-Klein der Tages­po­li­tik ver­lie­ren, son­dern auf einer grund­sätz­li­chen Ebe­ne über das Wesen und Fun­da­ment Euro­pas reflektieren.

So facet­ten­reich wie die inhalt­li­chen Posi­tio­nen sind die fach­li­chen Dis­zi­pli­nen und biografisch-regionalen Hin­ter­grün­de der Bei­trä­ger, unter denen sich nicht nur deut­sche und west­eu­ro­päi­sche Autoren, son­dern gera­de auch sol­che mit Bezug zum öst­li­chen Euro­pa fin­den :  die 1973 in Zagreb gebo­re­ne dalmatisch-österreichische Schrift­stel­le­rin Anna Baar, der Buda­pes­ter Phi­lo­soph Ist­ván M. Fehér, Dean Komel, der an der Uni­ver­si­tät Lai­bach Gegenwarts- und Kul­tur­phi­lo­so­phie lehrt, sowie die slowenisch-ungarische Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Ilma Rakusa.

In bemer­kens­wer­ter Wei­se reflek­tiert der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und frü­he­re Prä­si­dent der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te Die­ter Borchmey­er die mul­ti­na­tio­na­le Viel­falt des Kon­ti­nents :  „Euro­pa, euro­päi­sches Iden­ti­täts­ge­fühl, ist ein Amal­gam der ver­schie­de­nen, in Jahr­hun­der­ten gewach­se­nen natio­na­len und regio­na­len Men­ta­li­tä­ten und Kul­tur­tra­di­tio­nen, kein von ihnen abzu­zie­hen­des farb­lo­ses Abs­trak­tum, kei­ne jeg­li­che Varie­tä­ten zum Ver­schwin­den brin­gen­de Nacht, in der alle Kat­zen grau sind.“ Und so hält Borchmey­er der – auch in ein­zel­nen ande­ren Bei­trä­gen des Sam­mel­ban­des zu spü­ren­den – For­de­rung, „nicht mehr in natio­na­len, son­dern in euro­päi­schen Kate­go­rien zu den­ken“, ent­ge­gen, dass „hier ein Gegen­satz kon­stru­iert [wird], der gera­de das ver­hin­dert, was man zu errei­chen strebt :  ein ver­trau­tes Euro­pa, in dem die Ange­hö­ri­gen der ver­schie­de­nen Natio­nen wirk­lich zu Hau­se sind“.

Die Mehr­heit der Ver­fas­ser geht den plau­si­blen Weg, Euro­pa nicht räum­lich, son­dern viel­mehr geis­tig als Hei­mat zu ver­ste­hen. So erscheint es Fehér erst mög­lich, Euro­pa als Hei­mat zu den­ken, wenn wir „vom Gegen­d­haf­ten abse­hen und uns dem ‚Geis­ti­gen‘ zuwen­den“: „Ideen kön­nen, zumal gemein­schaft­li­che, Hei­mat kon­sti­tu­ie­ren. ‚Die euro­päi­schen Natio­nen mögen noch so sehr ver­fein­det sein‘, schrieb hier­zu Huss­erl, ‚sie haben doch eine beson­de­re inne­re Ver­wandt­schaft im Geis­te‘.“ Die­se sieht Fehér im Beson­de­ren gestif­tet durch die „euro­päi­schen Wer­te und das, was sie beinhal­ten, die abendländisch-europäische Phi­lo­so­phie und Lebensanschauung“.

Da gera­de das Schlag­wort der ‚euro­päi­schen Wer­te‘ – und dies nicht nur in Fehérs Auf­satz sowie ande­ren Bei­trä­gen des vor­lie­gen­den Ban­des – all­zu schnell auf­ge­ru­fen wird, wenn es um das geis­ti­ge Fun­da­ment Euro­pas geht, ist der Bei­trag des Ethi­kers Fran­zis­kus von Hee­re­mann beson­ders bedeut­sam. Für den Pro­fes­sor der Philosophisch-Theologischen Hoch­schu­le Val­len­dar führt eine aus­schließ­li­che Beru­fung auf – letzt­lich sub­jek­tiv begrün­de­te – Wer­te nicht nur zu einem „Treib­sand aus Wer­tig­kei­ten, die gegen­ein­an­der ver­rech­net wer­den kön­nen und deren Hier­ar­chie ins Belie­ben gestellt ist“; viel­mehr sieht er zudem die Gefahr einer Gesin­nungs­dik­ta­tur, „die von ihren Unter­ta­nen for­dert, all das zu über­neh­men, was der aktu­el­le Herr­scher – und das ist in der Demo­kra­tie die Mehr­heit – schätzt“. Dem­ge­gen­über setzt von Hee­re­mann auf die Men­schen­wür­de als iden­ti­tä­re Grund­la­ge Euro­pas: „Die Fra­ge nach unse­rer letz­ten Iden­ti­tät ist die, ob wir, gespeist aus wel­chen reli­giö­sen, phi­lo­so­phi­schen, welt­an­schau­li­chen, kul­tu­rel­len Quel­len auch immer, an die­sem Bekennt­nis zur ‚Sakra­li­tät der Per­son‘ (Hans Joas) unbeirr- und unver­führ­bar fest­hal­ten. Die Sakra­li­tät der Per­son ist aber in der Wei­se die Iden­ti­tät Euro­pas, dass Euro­pa weder behaup­ten noch wol­len kann, dass es bloß die sei­ne wäre, noch kon­sta­tie­ren kann, es [Euro­pa; Anm. d. Verf.] habe sie – es ent­sprä­che schon sei­ner Identität.“

Til­man Asmus Fischer (DOD 6/2019)