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Titelbild: Neptunbrunnen in Danzig

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Europa als Plattform erfolgreicher Krisenbewältigung?

Erinnerungen an den polnischen Politiker Bronisław Geremek und Ausblicke in Europas Zukunft

Bronisław Geremek verfügte über eine jener außer­ge­wöhn­lichen Biografien, die sich kaum in ein paar Sätzen zusam­men­fassen lassen: Der 1932 in Warschau geborene Geremek war ein metho­disch fortschritt­licher, auch inter­na­tional hoch anerkannter Histo­riker; er war während der kommu­nis­ti­schen Volks­re­publik ein promi­nenter Dissident und hat später als Staatsmann insbe­sondere Polens Außen­po­litik und den europäi­schen Einigungs­prozess maßgeblich geprägt. Geremek ist 2008 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Anlässlich seines 90. Geburts­tages hat 2022 in Krakau ein Gedenk-Kolloquium statt­ge­funden, dessen Vorträge nun unter dem Titel Europa und die Europäer in der Schrif­ten­reihe des Deutschen Polen-Instituts erscheinen konnten.

Thema des Krakauer Kollo­quiums waren Perspek­tiven aus der polni­schen Wissen­schaft zur Zukunft der Europäi­schen Union. Doch auf den ersten rund 100 Seiten steht zunächst die Person Bronisław Geremek im Vorder­grund. Henryk Szlajfer, der kennt­nis­reich Geremeks wissen­schaft­liches Profil als Histo­riker beschreibt, hebt hervor, dass in Geremeks politi­schem Handeln »die Ukraine stets einen beson­deren und exponierten Stellenwert« besessen habe. Ähnlich auch Michel Foucher: Er legt dar, dass Geremek als Histo­riker wie als Politiker in langen Zeiträumen gedacht habe und in der Lage gewesen sei, Fakten in Bezug zu unter­schied­lichen Kontexten zu setzen. An »der Grenze im Osten Europas« habe Geremek, den er hier wörtlich zitiert, so bereits frühzeitig »ein poten­ti­elles Drama« erkannt. In weiteren Beiträgen wird die hohe Bedeutung deutlich, die Geremek dem Weimarer Dreieck zwischen Polen, Deutschland und Frank­reich zumaß sowie sein Eintreten für eine trans­at­lan­tische Integration Polens im Rahmen der NATO, aber auch die Hemmnisse für eine gelungene Zusam­men­arbeit, mit denen Geremek als polni­scher Außen­mi­nister im eigenen Land wie auch vonseiten der Partner­länder zu tun hatte. Eine gewisse Ausdauer ist aller­dings erfor­derlich, um den detail­lierten zeitge­schicht­lichen Schil­de­rungen in diesem Abschnitt zu folgen.

Gleich der erste Beitrag des zweiten Teils führt mitten hinein in die schwie­rigen Heraus­for­de­rungen, vor die sich die Europäische Union im Jahr 2025 gestellt sieht. Janusz Józef Węc fragt, ob eine gemeinsame Sicherheits- und Vertei­di­gungs­po­litik »die Position der EU auf der inter­na­tio­nalen Bühne wesentlich verstärken« könne. Den Optimismus von Węc, dass dies wiederum ein Beitrag zur »Stärkung des trans­at­lan­ti­schen Sicher­heits­systems« sein könne, lässt die geradezu koope­ra­ti­ons­feind­liche Haltung der neuen Regierung in den USA aller­dings fragwürdig erscheinen. Inter­essant ist die Position von Jac Barcz, der argumen­tiert, die EU habe sich – von der Ölkrise bis zur Covid-Pandemie – gerade als Plattform der Krisen­be­wäl­tigung zunehmend konso­li­diert und dadurch an Profil gewonnen: Ein Ausdruck dessen sei der »beispiellose Beschluss über die Gründung des Wieder­auf­bau­fonds« zur Überwindung der Pande­mie­folgen im Jahr 2021 gewesen, »der den Haushalt der EU […] revolutionierte«.

Agnieszka Grzelak behandelt die Möglich­keiten der EU beim Umgang mit Mitglieds­staaten, die das Prinzip der Rechts­staat­lichkeit außer Kraft setzen, wie insbe­sondere Ungarn sowie Polen unter seiner letzten Regierung. Leider, meint Grzelak, habe »die EU bisher keine großen Erfolge im Bereich der Rechts­staat­lichkeit davon­ge­tragen«. Ernst­hafte Sanktionen dürften deshalb »nicht von vorne­herein ausge­schlossen« werden und es solle keine Rabatte bei der Rechts­staat­lichkeit geben, nur weil der jeweilige Staat auch konstruktive Leistungen – wie die Aufnahme von Geflüch­teten – erbringe. Hier schließt auf andere Weise auch Beata Ociepka an, wenn sie kritisch hervorhebt, dass ökono­mische Inter­essen der EU-Mitgliedsstaaten beim Umgang mit dem autori­tären Russland gegenüber den Bedenken der osteu­ro­päi­schen Mitglieds­staaten im Vorder­grund gestanden hätten.

Bożena Gierat-Bieroń greift die Idee eines »europäi­schen Gemein­schafts­geistes« auf und fragt, inwiefern Insti­tu­tionen wie ein gemein­sames Kultur­er­bejahr und das Brüsseler Haus der Europäi­schen Geschichte geeignet seien, um ein europäi­sches »Metanar­rativ« zu entwi­ckeln, das weder nationale Erinne­rungs­land­schaften überschreibt, noch Europa einseitig glori­fi­ziert. Maciej Jastrzębiec-Pyszyński stellt schließlich Überle­gungen an, wie in Zukunft globale Allianzen nach dem Modell der früheren Europäi­schen Gemein­schaft für Kohle und Stahl dabei helfen könnten, kritische Rohstoffe für Energie­wende und Dekar­bo­ni­sierung bereit­zu­stellen: »Ist eine Verbindung von Rohstoffen und Freund­schafts­diensten mit der Sorge um globale Güter wie dem Klima­schutz vorstellbar?« 

Europa bleibt ein Sehnsuchtsort, aber – das zeigen die Beiträge in diesem Band –  Europa ist auch in hohem Maße komplex. Europa und die Europäer dokumen­tiert, dass das ernst­hafte Nachdenken über die EU weitergeht, nicht zuletzt in Polen, und dass dabei Akzente, wie sie nach 1989 unter anderem durch Bronisław Geremek gesetzt wurden, weiterhin Orien­tierung bieten können. 

Alexander Klein­schrodt