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Erinnerungen und Erfahrungen von „Elbingerinnen“

Frauen aus verschiedenen Generationen und Nationen im Gespräch

Sabine Hetz, geboren 1937, ansässig in der Schweiz, eine gesuchte Überset­zerin und Frau von Welt ;  Marie-Luise Salden, geboren 1939, eine bildende Künst­lerin (Schwer­punkt bunter Holzschnitt) mit vielsei­tigen Inter­essen (u. a. Delphin-Therapie und Förderung von Friedens­pro­jekten) ;  Waltraud Soltau, geboren 1941, entstammt einer Baptis­ten­fa­milie, ist wohnhaft in Dortmund und setzt sich für schwer­be­hin­derte Kinder ein (sie ist selbst Mutter eines autis­ti­schen Sohnes) ;  Ute Blume, geboren 1960, ansässig in Hamburg, Büroan­ge­stellte in einem Schiff­fahrts­un­ter­nehmen, Mutter zweier Töchter ;  Ilona Nowacka, geboren 1979, Mutter und Vollzeit­pfle­gerin eines schwer­be­hin­derten Mädchens, soziale Aktivistin (z. B. im Rotary-Club) ;  Anita Pawlak, geboren 1979, Business-Beraterin und Coach, Mitbe­grün­derin einer Non-profit-Gesellschaft „Gesunde Nahrungs­mittel“, Veganerin und Tierfreundin ;  Adriana Ronżewska-Kotyńska, geboren 1981, Archi­tektin, Künst­lerin, Leiterin des Elbinger Kunst­zen­trums Galeria El ;  und Aleksandra Hońko, 1984 geboren, Kunst­leh­rerin und Künst­lerin, Welten­bumm­lerin, Ehefrau und Mutter. – Was haben die hier genannten Frauen gemeinsam ?  Sie sind alle mitein­ander durch Elbing verbunden, das für manche von ihnen (die Polinnen) einen Wohn- und Tätig­keitsort bildet, während es für die deutsche Frauen den Geburtsort bezeichnet bzw. die Stadt ist, in der sie ihre Kindheit verbrachten oder wo – wie im Falle der erst 1960 geborenen Ute Blume – ihre familiäre Wurzeln liegen.

Doch könnten zwischen den Frauen nicht noch weitere Gemein­sam­keiten bestehen ?  Gibt es vielleicht – ungeachtet offen­sicht­licher Unter­schiede im Alter und in den Lebens­wegen – Paral­lelen, die auf für Frauen spezi­fi­schen Erleb­nissen und Erinne­rungs­weisen beruhen ?  Könnten sie sich gegen­seitig mit Verständnis begegnen, sich mitein­ander verstän­digen und – vielleicht – anfreunden ?  Und ließen sich – nicht zuletzt – auch Spuren davon entdecken, dass sie alle in gewisser Weise von Elbing, „ihrer“ Stadt, geprägt werden ? 

Diese Fragen kreisten offenbar im Kopf der jungen Elbin­gerin Agnieszka Kopczyńska, als sie die Arbeit an ihrem Buch Elblążanki (Elbin­ge­rinnen) begann. Einen Ansporn zu diesem Unter­nehmen gab ihr – wie die Autorin selbst betont – das vom Elbinger Museum entworfene und durch­ge­führte Projekt „Zeugnisse. Geschichte in Gesichtern – Geschichts­ge­sichter“, bei dem sie selbst als Dolmet­scherin mitge­ar­beitet hatte und dessen Ziel es war, Kindheits­er­in­ne­rungen der ehema­ligen deutschen Bewoh­ne­rinnen und Bewohner von Elbing zu sammeln und zu bewahren. Das augen­fäl­ligste Ergebnis dieses Vorhabens bildete eine eigene Sonder­aus­stellung zu diesem Thema, die mittler­weile sogar dauerhaft als eigener Bereich in das Museum integriert worden ist. Dort gibt es zahlreiche Fotos von damaligen kleinen wie erwach­senen Elbin­ge­rinnen – in schicken Kleidern, in Schul­kluft oder festlicher Kommunions- bzw. Konfir­ma­ti­ons­be­kleidung oder in Badean­zügen, mit Kinder­wagen, Puppen und Schul­tüten, im Kreis der Kamera­dinnen oder mit einem momentan von der Front beurlaubten Verlobten.

Dank dem Projekt von Agnieszka Kopczyńska wird nun das Schicksal von manchen dieser Mädchen und Frauen erschlossen und einem größeren Lesepu­blikum vor Augen geführt. Eine von ihnen – die Großmutter von Ute Blume – trennte sich von einem gewalt­tä­tigen Lebens­partner und musste sich als allein­er­zie­hende Mutter durch­kämpfen, – was auch heute noch eine schwierige Aufgabe ist, ähnelte vor 90 Jahren einer kaum zu bewäl­ti­genden Heraus­for­derung und erfor­derte großen Mut. Andere Frauen erwiesen sich als tüchtige Geschäfts­frauen – so die Großmutter von Sabine Hetz, die nach dem Tode ihres Ehemanns souverän ein großes, aus fünf Lebens­mit­tel­läden bestehendes Elbinger Unter­nehmen führte. Auch die Großmütter und Urgroß­mütter der polni­schen Protago­nis­tinnen hatten sich unter härtesten Lebens­be­din­gungen zu bewähren ;  die Urgroß­mutter von Aleksandra Hońko musste beispiels­weise Zwangs­arbeit auf einem deutschen Bauernhof leisten und verlor am Kriegsende ihr noch kleines Kind.

Die Arbeit von Agnieszka Kopczyńska, die von der Stadt durch ein Stipendium unter­stützt worden ist, zielte von Beginn an auf eine sinnvolle Nutzung der sogenannten sozialen Medien ab :  Facebook-Nutzer konnten die Entwicklung des Vorhabens Schritt für Schritt mit vollziehen und kamen auf diese Weise, lange bevor das Buch erschienen ist, den Heldinnen dieser Publi­kation nahe. Das Buch selbst ist nicht leicht zu klassi­fi­zieren und wehrt sich dagegen, einer bestimmten Rubrik zugeordnet zu werden. Die Autorin übernimmt in gewisser Weise die Rolle der Modera­torin, die das Wort aller­dings weitest­gehend ihren deutschen und polni­schen Gesprächs­part­ne­rinnen überlässt. Außer­ge­wöhnlich ist dabei, dass die einzelnen Inter­views geschickt zu einer lockeren Unter­haltung oder – noch besser – zu einer Plauderei bei einem Kaffee verflochten werden, obwohl die Dispu­tan­tinnen einander zwar in verschie­denen Konstel­la­tionen begegnet, aber niemals alle gemeinsam zusam­men­ge­troffen sind. Das Gespräch wird von der Autorin in thema­tische Blöcke gegliedert ;  es geht z. B. um die Einführung in die Weiblichkeit, um Partner­schaft, das Leben in der Welt der Männer oder um die Frage, ob tatsächlich alle Wege nach Elbing führen. Trotzdem fließen die Dialoge ungezwungen fort ;  und sogar Personen, die für gewöhnlich im Hinter­grund bleiben – wie die Redak­teurin und Korrek­torin des Bandes –, ergreifen das Wort.

Zur Sprache gebracht werden immer wieder Kindheits­er­in­ne­rungen, zuweilen auch Anekdoten. Um hier zumindest ein Beispiel anzuführen :  Auf die Frage der kleinen Sabine (Hetz), wer dieser Mann auf dem Flach­relief sei, gibt ihre Großmutter die pflicht­gemäße Erklärung :  „Das ist unser Führer Adolf Hitler“. Als daraufhin ihre Enkelin nachfragt :  „Und wohin wird der uns führen ? “, ruft sie betre­tenes Schweigen hervor und wird aufge­fordert, endlich den Mund zu halten. Darüber hinaus geben die Inter­view­part­ne­rinnen bereit­willig Auskunft, auch über intime Erfah­rungen, stellen kluge Beobach­tungen an und äußern treffende Diagnosen sowohl von histo­ri­schen Gescheh­nissen als auch von Gegen­warts­phä­no­menen. Natur­gemäß kreisen die Gespräche um Themen wie den Kriegs­alltag, das deutsch-polnische Verhältnis im besetzten Polen, die Ereig­nisse von Flucht und Vertreibung, die Versuche, sich an das Leben in West- bzw. Mittel­deutschland anzupassen, oder auch die Kindheit in einem polni­schen Plattenbau aus der Zeit des real existie­renden Sozialismus.

Berück­sich­tigung finden freilich auch aktuelle Fragen wie die nach sexuellen Beläs­ti­gungen. Mit solchen Zumutungen hatte Sabine Hetz als selbst­be­wusste junge Frau schon in den 1960er Jahren in der Schweiz Erfah­rungen machen müssen (in einem Land, in dem Bürge­rinnen damals übrigens noch kein Wahlrecht hatten). Desgleichen werden die Haltungen disku­tiert, die die polnische PiS-Regierung oder die AfD Behin­derten gegenüber einnehmen. Dies liegt besonders nahe, weil zwei der Befragten Mütter von behin­derten Kindern sind. Schließlich dürfen – bei Gesprächen unter Frauen wohl selbst­ver­ständ­licher Weise – weder die Mode noch die Schön­heits­pflege fehlen – seien es die mit Fett behan­delten dicken Zöpfe, die Utes Mutter trug, seien es franzö­sische Seiden­stoffe und die Halbschuhe von Sabines Mutter oder seien es Adrianas Rautensocken.

Während der Lektüre taucht häufiger das Wort „Schwes­tern­schaft“ (siostrzeństwo) auf, das im feminis­ti­schen Milieu Polens – wie auch in Deutschland – seit einiger Zeit besondere Popula­rität genießt. Es ist Adriana Ronżewska-Kotyńska, die es in den Kontext des vorlie­genden Bandes einführt. Schwerlich dürften die deutschen Nachba­rinnen von Aleksandra Hońkos Urgroß­mutter, die als Zwangs­ar­bei­terin ihrem Töchterchen nur heimlich Kleidungs­stücke schenken konnte, in der Lage gewesen sein, eine Vorstellung von dem zu entwi­ckeln, was „Schwes­tern­schaft“ heute bedeutet. Das zweite Wort, das auf aktuelle Debatten verweist, lautet „Frauen­kraft“ (siła kobiet). Die Stärke der Frauen, die sich in ihrem Durchsetzungs­vermögen, ihrer Energie oder Aufop­fe­rungs­be­reit­schaft ausprägt, tritt in den Bildern hervor, die die Gesprächs­partnerinnen von ihren Müttern und Großmüttern entwerfen. Ute Blume erzählt z. B. von ihrer Großmutter Johanna Peters, die in Elbing als Brief­trä­gerin den Lebens­un­terhalt der ganzen Familie verdiente und sich in ihrer kargen Freizeit der Amateur­pho­to­graphie widmete, oder Ilona Nowacka schildert ihre Großmutter, die wegen des Krieges keine Ausbildung erlangen konnte und somit ihren Lebens­un­terhalt als Arbei­terin im Elektri­zi­tätswerk und als Kiosk-Verkäuferin erwerben musste.

In beson­derem Maße sind schließlich die spezi­fi­schen Spuren von Interesse, die Elbing in den verschie­denen Biogra­phien hinter­lassen hat. Marie-Louise Salden schloss Bekannt­schaft mit dem Elbinger Künstler Bruno Schmialek, der sich nach dem Kriege ebenso wie die Familie Salden in Erlangen nieder­ge­lassen hatte und nun der jungen Lands­männin und späteren Künst­lerin Zeichen­un­ter­richt gab ;  oder das erhalten gebliebene „rote Häuschen“ (die Borgstede-Kolkmann-Villa), das im alten  Elbing Bewun­derung hervorrief, weil es eines der ersten Gebäude mit Zentral­heizung war, und das heute ein Jugend-Kulturzentrum beher­bergt, kann jetzt auch als Wohnhaus gesehen werden, in dem Waltraud Soltau ihre Kindheit verbrachte. So ist Elbing für die deutschen Protago­nis­tinnen des Buches meist ein wichtiger, wenn auch – im Falle von Ute Blume – relativ spät entdeckter Erinne­rungsort, der manche von ihnen (wie Sabine Hetz, die hier noch bis vor kurzem eine eigene Wohnung besaß) immer wieder kraftvoll anzieht. Manchmal wird die Erinnerung auch ganz spontan geweckt – wenn beispiels­weise eine Ansichts­karte, auf der das „rote Häuschen“ abgebildet ist und die der Großonkel von Waltraud Soltau einstmals an Bekannte geschickt hatte, 100 Jahre später auf einem Flohmarkt wieder entdeckt wird. Für Polinnen hingegen ist Elbing vor allem ein Wohnort, – der freilich manchmal regel­recht „domes­ti­ziert“ werden musste. Davon spricht Adriana Ronżewska-Kotyńska, die sich noch einige Jahre, nachdem sie von Posen hierhin gezogen war, ausmalte, wieder zu „fliehen“ – und die jetzt zu den markan­testen Persön­lich­keiten der Stadt und deren Kultur­lebens zählt. So zeigt sich letztlich, dass die Gesprächs­part­ne­rinnen bei allen Unter­schieden zwischen den Genera­tionen und Nationen nicht nur darin zusam­men­finden, die Welt aus der Perspektive von Frauen zu betrachten, sondern sich zugleich auch – im Sinne des Buchtitels – als „Elbin­ge­rinnen“ erweisen.

Joanna Szkol­nicka