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Eine Entdeckungsreise entlang der Ostseeküste

In Volker Koepps bisher letztem Ostsee-Film begegnet dem Publikum ein faszinierender wie spannungsreicher Natur- und Kulturraum

Vielfache Seestücke

In Zei­ten der durch Coro­na beding­ten Iso­la­ti­on schwei­fen die Gedan­ken vie­ler Men­schen zu gelieb­ten Orten, die sie auf­grund von Rei­se­be­schrän­kun­gen gera­de nicht auf­su­chen kön­nen. So man­cher bringt die­se Sehn­sucht in den sozia­len Medi­en durch die Ver­öf­fent­li­chung von See-Bildern – oft Auf­nah­men aus dem letz­ten Urlaub – zum Aus­druck. Und der mari­ti­me Ankerherz-Verlag ver­sieht auf Face­book eines die­ser sei­ner Fotos mit der ver­hei­ßungs­vol­len Zusa­ge :  „Irgend­wann ste­hen wir wie­der am Meer“. Ange­sichts der ästhe­ti­schen Qua­li­tät zumin­dest eini­ger der das Netz flu­ten­den Bil­der könn­te man schon fast davon spre­chen, dass sich die Netz­ge­mein­de des Gen­res der – bis­her eher mit der klas­si­schen Male­rei asso­zi­ier­ten – „See­stü­cke“ bemäch­tigt hat.

Ein wei­te­res Bei­spiel für die trans­me­dia­le Aneig­nung der Seestück-Motivik stellt der bereits im ver­gan­ge­nen Jahr auf DVD ver­öf­fent­lich­te Doku­men­tar­film See­stück des Regis­seurs Vol­ker Koepp dar. Die­ser bil­det zugleich den bis­he­ri­gen Höhe­punkt der inten­si­ven fil­mi­schen Befas­sung mit der Ost­see, die für Koepp in den 1990er Jah­ren mit sei­nen ers­ten Ostpreußen-Filmen Kal­te Hei­mat und Frem­de Ufer begann, denen nach der Jahr­hun­dert­wen­de u. a. Kuri­sche Neh­rung und Schat­ten­land – Rei­se nach Masu­ren wie auch Ber­lin – Stet­tin und Pom­mern­land folg­ten. Zu nen­nen wäre aber gera­de auch der Doku­men­tar­film Söh­ne, mit dem sich Koepp des indi­vi­du­el­len Schick­sals einer west­preu­ßi­schen Ver­trie­be­nen­fa­mi­lie annahm.

Der kul­tur­ge­schicht­li­chen Tra­di­ti­on, in die sich Koepp nun mit See­stück stellt, ist er sich durch­aus bewusst. So den­ke er, wenn er an See­stü­cke den­ke, nicht nur „an die gro­ßen fil­mi­schen Bil­der, die ich mit oder ohne Kame­ra an der Ost­see erlebt habe“. Viel­mehr sei­en es „auch die Darstel­lungen in der Male­rei, die immer wie­der in Gedan­ken auf­schei­nen ;  schließ­lich ist der Begriff ‚See­stück‘ ein fes­ter Ter­mi­nus in der Bil­den­den Kunst, gebräuch­li­cher noch als ‚Land­stück‘. Die Moti­ve :  die hohen Him­mel über dem Meer und ihre Wol­ken­bil­dun­gen. Wel­len und Stür­me. Über­haupt :  der Wind und die Ele­men­tar­kräf­te. Buchen­wäl­der, die bis an die Strän­de rei­chen. Steil­küs­ten und Wan­der­dü­nen. Die gro­ßen Strö­me, die sich übers Haff ins Meer ergie­ßen. Das win­ter­li­che Erstar­ren des Was­sers an den Küs­ten, die bizar­ren Eis­bil­dun­gen, Plat­ten, die sich wie gefro­re­ne Wel­len über­ein­an­der schieben.“

Themen, Orte und Menschen

Wenn Koepp das letzt­ge­nann­te Phä­no­men im Kom­men­tar zu sei­nem Film mit der kri­ti­schen Anmer­kung ver­bin­det, dass dies „aller­dings auf­grund der Kli­ma­er­wär­mung nicht mehr oft zu erle­ben“ sein dürf­te, deu­tet sich bereits an, dass die Ost­see dem Zuschau­er in sei­nem Film nicht nur als sinn­lich erfahr­ba­re Land­schaft begeg­net, son­dern in ihrer fas­zi­nie­ren­den Mehr­di­men­sio­na­li­tät :  als Öko­sys­tem, Lebens‑, Wirtschafts- und Kul­tur­raum, jedoch auch als Feld nicht uner­heb­li­cher poli­ti­scher Span­nun­gen. Die­se the­ma­ti­sche Viel­falt spie­gelt sich sowohl in den unter­schied­li­chen Orten, die Koepp für sei­nen Film auf­sucht als auch in dem breit gefä­cher­ten Spek­trum an Men­schen, die der Regis­seur por­trä­tiert hat.

Im Uhr­zei­ger­sinn betrach­tet, führt Koepp den Zuschau­er auf die Insel Use­dom, nach Greifs­wald und in sei­nen Bod­den, nach Rügen, War­ne­mün­de, auf die däni­sche Insel Born­holm, an die schwe­di­sche Schä­ren­küs­te bei Simp­näs, in das est­ni­sche Fischer­dorf Lin­dii, zum let­ti­schen Strand bei Domes­nes (Kap Kolka) – dem nörd­lichs­ten Punkt Kur­lands –, nach Königs­berg und zum pom­mer­schen Bade­ort Swi­ne­mün­de. In sei­ner Cho­reo­gra­phie bin­det sich Koepp jedoch nicht an eine geo­gra­phi­sche Rei­hen­fol­ge, son­dern ver­knüpft die ein­zel­nen Orte anhand the­ma­ti­scher Asso­zia­tio­nen, so dass sich viel­fäl­ti­ge Ver­glei­che, Span­nun­gen und Per­spek­ti­ven eröffnen.

So ver­mag der Zuschau­er nach­zu­emp­fin­den, dass die Dreh­ar­bei­ten für den Regis­seur selbst eine „Entdeckungs­reise“ waren, wie er rück­bli­ckend fest­stellt :  „Der Rei­se­schrift­stel­ler Wil­li­bald Alexis hat vor bald 200 Jah­ren notiert, dass der Wan­dern­de, der vor sei­ner Rei­se schon alles weiß, unter­wegs nichts mehr sieht und auch kei­ne wirk­li­chen Erleb­nis­se hat.“ Dies bezie­he sich im Fal­le von See­stück auch auf „die für die­sen Film so wich­ti­gen Bil­der und Stim­mun­gen aus der Natur. Ohne direkt dar­auf zu spre­chen zu kom­men, soll man spü­ren kön­nen, war­um die Ost­see eine so gro­ße Anzie­hungs­kraft für Maler und Lite­ra­ten hat­te und war­um sie sich so beson­ders für die Bil­dung von Mythen eignete.“

Unter den deut­schen Prot­ago­nis­ten sind mit den Bio­lo­gen Micha­el Suc­cow – eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor an der Greifs­wal­der Uni­ver­si­tät sowie Trä­ger des „Alter­na­ti­ven Nobel­prei­ses“ – und Ulrich Bath­mann – Direk­tor des Leibniz-Instituts für Ost­see­for­schung in War­ne­mün­de – Stim­men pro­mi­nent ver­tre­ten, die für die öko­lo­gi­schen Bedro­hun­gen des süd­li­chen Ost­see­raums sen­si­bi­li­sie­ren. In Swi­ne­mün­de trifft der Zuschau­er auf Lidia Vit­ten­dorf und Joan­na Aga­tow­s­ka, die der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung  der pom­mer­schen Stadt ange­hö­ren, und im Nor­den Ost­preu­ßens auf die in Ros­sit­ten leben­de und arbei­ten­de Gali­na Lugutuso­wa und ihre Fami­lie sowie den Königs­ber­ger Literaturwissen­schaftler Prof. Dr. Wla­di­mir Gil­ma­nov. Das Bal­ti­kum begeg­net in Per­son zwei­er enga­gier­ter Frau­en :  Las­ma Med­ne, die nahe Domes­nes lebt und im dor­ti­gen „Zen­trum für Natur“ arbei­tet. Mer­le Jant­son zog vor eini­gen Jah­ren in das Fischer­dorf Lin­dii an der Per­nau­er Bucht und ist dort im Vor­stand einer Non-Profit-Organisation für Kunst und Frei­zeit tätig. Eines der Gesich­ter Skan­di­na­vi­ens in dem Doku­men­tar­film ist der pen­sio­nier­te Hee­res­oberst Joa­kim Col­lin, der die Som­mer in sei­nem Haus in den Schä­ren nörd­lich von Stock­holm verbringt.

Zwischen Idylle und Kritik

Koepps „Ent­de­ckungs­rei­se“ bie­tet bei­des :  die berüh­ren­de ästhe­ti­sche Erfah­rung der idyl­li­schen – teils auch romantisch-rauen – Ost­see, ein­ge­fan­gen durch groß­ar­ti­ge Ein­stel­lun­gen von Kame­ra­mann Uwe Mann, eben­so wie eine fein­füh­li­ge Dia­gno­se der Pro­ble­me, die den Ost­see­raum heu­te beein­träch­ti­gen, bzw. der Sor­gen, die sei­ne Bewoh­ner umtrei­ben. Für eine sol­che dop­pel­te Per­spek­ti­ve ist der Regis­seur Koepp schon des­halb prä­de­sti­niert, weil er – wie bereits sei­ne bis­he­ri­gen Ostsee-Filme bele­gen – die Gegen­wart stets vor dem Hin­ter­grund der span­nungs­rei­chen His­to­rie der Regi­on betrach­tet :  „Der geo­gra­fi­sche Raum der Ost­see hat eine lan­ge Geschich­te aus Krie­gen, Tei­lun­gen, Ver­trei­bun­gen und Flücht­lings­strö­men.“ Ihn inter­es­sie­re die Geschich­te der Deut­schen und ihrer Nach­barn im Osten und Nor­den :  „Die Hoff­nun­gen nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs. Und die neu­en Span­nun­gen der letz­ten Zeit :  Groß­ma­nö­ver der Nato an den bal­ti­schen Küs­ten und rus­si­sche Scheinangriffe.“

Es mag ins­be­son­de­re für das Publi­kum in Deutsch­land – des­sen geo­po­li­ti­scher Dis­kurs, sofern es ihn über­haupt gibt, noch von der Idee eines „Endes der Geschich­te“ und dem Ein­strei­chen der Frie­dens­di­vi­den­de nach Unter­gang der Sowjet­uni­on geprägt ist – auf­rüt­telnd sein, wie die mili­tä­ri­schen Span­nun­gen zwi­schen NATO und Russ­land das Leben der Men­schen wei­ter öst­lich und nörd­lich an der Ost­see prä­gen. Dies arti­ku­lie­ren Koepps Gesprächs­part­ner. Einer Ursa­chen­ana­ly­se ent­hält sich der Regis­seur :  Dies ent­spricht prin­zi­pi­ell der Kon­zep­ti­on sei­ner (wohl­ge­merkt) Dokumentar-Filme und lässt sich hier auch kon­se­quent durch­hal­ten – anders als dies beim Blick auf ein ande­res Meer wäre, das Schwar­ze Meer, bei dem die völ­ker­rechts­wid­ri­ge Annek­ti­on der Krim ein­deu­ti­ge Posi­tio­nie­run­gen unaus­weich­lich for­dern würde.

Dem deut­schen Publi­kum ver­trau­te­re The­men, derer sich See­stück annimmt, sind der Umwelt­schutz und die Lage der Fische­rei­wirt­schaft. „Schon vor Jah­ren“, erin­nert sich Koepp, „erzähl­ten mir Fischer von Phosphor-Resten aus Weltkriegs-Munition in ihren Fischer­net­zen, mit denen sie sich die Hän­de ver­brann­ten“. Heu­te domi­nier­ten hin­ge­gen die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels :  „Durch die Erwär­mung des Meer­was­sers bil­den sich Blau­al­gen­tep­pi­che und Todes­zo­nen immer wei­ter aus.“ Jedoch auch die „all­ge­mei­ne Ver­schmut­zung der Mee­re“ sei „ein gro­ßes Problem“.

Mit den Fischern kehrt Koepp zu einem der Haupt­mo­ti­ve klas­si­scher „See­stü­cke“ – in Öl oder Acryl auf Lein­wand – zurück. Jedoch ist ihr Leben – zumin­dest mit Blick auf des­sen öko­lo­gi­sche und wirt­schafts­po­li­ti­sche Rahmen­bedingungen – här­ter als zu den Zei­ten, als man sie in Gemäl­den fest­hielt :  „Ihr All­tag“, so Koepp, „hat sich durch den Rück­gang der Fisch­be­stän­de und die Regu­lie­rung durch EU-Normen und Fang­quo­ten dras­tisch ver­än­dert.“ Gerin­ge Ver­diens­te führ­ten für vie­le zur Auf­ga­be des Berufs :  „Wie in der Land­wirt­schaft fin­det auch hier die Ver­drän­gung durch hoch­tech­ni­sier­te, indus­tria­li­sier­te Unter­neh­men statt.“

Tilman Asmus Fischer