Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

„Ein wildes Biest, die Weichsel“

Die Weichsel in der deutschen Literatur

Von Peter Oliver Loew

So fern liegt die­ser Fluss mitt­ler­wei­le vom deut­schen Sprach­ge­biet, von deut­schen Lebens­wel­ten und Er­fah­rungs­horizonten, dass sie kei­ne emo­tio­na­le Rol­le mehr zu spie­len scheint, die Weich­sel ist aus der deut­schen Lite­ra­tur mehr oder weni­ger her­aus­ge­fal­len. In der pol­ni­schen Lite­ra­tur ist das ganz anders ;  seit der Frü­hen Neu­zeit spielt sie hier eine wich­ti­ge Rol­le, seit Sebas­ti­an Fabi­an Klo­no­wic’ Vers­dich­tung Flis (Der Flö­ßer, 1595) oder Jan Chry­zostom Paseks Erin­ne­run­gen aus der zwei­ten Hälf­te des 17. Jahr­hun­derts, die bis heu­te Schul­lek­tü­re sind.

In deut­schen Lan­den stand die Weich­sel frü­her aber auch höher in lite­ra­ri­schem Kurs als heu­te. Als Con­rad Cel­tis 1502 sei­ne Amo­res ver­öf­fent­lich­te, die Vier Bücher Lie­bes­ge­dich­te, gemäß den vier Him­mels­ge­gen­den Deutsch­lands, spiel­te die Weich­sel hier eine her­vor­ge­ho­be­ne Rol­le :  „Vis­tu­la car­pa­thi ducens radi­ci­bus ort­um“, beginnt er, zu Deutsch:

Weich­sel, du ent­springst am Fuß der Kar­pa­ten, wel­che den Ungarn ihre gol­de­nen Gar­ben brin­gen, da wo sich das Ufer erhebt in schrof­fem Steil­hang und zum Him­mel ragt mit erha­be­nem Berg­joch ;  von dort eilst du hur­tig nach Kra­kau, der drei­fa­chen Stadt, und benetzt die hohe Burg des sar­ma­ti­schen Königs ;  dar­auf win­dest du dich, brei­ter nun, schwei­fend in die Gefil­de Masowiens […]

Und auch dem Unter­lauf der Weich­sel wid­met er sei­ne Auf­merk­sam­keit, schil­dert mit Bedau­ern, dass sich das west­li­che Preu­ßen­land gegen den Deut­schen Orden erho­ben habe, rühmt Thorn, Mari­en­burg und Dan­zig und endet melan­cho­lisch :  „Weich­sel, einst­mals gleich­sam Gren­ze des deut­schen Lan­des, so wirst du mir, dem schon Erschöpf­ten, das Ende der ‚Lie­be‘ sein.“

Ein so schö­nes Lie­bes­lied an die Weich­sel fin­det sich kaum mehr in der deut­schen Lite­ra­tur. Sie ver­schwand jedoch nicht völ­lig aus ihr, tauch­te etwa in der deutsch­spra­chi­gen Gele­gen­heits­li­te­ra­tur der an der Weich­sel gele­ge­nen Städ­te auf. Hier war, schon allei­ne auf­grund sei­ner Grö­ße, Dan­zig füh­rend. Die Stadt hat­te das Glück, vom Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg ver­schont zu blei­ben, wes­halb sich hier eini­ge bedeu­ten­de Barock­dich­ter für eini­ge Zeit auf­hiel­ten, dar­un­ter der jun­ge Chris­ti­an Hof­mann von Hof­manns­wald­au (1616–1679). Er ver­fass­te, als die Braut des pol­ni­schen Königs Wła­dysław IV. Wasa, Cäci­lia Rena­ta von Öster­reich, in den 1630er Jah­ren den Weg nach Polen über Dan­zig nahm, ein Gedicht Die Weichsel-Nymfen an eine König­li­che Braut, in dem es etwa heißt :

[…]
Die Donau bau­te dir die glat­te Win­ter­brü­cken /
Und macht aus Eys dir eine Bahn :
Schaus­tu die Weich­sel freund­lich an ;
So bricht ihr Eys in tau­sent Stü­cken.
Was schmelzt nicht dei­ner Strah­len Macht ?
Was kann vor dir gefro­ren blei­ben ?
Die Kro­nen hat in Brand gebracht /
Wird um den Weichsel-Strom den Win­ter bald ver­trei­ben.
[…]

Und vie­le Jahr­zehn­te spä­ter begann Gott­fried von Diessel­dorff (1668–1745) sei­nen Panegy­ri­kos auf König August II. – berühmt gewor­den als „der Star­ke“ – mit den nach­fol­gen­den Worten :

Groß­mäch­tigs­ter August und Säch­si­scher Piast,
Der Du zur Sei­ten Ruhm das Glü­cke zu den Füßen,
Den Segen auf dem Haupt, die Macht in Hän­den hast
Und Elb- und Weichsel-Strohm als Schwes­tern hei­ßest flüs­sen,
Will­kom­men tau­send­mahl !  Dein Ein­zug sey beglückt !

Mit den Tei­lun­gen Polens und dem Unter­gang des polnisch-­litauischen Staa­tes ent­fie­len zwangs­läu­fig all die­se Anläs­se, um die Weich­sel in die Dich­tung auf­zu­neh­men. War der Fluss bis 1772 nur durch pol­ni­sches Staats­ge­biet geflos­sen, durch­ström­te sein Unter­lauf nun das König­reich Preu­ßen, seit der drit­ten und letz­ten Tei­lung von 1795 gehör­te sogar War­schau zum preu­ßi­schen Staat. Unter der preu­ßi­schen Beam­ten­schaft der Stadt befand sich kein gerin­ge­rer als E. T. A. Hoff­mann, der sich aller­dings lite­ra­risch nicht mit dem gro­ßen Fluss aus­ein­an­der­setz­te, an dem er eini­ge Jah­re verbrachte.

Die Roman­tik ver­band sich mit einer lite­ra­ri­schen Ent­de­ckung der Flüs­se, im deut­schen Sprach­raum in ers­ter Linie natür­lich des Rheins. Als 1830 im rus­si­schen Tei­lungs­ge­biet Polens der Novem­ber­auf­stand aus­brach und die libe­ra­le Öffent­lich­keit in deut­schen Lan­den begeis­tert Par­tei nahm für die gegen das rus­si­sche Joch kämp­fen­den Auf­stän­di­schen, such­ten die Dich­ter Par­al­le­len zwi­schen den bei­den „Natio­nal­strö­men“. Gui­do Gör­res (1805–1852) schrieb sein Gedicht Die Weich­sel und der Rhein, in dem er zunächst schil­dert, wie trau­rig die Stim­mung nach der Nie­der­schla­gung des Auf­stands in Polen ist :

Rebel­lin !  die so oft sich bäum­te,
Die brau­send höhn­te mei­ne Macht,
Die keck und frei­heit­mut­hig schäum­te,
Die wir­belnd mich so oft ver­lacht,
Dich hat die Rache nun gefun­den,
Ein Scla­ve liegst du nun gebun­den,
Der schwei­gend mei­nes Win­kes harrt.
Schließ­lich warnt die Weich­sel den Rhein, ähn­li­ches kön­ne auch ihm widerfahren.

Auch Lud­wig Uhland (1787–1862) mal­te ein dra­ma­ti­sches Weich­sel­bild (in sei­nem Gedicht Mickiewicz) :

An der Weich­sel fer­nem Stran­de
Tobt ein Kampf mit Don­ner­schall,
Weit­hin über deut­sche Lan­de
Rollt er sei­nen Wie­der­hall.
Schwert und Sen­se, schar­fen Klan­ges,
Drin­gen her zu unsern Ohren
Und der Ruf des Schlacht­ge­san­ges :
»Noch ist Polen nicht verloren.«

Nach der Roman­tik, im Zei­chen von Rea­lis­mus und Natu­ra­lis­mus, gewan­nen die Flüs­se wei­te­re lite­ra­ri­sche Bedeu­tung. Sie wur­den selbst zum Gegen­stand der Lite­ra­tur, und wenn es sich anbot, führ­ten sie zur Dra­ma­ti­sie­rung von Hand­lun­gen. So war bereits 1838 in der Zei­tung Dan­zi­ger Dampf­boot die als „Rei­se­aben­teu­er“ bezeich­ne­te Erzäh­lung Der gespens­ti­ge Rei­ter erschie­nen, die vom Eis­gang auf der Weich­sel berich­te­te :  Ein Rei­sen­der kann den gefähr­li­chen Strom nicht über­que­ren, wähnt auf dem Weg hin zur Gütt­län­der Fäh­re einen Schim­mel mit Rei­ter neben sich und erfährt, die­se Erschei­nung tau­che immer dann auf, wenn Gefahr in Ver­zug sei, seit­dem vor Jah­ren ein Deich­ge­schwo­re­ner vor Ver­zweif­lung sich und sein Pferd in eine Bre­sche im Deich gestürzt habe, deren Ent­ste­hung er nicht habe ver­hin­dern kön­nen. Die­se Erzäh­lung reg­te Theo­dor Storm ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter zu sei­ner Novel­le Der Schim­mel­rei­ter an, die frei­lich nicht mehr an der Weich­sel, son­dern in Nord­fries­land ange­sie­delt ist.

Die ent­fes­sel­ten Weich­sel­flu­ten ergos­sen sich oft bis nach Dan­zig hin­ein und über­schwemm­ten die ärme­ren öst­li­chen Stadt­tei­le. Der in Dan­zig auf­ge­wach­se­ne Aaron Bern­stein (1812–1884) lässt sei­ne Erzäh­lung Die Kin­der (1840) fol­gen­der­ma­ßen beginnen :

Die ver­häng­niß­vol­le Nacht, wel­che Dan­zig mit einer Über­schwem­mung bedroht hat­te, war vor­über. Aus den nied­ri­ger gele­ge­nen Vor­städ­ten war geret­tet wor­den, was nur zu ret­ten war. Die gan­ze Nacht hin­durch, auch schon eini­ge Tage vor­her sah man fort­wäh­rend Ret­tungs­bö­te in der zum Theil schon über­schwemm­ten Vor­stadt Lang­gar­ten anlan­gen. Kin­der, Grei­se, Säug­lin­ge, Kran­ke, was sich nur in Noth befand, und der Selbst­hül­fe unfä­hig war, wur­de ein­ge­führt, und so sam­mel­te sich daselbst eine unzäh­li­ge Men­ge Unglück­li­cher, die fast alle ihre Woh­nun­gen, bis zur Hälf­te im Was­ser ste­hend, ver­las­sen hatten […].

Etwas wei­ter strom­auf­wärts, an der Gütt­län­der Fäh­re, ging es eben­falls hoch her, wenn im Früh­jahr das Eis auf dem Fluss barst, die Schol­len sich auf­schich­te­ten und das sich stau­en­de Was­ser die Dei­che zu durch­bre­chen droh­te. Genau hier, in Gütt­land, 30 Kilo­me­ter süd­lich von Dan­zig, wuchs der Schrift­stel­ler Max Hal­be auf, der die Weich­sel wie nie­mand sonst in den Mit­tel­punkt eini­ger Wer­ke stell­te. Gebo­ren 1865, ver­ließ er die Hei­mat nach der Schul­zeit, um jedoch in Wor­ten und Gedan­ken immer wie­der auf sie zurück­zu­kom­men. Schon Eis­gang, sein 1892 an der Ber­li­ner Frei­en Volks­büh­ne urauf­ge­führ­tes drit­tes Dra­ma, spielt in Schick­sals­ta­gen an der Weich­sel. Sei­nen Durch­bruch schaff­te er im Jahr dar­auf mit Jugend. 1903 kam sein letz­tes Erfolgs­stück her­aus, das am Wie­ner Burg­thea­ter tri­um­phal urauf­ge­führ­te Schau­spiel Der Strom. Wie­der heißt es :  „Die Hand­lung spielt an der Weich­sel“. Das Dra­ma schil­dert das Schick­sal der drei Brü­der Doorn :  Peter hat sei­nen Bru­der Hein­rich nach Ame­ri­ka getrie­ben, sei­nen ande­ren Bru­der Jakob ums väter­li­che Erbe betro­gen und lebt mit Rena­te, sei­ner Frau, in einem alten Bau­ern­haus, wie es in Hal­bes Hei­mat­dorf gestan­den haben könn­te :  „breit und alter­tüm­lich, mit nied­ri­ger Decke“. Das Weich­sel­hoch­was­ser von 1855, von dem der jun­ge Max Hal­be aus den Fami­li­en­er­zäh­lun­gen erfah­ren hat­te, spie­gelt sich hier gleich in der Ein­gangs­sze­ne, in der Jakob vom alten Ulrichs über das letz­te gro­ße Hoch­was­ser erfährt:

JAKOB:  Und dann ?  Ist dann der Strom so mit einem Male durch­ge­bro­chen ?  So über Nacht ?

ULRICHS:  Ich hab dir schon oft genug davon erzählt. Es ist bes­ser, ­einer schlägt sich’s aus dem Kopf. Es kann jeden Tag wie­der so kommen.

JAKOB:  Jeden Tag !  Ja !  Die ist wie ein wil­des Biest, die Weichsel. […]

JAKOB:   […] Da hat der Strom so ruhig dage­le­gen, das Eis ganz fest, ein vier­spän­ni­ger Heu­wa­gen hat drü­ber­fah­ren kön­nen. Wie ist es da nun wei­ter­ge­gan­gen ?  Ist das Was­ser dann so mit einem Mal dagewesen ? 

ULRICHS:   Mit einem Mal !  Auf den Abend um fünf hat sich das Eis noch nicht gerührt, und in der Nacht um drei, da hat das Hoch­was­ser schon bis zum Boden in den Häu­sern gestan­den. Ich sag dir, Men­schen­s­kind, das Was­ser ist gestie­gen, gestie­gen, schnel­ler als wie ’ne Gans tau­chen kann ! 

JAKOB:   Da war der Damm durch­ge­ris­sen, nicht ?

ULRICHS:   Durch­ge­ris­sen !  Ja !  Ein Stück, wie von hier bis zur Wacht­bu­de da drü­ben !  Und der gan­ze Strom mit­samt Eis und allem ist durch das Loch durch und grad auf unsern Hof los. Die Eis­schol­len sind ange­rückt wie im Sturm. Die haben alles kahl abra­siert. Die dicks­ten Wei­den­stümp­fe glatt weg­ge­schnit­ten. Wer das mal gese­hen hat, vergißt’s sei­ner Leb­tag nicht !

Am Ende kommt bei Eis­gang neu­es Hoch­was­ser, Jakob erfährt vom Betrug des Bru­ders, will in wahn­sin­ni­gem Zorn den Deich durch­ste­chen – gemein­sam mit Peter ver­sinkt er in den tosen­den Fluten.

Die Gefahr durch die Weich­sel ließ im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts lang­sam nach :  Nach­dem sie sich 1840 bei Hoch­was­ser eine neue Mün­dung direkt in die Ost­see gebahnt hat­te und in den 1890er Jah­ren ein Weich­sel­durch­stich eine noch direk­te­re Ver­bin­dung ins Meer geschaf­fen hat­te, war die Hoch­was­ser­ge­fahr im Wer­der und in Dan­zig gebannt, gewis­se Strom­bau­ten schu­fen auch wei­ter ober­halb Abhil­fe. Auch des­halb klingt spä­te­re Weichsel-Lyrik viel idyl­li­scher als das, was Max Hal­be in sei­nen Dra­men ver­mit­telt. So konn­te Max Kie­se­wet­ter (1854–1914) in sei­nen Weich­sel­ge­dich­ten fried­li­che Sze­nen zeigen :

Sacht steigt empor der Mond in wei­ßer Pracht,
Sacht zieht der Strom nun durch die Som­mer­nacht.
Von einem Schiff erschallt Matro­sensang
Zu der Har­mo­ni­ka gedämpf­tem Klang
Und mäh­lich sinkt die Stadt in Schlaf und Traum …
Die Ster­ne fun­keln licht im Weltenraum.

Und auch in expres­sio­nis­ti­scher Aus­füh­rung schien die Weich­sel längst nicht mehr viel Gefahr zu ver­brei­ten. Paul Boldt (1885–1921), der eben­falls aus West­preu­ßen stamm­te, aus Christ­fel­de, süd­lich von Schwetz, direkt an der Weich­sel, mal­te den Strom in sei­nem Gedicht Weich­sel fol­gen­der­ma­ßen, und zwar bemer­kens­wer­ter­wei­se ohne ein Wort über Polen zu ver­lie­ren :  das Frem­de im eige­nen Land scheint hier rus­sisch zu sein :

Ein The­ma :  Weich­sel ;  blut­sü­ßes Erin­nern !
Der Strom bei Kulm ver­wil­dert in dem Bett.
Ein Mäd­chen, läuft mein Segel aufs Par­kett
Aus Wel­len, glän­zend, unab­seh­bar, zinnern.

In Ober­ter­tia. Juli­ta­ge flam­men,
Bis du den Leib in hel­le Wel­len scharrst.
Die Otter floh ;  mein wei­ßes Lachen barst
Zwi­schen den Wei­den, wo die Stru­del schwammen.

Rus­si­sche Flö­ße in den Abend ragend.
Die frem­den Wei­ber, die am Feu­er sit­zen,
Bewir­ten mich :  Schnaps und gestoh­le­ner Speck.

Wir ankern und die Alten blei­ben weg.
Die Völ­le­rei. Aus grau­sa­men Ant­lit­zen
Blitzt unser Blick, ins Weib­erla­chen schlagend.

Auch nach dem Ers­ten Welt­krieg, als die poli­ti­schen Gren­zen neu gezo­gen waren, als die Weich­sel nur noch durch Polen floss, nur eini­ge Dut­zend Kilo­me­ter ihres Ost­ufers deut­sches Staats­ge­biet berühr­te, ehe sie in die Freie Stadt Dan­zig ein­trat, in die­ser Zeit jeden­falls, 1924, beschwor Wil­li­bald Oman­kow­ski (1886–1976) kei­nes­wegs die Dra­ma­tik der Abstim­mungs­kämp­fe, die Bevöl­ke­rungs­ver­schie­bun­gen der letz­ten Jah­re oder den tra­gisch auf­ge­peitsch­ten Natio­na­lis­mus, son­dern er zeich­ne­te eine lyri­sche Nacht an der Weichsel :

Der Tag sank in die Nacht hin­ein,
für die der blei­che Voll­mond blüht,
vom Weich­sel­kahn ein klei­nes Lied
weint auf … wird lei­ser … und schläft ein.

Aus schma­ler Luke greift ein Licht
mit schlan­ken Fin­gern nach der Flut
und wirft ver­liebt die gold­ne Glut
dem Flus­se in das Nachtgesicht. […]

Dass es auch anders ging, zeig­ten so man­cher Dich­ter, so man­che Dich­te­rin der Zeit. Es genügt, an Agnes Mie­gel (1879–1964) zu erin­nern, deren Gedicht Über der Weich­sel drü­ben, in den 1930er Jah­ren ent­stan­den, im völkisch-nationalen Bedro­hungs­duk­tus raunt (und die Gefahr sind natür­lich „die Polen“) : 

[…]
Über der Weich­sel drü­ben, Vater­land höre uns an !
Wir sin­ken wie Pferd und Wagen ver­sin­ken im Dünen­sand.
Recke aus dei­ne Hand
Daß sie uns hält, die allein uns hal­ten kann.
Deutsch­land, hei­li­ges Land,
  Vaterland !

Es muss­te ein schreck­li­cher Krieg ver­ge­hen, vie­le Jahr­zehn­te danach muss­ten ver­strei­chen, viel Was­ser muss­te die Weich­sel her­un­ter­flie­ßen, ehe der­lei Getö­ne an Rele­vanz ver­lor, ehe lan­ge nach Flucht und Ver­trei­bung die Weich­sel­ge­gend Deut­sche und Polen nicht mehr trenn­te, son­dern zu einen begann. Den Auf­takt hier­zu setz­te Gün­ter Grass (1927–2015). Der gro­ße Dan­zi­ger lässt gleich zu Beginn sei­nes epo­cha­len Romans Die Blech­trom­mel den Brand­stif­ter Kol­jaic­zek die Weich­sel berei­sen, auf der Flucht vor den Behör­den, aber den­noch merk­wür­dig gelähmt, nicht von den Holz­flö­ßen flie­hend, auf denen er von der Ukrai­ne wie­der nach Dan­zig geschip­pert kommt : 

Eine ihm zeit­wei­lig anhaf­ten­de Träg­heit, die an Schwer­mut grenz­te, mag ihn dar­an gehin­dert haben, bei Letz­kau etwa oder Käs­mark einen Aus­bruchs­ver­such zu wagen, der in so ver­trau­ter Gegend mit Hil­fe eini­ger ihm gewo­ge­ner Flißa­cken noch mög­lich gewe­sen wäre. […] Erst als mein Groß­va­ter den Holz­ha­fen vol­ler blau Uni­for­mier­ter sah, als die Bar­kas­sen immer unheil­ver­kün­den­der ihren Kurs nah­men und Wel­len über die Flö­ße war­fen […, da floh er,] floh über die Flö­ße, floh über wei­te, schwan­ken­de Flä­chen, bar­fuß über ein unge­ho­bel­tes Par­kett, von Lang­holz zu Lang­holz Schich­au ent­ge­gen, wo die Fah­nen lus­tig im Win­de, über Höl­zer vor­wärts, wo etwas auf Sta­pel lag […] von Floß zu Floß […] und steht ganz ein­sam auf einem Floß und sieht schon Ame­ri­ka, da sind die Bar­kas­sen längs­seits, da muß er sich absto­ßen – und schwim­men sah man mei­nen Groß­va­ter, auf ein Floß schwamm er zu, das in die Mott­lau glitt. Und muß­te tau­chen wegen Bar­kas­sen und unten blei­ben wegen Bar­kas­sen, und das Floß schob sich über ihn und woll­te nicht mehr auf­hö­ren, gebar immer ein neu­es Floß :  Floß von dei­nem Floß, in alle Ewig­keit : Floß.

Mit die­ser ver­we­ge­nen deutsch-polnisch-kaschubischen Geschich­te, mit Gün­ter Grass endet die deut­sche Weichsel-Literatur im Grun­de :  Zum Hel­den, zum Gegen­stand, zum Objekt der Begier­de oder der Angst wur­de sie spä­ter kaum noch, allen­falls zu einer Sta­ti­on tou­ris­ti­scher Neu­gier, nost­al­gi­scher Heimat­sehnsucht oder öko­lo­gi­scher Bewun­de­rung – denn die Weich­sel ist bis heu­te über wei­te Stre­cken rela­tiv natur­be­las­sen. Viel­leicht wird sich das wie­der ein­mal ändern, viel­leicht erobert sie wie­der ein­mal einen Platz in der lite­ra­ri­schen Vorstellungs- und Bedeu­tungs­welt deutsch­spra­chi­ger Autorin­nen und Autoren. Bis dahin begnü­gen wir uns mit all dem, was frü­he­re Gene­ra­tio­nen geschrie­ben haben, und mit dem, was die pol­ni­sche Lite­ra­tur bis in die Gegen­wart bie­tet – näm­lich ein authen­ti­sches Inter­es­se an der Weichsel.


Priv.-Doz. Dr. Peter Oli­ver Loew: Stell­ver­tre­ten­der Direk­tor in wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen am Deut­schen Polen Insti­tut Darm­stadt, Lehr­be­auf­trag­ter an der TU Darm­stadt sowie an der TU Dres­den und Über­set­zer. Man­nig­fa­che Publi­ka­tio­nen u. a. zur Geschich­te Polens, Deutsch­lands und der deutsch-polnischen Bezie­hun­gen sowie zur Geschich­te und Gegen­wart Danzigs.