Zum Tode von Jan Janca
Die Musikwelt trauert um den herausragenden Organisten, Komponisten und Musikologen Jan Janca, der am 8. Dezember 2023 in Tübingen verstorben ist.
Der am 1. Juni 1933 in Danzig geborene Harald Janca wuchs in einer deutschen, kaschubisch-masurischen Organistenfamilie auf, denn seine Eltern, Anton und Edith Janca, waren ebenfalls Kirchenmusiker und beide von 1935 bis 1945 an der katholischen St. Josephskirche in der Danziger Altstadt tätig. Die ersten Orgelunterweisungen erhielt Harald von seinem Vater, der seinerseits an der Technischen Hochschule Danzig bei dem Musikwissenschaftler Gotthold Frotscher studiert hatte. – Nach dem Krieg blieb die Familie in Danzig. Als Jugendlicher – in den Jahren von 1946 bis 1950 – besuchte Harald Janca, der sich nun »Jan Janca« nannte, die Musikschule in Danzig-Langfuhr, bevor er für fünf Jahre an die Staatliche Musikakademie in Krakau ging.
Seine Studien bei Bronisław Rutkowski (Orgel) und Stanisław Wiechowicz (Komposition) absolvierte er mit großem Erfolg und begann eine vielversprechende Karriere als Orgelvirtuose: Schon im Dezember 1954 gab er ein erstes Konzert an der großen Orgel der Kathedrale zu Danzig-Oliva, das auch vom Polnischen Rundfunk mitgeschnitten wurde, und entfaltete seitdem als freier Organist eine rege Konzerttätigkeit.
Als sich 1957 abzeichnete, dass die von Władysław Gomułka im Oktober des Vorjahres initiierte »Tauwetter«-Periode nicht von Dauer sein würde, entschied sich Jan Janca, von einer Konzertreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht nach Polen zurückzukehren. Nun studierte er in den Jahren von 1958 bis 1962 an der Staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart Komposition bei Johann Nepomuk David (1895–1977) und wurde von dem international höchst renommierten, in Paris lehrenden Organisten, Komponisten und Improvisator Marcel Dupré (1886–1971) für mehrere Jahre als Privatschüler angenommen.
Im unmittelbaren Anschluss an sein Stuttgarter Hochschulstudium wurde Jan Janca Musiklehrer am Tübinger Theologenkonvikt Wilhelmsstift sowie Kirchenmusiker an der benachbarten Konvikts- und Stadtpfarrkirche St. Johannes Evangelist. Zudem wirkte er als Dozent an der Bischöflichen Musikschule (ab 1972 Kirchenmusikschule) Rottenburg. Seit Mitte der 1990er Jahre litt er an einem Tinnitus, der ihn 1996 zwang, vorzeitig seinen Ruhestand anzutreten. Er vermochte seine gesundheitlichen Probleme aber zumindest so weit zu beherrschen, dass er neben seinem kompositorischen Schaffen, dem er sich nun verstärkt zuwandte, ab 2008 nicht mehr gänzlich auf das Orgelspielen verzichten musste, sondern gelegentlich sogar wieder Konzerte geben konnte – insbesondere in seiner Heimatstadt Danzig, der er stets verbunden blieb und die er häufig besuchte. Darüber hinaus schenkte er der Geschichte und Kultur der Region an der unteren Weichsel unverwandt seine Aufmerksamkeit und sein Interesse. Nicht zuletzt gehörte er bis an sein Lebensende zu den treuen Lesern des Westpreußen.
Im Februar 2023 wurde bei Jan Janca eine Erkrankung an einer aggressiven Krebsart diagnostiziert, der er jetzt gut fünf Monate nach der Vollendung seines 90. Lebensjahres, die ihm noch vergönnt war, erlegen ist. Er wurde auf dem Sülchen-Friedhof in Rottenburg am Neckar beigesetzt.
Das Außergewöhnliche des imponierenden Œuvres, das Jan Janca der Nachwelt hinterlassen hat, beruht auf der dreifachen Hochbegabung, die ihn gleichermaßen zum Komponieren, zur virtuosen Interpretation musikalischer Werke sowie zur wissenschaftlichen Forschung befähigt hat.
Als Tonschöpfer hat Jan Janca die Orgelliteratur mit einer Fülle von Kompositionen bereichert, von denen neben zahlreichen Vorspielen, Orgelversen oder Choralvorspielen exemplarisch zumindest Ite missa est, ein Triptychon für Orgel (1988), die Meditation zur Adventszeit über »Maria durch ein’ Dornwald ging« (1994) oder die Invocation und chromatische Fuge über B‑A-C‑H (2000) genannt seien. Zudem schuf Janca auch größer besetzte Kompositionen wie z. B. die Missa de Angelis für vierstimmigen gemischten Chor, Gemeindegesang oder einstimmigen Chor und Orgel (1979), die Weihnachtskantate »Hört, der Engel helle Lieder« / »Angels from the Realms of Glory« für dreistimmigen Frauenchor und Orgel (1991) oder die Missa »Orbis factor« (XI) für ein- bis dreistimmigen gemischten Chor und Orgel (2005). Die Weite des ästhetischen und stilistischen Horizonts lässt sich freilich erst ermessen, wenn beispielsweise die Bearbeitungen berücksichtigt werden, die Jan Janca für Helmut Völkls »rotes« und »grünes« Album der Hits for Organ (2004) beigesteuert hat, oder wenn auch die eigenwillige Version von Großer Gott, wir loben dich mit in den Blick genommen wird, die den Untertitel »A German ›Te Deum‹ between Boogie and Waltz« trägt.
Ebenfalls beeindruckend ist Jan Jancas Hinterlassenschaft an Einspielungen von Orgelliteratur, die die hohe Kunst des Virtuosen dokumentieren und mit denen er zugleich die Klangbilder unterschiedlicher Instrumente festgehalten hat. Von ganz besonderem Interesse sind dabei die Aufnahmen, die die Hörerinnen und Hörer durch die »Orgellandschaft Danzig und Westpreußen« führen. Von dieser Doppel-LP-Produktion von 1986, die 1988 mit dem »Preis der deutschen Schallplattenkritik« ausgezeichnet wurde und 2008 auch als CD herauskam, erklingen beispielsweise die Orgeln der St. Marien- und St. Nicolai-Kirche in Danzig, des Olivaer Doms und der St. Johannes-Kirche von Thorn oder die beiden Orgeln des Doms von Pelplin sowie die Orgel der Kirche von Bonstetten, Kr. Zempelburg.
Diese Einspielungen bilden eine wertvolle akustische Vergegenwärtigung jener Orgellandschaft, der Jan Janca einen erheblichen Teil seiner Forschungstätigkeiten gewidmet hat. Zwei Jahre vor dieser Plattenedition war in der Reihe »Bau- und Kunstdenkmäler im östlichen Mitteleuropa« bereits der erste Band der Geschichte der Orgelbaukunst in Ost- und Westpreußen von 1333 bis 1944 erschienen. In Kooperation mit dem Orgelbauer und ‑forscher Werner Renkewitz (1911–1978), der schon in den 1930er Jahren begonnen hatte, alte Orgeln Ostpreußens zu inventarisieren, brachte Jan Janca seine Forschungsergebnisse zu Westpreußen und Danzig mit ein und schloss nach dem Tode von Werner Renkewitz mit dieser Publikation den ersten Teil des gemeinsamen Projekts ab. Nach mehr als zwei Jahrzehnten vermochte Jan Janca dieses anspruchsvolle Vorhaben zu vollenden und – inzwischen in Zusammenarbeit mit dem Orgelforscher Hermann Fischer (1928–2020) – die beiden Teilbände des zweiten Bandes in den Jahren 2008 und 2015 zu veröffentlichen. Dieses grundlegende Werk darf letztlich aber keineswegs den Blick auf Jan Jancas weitere wissenschaftliche Schriften verstellen, die in der Vielfältigkeit und in der Qualität wie auch im Umfang seinem kompositorischen Schaffen in nichts nachstehen.
Musikern, die sich zugleich intensiv in der wissenschaftlichen Forschung engagieren, bietet sich die Möglichkeit, zwischen ihren beiden Tätigkeitsfeldern auch durch die Erschließung musikalischer Quellen Synergien zu erzeugen. Jan Janca hat selbstverständlicherweise auch diesen Zugang zur Musikgeschichte genutzt und mehrere Werke ediert, darunter die 24 Polonaisen in allen Tonarten für Cembalo oder Orgel des Danziger Komponisten Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756) sowie für Orgel oder Cembalo übertragene Stücke aus der bedeutenden »Olivaer« bzw. »Braunsberger Orgeltabulatur«, die um 1619 verfasst wurde, insgesamt 329 Instrumental- und Vokalkompositionen umfasst und aus der Bibliothek des Zisterzienserklosters Oliva stammt.
Für sein Schaffen hat der universale Musiker Jan Janca hohe Auszeichnungen erhalten: Im Jahre 2011 erkannte ihm das Deutsche Kulturforum östliches Europa den Ehrenpreis des Georg Dehio-Kulturpreises zu; zwei Jahre später wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen; und 2023 ehrte ihn das Warschauer Ministerium für Kultur und nationales Erbe mit dem höchsten polnischen Kulturpreis, der 2005 gestifteten Gloria-Artis-Medaille für kulturelle Verdienste. Diese beiden staatlichen Auszeichnungen lassen nachdrücklich auch die völkerverbindende Dimension hervortreten, die Jan Jancas Wirken in und zwischen zwei Kulturen entfaltet hat.
Die Nachwelt schließlich wird Jan Janca noch lange im Gedächtnis behalten; denn zum einen haben seine Kompositionen – wie die mannigfachen Editionen belegen – breiten Eingang in die Musikpraxis gefunden. Zum anderen lassen die vielen Einspielungen von seinen Werken darauf schließen, dass sich sein Schaffen den interessierten Hörerinnen und Hörern der Gegenwart erschließt und von ihnen geschätzt wird. Zum dritten hat sich Jan Janca mit der großartigen Geschichte der Orgelbaukunst in Ost- und Westpreußen, die längst zu einem Standardwerk geworden ist, auch in die Annalen der Musikwissenschaft eingeschrieben; und zum vierten kommt ihm nicht zuletzt das Verdienst zu, »Danzig und Westpreußen« als eine in sich geschlossene musikgeschichtliche Einheit gedeutet und im kulturellen Gedächtnis bewahrt zu haben. Gerade dafür werden alle diejenigen, die sich dieser historischen preußischen Provinz verbunden wissen, Jan Jancas auch in Zukunft respektvoll und dankbar gedenken.
Bartosz Skop / Erik Fischer