Das Westpreußische Landesmuseum konnte sein 50-jähriges Bestehen feiern
Von Erik Fischer
Bis 1945 hatte sich in Westpreußen, nicht nur in Danzig, sondern auch in Elbing, Thorn und anderen Städten, eine vielgestaltige Museumslandschaft entwickelt. Die plötzliche Unerreichbarkeit all dieser Erinnerungsorte bedeutete für die Flüchtlinge und Vertriebenen einen kaum zu ermessenden Verlust und radikalen Kontinuitätsbruch.
Vor diesem Hintergrund wirkte es auf die damaligen Vertreter der Landsmannschaft fast wie ein Wunder, dass schon 30 Jahre später, am 6. Juli 1975, im Drostenhof zu Münster-Wolbeck die feierliche Eröffnung eines Dokumentations- und Kulturzentrums Westpreußen (DKZW) stattfinden konnte und der Allgemeinheit nun erstmals im Westen Deutschlands eine dauerhafte Ausstellung über die frühere preußische Provinz am Unterlauf der Weichsel zugänglich gemacht werden konnte. Vier Monate zuvor, am 6. März jenes Jahres, war zudem die Trägerstiftung des Museums, die heute Kulturstiftung Westpreußen heißt, genehmigt worden.
Dass dieser Wunsch der Westpreußen in Erfüllung gehen konnte, verdankte sich maßgeblich dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL): Er hatte 1960 eine Patenschaft für die Landsmannschaft Westpreußen übernommen, die daraufhin 1963 ihre Bundesgeschäftsstelle von Lübeck nach Münster verlegte. Nun kam eine partnerschaftliche, höchst förderliche Entwicklung in Gang, an deren Beginn der LWL Räumlichkeiten zur Verfügung stellte und der Landsmannschaft damit die Chance gab, bislang eher zufällig zusammengekommenes Kulturgut aufzubewahren. Von diesem Grundstock aus konnte jetzt eine stärker systematisch orientierte Sammlungstätigkeit einsetzen, die insbesondere Hans-Jürgen Schuch, der spätere Gründungsdirektor, mit großer Intensität vorantrieb.
Die Erinnerungen an diese Vorgeschichte und die damalige Eröffnungsfeier wurden wieder wachgerufen, als am Samstag, dem 28. Juni, das Doppeljubiläum der Stiftung und des Museums feierlich begangen wurde. In der Kirche des ehemaligen Franziskanerklosters von Warendorf, das seit 2013 das (im Dezember 2014 eröffnete) WLM beherbergt, waren viele Gratulanten zusammenkommen: interessierte Bürger der Stadt, Mitarbeiter und Freunde des Hauses, Vertreter der institutionellen Fördergeber sowie Mitglieder der Westpreußischen Gesellschaft und Repräsentanten der Kulturstiftung. Sie alle wollten durch ihre Anwesenheit ihre Verbundenheit mit einer Einrichtung demonstrieren, die innerhalb der Erinnerungskultur in Deutschland seit nunmehr 50 Jahren eine ganz eigene Aufgabe erfüllt.
Auch in den Grußworten der Ehrengäste – zu ihnen gehörten Klaus Baumann, der Vorsitzende der LWL-Landschaftsversammlung, Winfried Kaup als erster stellvertretender Landrat sowie, in Vertretung des Bürgermeisters, Regina Höppner, die Leiterin des Dezernats Bürgerdienste – wurde die Bedeutung des Museums als Ort der Erinnerung wie als wichtige, regional fest eingebundene Instanz der Kulturvermittlung gewürdigt. Daraufhin hielt Regierungspräsident a. D. Dr. Peter Paziorek die Festansprache, die er unter den Titel Die Westpreußen und ihr Museum in Westfalen gestellt hatte.
Als Westfale, der sich seiner westpreußischen Wurzeln stets bewusst geblieben ist, repräsentierte der Redner selbst die seit Jahrhunderten bestehenden engen Beziehungen zwischen den beiden Regionen; und als langjähriges Stiftungsratsmitglied der Kulturstiftung vermochte er Einblicke in die dynamische, zuweilen aber auch nicht ganz ungefährdete Entwicklung des Hauses zu gewähren. Er verwies auf das Jahr 1983, von dem an der Drostenhof dem Dokumentationszentrum uneingeschränkt zur Verfügung gestellt wurde. So habe es nun als Westpreußisches Landesmuseum auch in regelmäßiger Folge Sonder- und Kabinettausstellungen veranstalten können, in denen vielfältige westpreußische Themen ihren Niederschlag fanden. Ein weiterer positiver Effekt sei 1991 durch die Übernahme der institutionellen Förderung durch die Bundesrepublik Deutschland hervorgerufen worden, denn dadurch ließ sich die Planungssicherheit deutlich erhöhen, und zudem konnte jetzt die Personalausstattung verbessert werden. Auch für die Sammlung des WLM hätten sich dadurch gänzlich neue Perspektiven eröffnet, denn es wurde jetzt gelegentlich möglich, den Beständen dank großzügig gewährten Sondermitteln regelrechte Glanzlichter aufzusetzen.
Dr. Paziorek sprach überdies über die schon um die Jahrtausendwende einsetzende Phase, in der sich abgezeichnet habe, dass eine Nutzung des Drostenhofs auf Dauer erhebliche Umbauten und Modernisierungen voraussetzte. Neben dieser Option seien auch Alternativen ins Auge gefasst worden, die von Entwürfen eines großzügigen Neubaus bis zu einer Angliederung an das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg reichten. Letztlich sei nach einer langen Zeit des Konzipierens und Verwerfens glücklicherweise das ehemalige Franziskanerkloster in Warendorf gefunden worden, das dann – zweckentsprechend umgebaut und eingerichtet – zum neuen Domizil des Museums geworden ist.
An die Jubiläumsfeier schloss sich zunächst ein Empfang und im weiteren Verlauf des Tages ein Symposion an, in dem sich ein relativ großer Kreis von Diskutanten die Aufgabe stellte, zum 50. Jahrestag des WLM dessen »Tradition und Zukunft« miteinander »im Dialog« zu bedenken und zu entfalten. – Zunächst hielten drei Teilnehmer jeweils Impulsreferate über die Themen: Das Westpreußen-Museum: ein Mitglied der großen »96-er Familie« (Dr. Roland Borchers, Berlin), Die Geschichte des Hauses, thematische Bruchstellen und veränderte Perspektiven (Prof. Dr. Erik Fischer, Bonn) und Chancen einer Öffnung und Weiterentwicklung (Martin Koschny M. A., Warendorf). Nach diesen einführenden Kurzvorträgen äußerten – unter der Moderation von Dr. Vincent Regente (Berlin) – Dr. Hermann Arnhold, der Direktor des LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, Prof. Dr. Bettina Schlüter, Direktorin der Abteilung »Digitale Gesellschaft« im Forum internationale Wissenschaft der Universität Bonn, sowie Wolfgang Türk als Leiter des Kulturamts der Stadt Warendorf eine Reihe von Rückfragen und eigenen Statements, so dass sich tatsächlich ein intensiver, auch kritischer und selbstkritischer Dialog entfaltete.
Bei diesem Gedankenaustausch kristallisierten sich einerseits gewisse Bedenken heraus, ob es tatsächlich gelingen könne, ein ostdeutsches Museum, das sich einer früheren, nicht mehr allgemein bekannten preußischen Provinz widmet, erfolgreich in einer westfälischen Kreisstadt zu betreiben und tatsächlich heimisch zu machen. Andererseits waren die Pläne, die der gegenwärtige Leiter des WLM, Martin Koschny, in seiner Keynote für die zukünftigen Arbeitsschwerpunkte entwickelt hatte, derart überzeugend, dass die Zweifel kaum noch weitere Nahrung erhielten.
Dort war es zum einen um das Bemühen gegangen, die Erinnerung an die Geschichte der Region auch über Generationen und nationale Grenzen hinweg wachzuhalten. Zum anderen sollte das Bewahren des westpreußischen Kulturgutes noch erheblich stärker mit zeitgemäßen museologischen Ansätzen und einer klugen Medien-Nutzung verknüpft und durch Kooperationen mit universitären Projektpartnern perspektivisch erweitert werden.
Zum dritten hatte der für längere Zeit in den Hintergrund getretene Leitgedanke, dass das WLM »Begegnungen mit einer deutsch-polnischen Kulturregion« vermittelte, wieder nachdrückliche Beachtung gefunden – und wurde noch ausgeweitet: Gerade angesichts wieder erstarkender nationalistischer Tendenzen erscheinen museale Räume einer differenzierten Geschichtsvermittlung unentbehrlich, denn sie vermögen Polarisierungen und Vereinfachungen nachhaltig entgegenzuwirken. Zum vierten schließlich war auch die Bedeutung der Museumspädagogik akzentuiert worden, die in Warendorf erst seit kurzem einen eigenständigen Arbeitsbereich bildet und bereits eine Vielzahl attraktiver Angebote entwickelt hat.
Den optimistischen Grundton der Diskussionsergebnisse verstärkten auch Stimmen aus dem erfreulich großen Auditorium; sie zeigten, dass die in jüngerer Zeit unternommenen Versuche des WLM, neue Themen zu erschließen, innovatorische Ausstellungs- und Vermittlungskonzepte zu entwickeln, die internationale Vernetzung auszubauen und die regionale Verankerung zu konsolidieren, schon eine breitere und sehr ermutigende Resonanz gefunden haben.
Auf das Symposion folgte, die Veranstaltungen am Samstag abschließend, noch ein Konzert in der Klosterkirche, zu dem der Förderverein Klosterkultur Franziskanerkloster Warendorf eingeladen hatte. Unter dem Titel »Klangstrukturen« boten Robert Kusiolek (Akkordeon, Bandoneon), Anton Sajarov (Violine, Klangobjekte) und Elena Chekanova (Klavier, Live-Elektronik) arrangierte Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Frédéric Chopin, Edvard Grieg, Erik Satie und Astor Piazzolla – sowie vor allem eigene Kompositionen, in denen sie im Übergangsbereich zwischen traditioneller Instrumentalmusik sowie elektronischer Tonerzeugung und ‑bearbeitung zu einer Vielzahl origineller, überraschender wie überzeugender musikalischer und klanglicher Prozesse bzw. Strukturen gelangten.
Am nächsten Mittag zeigte sich dann, dass der Sonntag – dem Einladungstext entsprechend – tatsächlich höchst »vergnüglich« werden würde. Bei strahlendem Sommerwetter hatte sich der Vorplatz des Museums in eine Erlebniszone verwandelt: Die Band Michael van Merwyk & The Ollies sorgte mit ihrem Blues- und Soul-Repertoire für einen durchaus anspruchsvollen und stilvollen musikalischen Rahmen; viele Besucher nahmen dankbar das verlockende Angebot an, die Songs bei Kaffee und Kuchen zu genießen – und einige beschäftigten sich interessiert mit den Angeboten der Informationsstände, die das WLM, die Westpreußische Gesellschaft, der Kunstkreis Warendorf und der Förderverein Klosterkultur Franziskanerkloster Warendorf aufgeschlagen hatten.
Familien, Kinder und Jugendliche konnten sich innerhalb des Museums an spannenden Mitmachaktionen beteiligen: Ob Talismane gebastelt oder Münzen geprägt wurden, oder ob beim Durchstreifen der Dauerausstellung Rätsel zu lösen waren – stets galt es, Kreativität und Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen. Die Erwachsenen schließlich verfolgten in großer Zahl die szenischen Führungen des Schauspielers Markus von Hagen, der die Figur des Goldschmiedemeisters Melchior Berger verkörperte und die Gäste anhand einzelner Exponate ebenso klug wie heiter in die Geschichte und die Geheimnisse seiner Kunst einführte.
Als am Spätnachmittag die letzten Besucher das Museum verließen, wussten Martin Koschny und sein Team, dass dieses Wochenende ihrem Haus große Aufmerksamkeit und viel Sympathie eingebracht hatte – und dass sie mit der Ausrichtung eines weiteren »vergnüglichen Sonntags« nicht erst bis zum nächsten Jubiläum warten sollten.



