Ein Gipfelpunkt der religiösen Auseinandersetzungen in der Ersten Polnischen Republik – ein Rückblick nach 300 Jahren
Von Joanna Stanclik
Eine schweigende Stadt
Diesen Beitrag schreibe ich am 16. Juli 2024. Vor drei Jahrhunderten, im Sommer und folgenden Winter des Jahres 1724, war Thorn Schauplatz von Ereignissen, die unter dem Namen »Thorner Tumult« in die Geschichte eingegangen sind. Ich kenne die Orte, an denen sich die tragischen Szenen ereignet haben, sie sind mir vertraut: die Altstadt wie die Neustadt, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen.
Fast täglich komme ich an der Jacobikirche, am Jesuitenkollegium und am Altstädtischen Rathaus vorbei und sehe keinerlei Spuren, die auf die Geschehnisse des Jahres 1724 hindeuten; keine Gedenktafel, kein Hinweisschild erinnern an das Geschehen. Die Stadt schweigt. Die einzige Ausnahme stellt eine Tafel an der früheren Residenz von Johann Gottfried Rösner in der Kulmerstraße dar, deren Inschrift in sachlichem Ton über den damaligen Bürgermeister, eines der Opfer jenes Tumults, informiert.
Niemals wurde mir seit meiner Kindheit vermittelt, dass es derartige Ereignisse einmal in meiner Heimatstadt gegeben hat. Kein Handbuch der Geschichte thematisierte die konfessionellen Unterschiede und die daraus resultierenden Konflikte. Schon gar nicht wurde das »Blutgericht« in Thorn erwähnt; es war in der polnischen Geschichtsschreibung nahezu nicht existent.
Anlässlich des 300. Jahrestages des Tumults von 1724 erschien nun in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza jedoch ein Artikel von Piotr Głuchowski; ein weiterer Bericht wurde in der Thorner Tageszeitung Nowości veröffentlicht. Dies zeigt: Die Geschehnisse sind keineswegs unbekannt. Sie wurden verschwiegen und sind allmählich aus dem Bewusstsein der Einwohner verschwunden. Der markante Gedenktag rückt sie 2024, nach 300 Jahren, aber neuerlich in das Licht der Öffentlichkeit.
Wer waren nun diese historischen Akteure, die Opfer und die Täter, die Angeklagten und die Richter – und wer waren letztlich die Schuldigen an den Geschehnissen, an die offenkundig nur ungern erinnert wird? – Lassen Sie uns tiefer in diese Geschichte eintauchen.
Die Ereignisse von 1724
Hinter dem Thorner Tumult stehen die blutigen religiösen Ausschreitungen zwischen Katholiken und Protestanten, die sich am 16. und 17. Juli 1724 abspielten und weitreichende Folgen hatten. Der Tumult wurde dadurch bekannt, dass er der einzige Fall einer äußerst schwerwiegenden Einmischung der polnischen Staatsgewalt in die inneren Angelegenheiten der Stadt war, die damals noch über umfangreiche Selbstverwaltungsbefugnisse und das Privileg der Religionsfreiheit verfügte. Dieser Übergriff resultierte aus der Politik des katholischen (ex-protestantischen) Königs August II. von Sachsen sowie dem Druck fanatischer katholischer Kreise in der religiös wenig toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Er zielte darauf ab, das protestantische Thorn zu bestrafen, da dessen eigenständige Politik und Freiheit seit jeher ein Dorn im Auge des polnischen Adels waren. Es ging im Kern um eine Machtdemonstration, nicht nur Thorn, sondern auch dem Königlichen Preußen insgesamt gegenüber, das eine der wichtigsten Provinzen des Königreichs Polen-Litauen bildete.
Die Unruhen scheinen ziemlich harmlos begonnen zu haben, endeten jedoch in einem Fanal. Am 16. Juli, während der katholischen Prozession zu Ehren der Gottesmutter an der neustädtischen Jacobikirche, kommt es zum Streit zwischen Jugendlichen – Schülern des Jesuitenkollegiums und des Akademischen Protestantischen Gymnasiums. Die Prozession verlässt den Kirchfriedhof und begibt sich auf die Straßen der Stadt, was aber durch städtisches Gesetz verboten ist. Gemäß der geltenden Rechtsordnung ist es untersagt, kirchliche Zeremonien und Feierlichkeiten außerhalb von Friedhöfen und Kirchengebäuden abzuhalten, um das Risiko von Provokationen und Unruhen zu vermeiden. Die Prozession wird von lutherischen Bürgern beobachtet, woraufhin einer der katholischen Schüler verlangt, dass diese ihre Mützen abnehmen und vor dem Heiligen Sakrament niederknien sollen. Diese Aufforderung empört die umstehenden Zeugen. Der Provokateur vom Jesuitenkollegium, der Schüler Stanisław Lisiecki, wirft einem Burschen die Kopfbedeckung ab, ein weiterer Schüler schlägt ihn, was eine Prügelei auslöst.
Seit langem schon gibt es Streitigkeiten und Verspottungen seitens der Katholiken, diesmal aber spitzt sich die Situation schnell weiter zu. Es kommt zu einer Schlägerei zwischen beiden Parteien, in deren Verlauf zwei lutherische Gymnasiasten in die katholische Schule entführt und im Keller des Schulgebäudes eingesperrt werden. Die empörten Bürger stürmen daraufhin das Gebäude, um die beiden Jungen zu befreien. Dabei plündern sie die Räume, Bilder werden beschädigt, Bücher verbrannt. Am nächsten Tag eskalieren Aufruhr und Streitigkeiten zwischen den beiden Parteien weiter. Die Soldaten der Stadtwache bekommen keine Befehle, einzugreifen und Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Nur der Provokateur Lisiecki wird verhaftet, – dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Thorner protestantischen Behörden unternehmen keine Schritte, die Unruhen zu dämpfen und sie im Nachhinein aufzuklären. Zwar werden Zeugen befragt, aber man zögert mit Entscheidungen. Der Stadtrat nimmt die Sache anscheinend nicht ernst genug, selbst dann noch nicht, als sie schon in der Zuständigkeit des Warschauer Gerichts liegt. Es wird offenbar auf das traditionell träge Vorgehen in polnischen Gerichtsverfahren vertraut.
Der Fall wird aber von Jesuiten in ganz Polen bekannt gemacht und in der Folge von König August II. zur Stärkung seiner Position unter polnischen Adligen sowie zur Einschränkung der Autonomie der preußischen Städte ausgenutzt. Das Assessorialgericht in Warschau wird beauftragt, die Vorkommnisse zu untersuchen und ein Urteil zu fällen, da mittlerweile von Seiten der Jesuiten gegen mehrere Protestanten Anklage erhoben wurde. Unmittelbar nach Einreichung der Klage wendet sich der Stadtrat an den König, wobei er sich vermutlich einen fairen Prozess erhofft, zugleich jedoch bereits einen negativen Ausgang befürchtet. Dennoch wird kein kompetenter Rechtsbeistand nach Warschau entsandt. In einer ersten Untersuchung (am 13. Oktober 1724) identifiziert eine Sonderkommission die Verantwortlichen des Vorfalls – es werden ausschließlich Protestanten benannt. Das Gericht nimmt daraufhin seine Arbeit auf und erlässt am 16. November ein einseitiges und unverhältnismäßig strenges Urteil. Dieses Kollegium, bestehend aus zwanzig Katholiken mit einer negativen Voreinstellung, von denen einige sogar persönliche Auseinandersetzungen mit der Stadt führen, verurteilt vierzehn der Angeklagten zum Tode. Unter den Verurteilten befinden sich zwei Bürgermeister und zwölf direkt am Aufruhr Beteiligte. Mehr als vierzig Personen werden zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter der Kommandant der Stadtwache. In Europa schlägt der Fall bereits hohe Wellen.
Das Urteil wird am 20. November verkündet, woraufhin die königliche polnische Krongarde (2.400 Soldaten) unter dem Kommando eines gewissen Lubomirski in die Stadt Thorn einmarschiert. Schließlich, am 7. Dezember 1724, werden die Todesurteile vollstreckt. Bürgermeister Jacob Heinrich Zernecke entgeht der Strafe (wie auch zwei weitere Personen, deren Namen nicht überliefert sind), indem er begnadigt wird, und zieht umgehend nach Danzig. Seine Güter werden zugunsten der Jesuiten konfisziert, darunter auch seine Residenz in der heutigen Seglerstraße. Einer der Verurteilten, David Heyder, konvertiert zum Katholizismus und rettet damit seinen Kopf. Bürgermeister Johann Gottfried Rösner wird im Rathaushof enthauptet, den übrigen vier protestantischen Verurteilten werden – bevor man sie vor dem Rathaus köpft – noch die Hände abgehackt und die Bäuche aufgeschnitten, einem von ihnen wird das Herz herausgerissen. Die Szene spielt sich vor dem Rathaus ab, wo sodann die nächsten fünf Verurteilten ebenfalls hingerichtet werden. Insgesamt verlieren zehn Menschen ihr Leben. Danach werden die Leichen der Opfer zerstückelt und außerhalb der Stadt verbrannt.
In weiteren Gerichtsbeschlüssen wird eine Parität im Stadtrat und die Übergabe der Marienkirche, der Hauptkirche der Protestanten mit dem integrierten Gebäude des Protestantischen Gymnasiums (dem früheren Kloster der Franziskaner), an die Katholiken festgelegt. Die Akademische Schule ist an einen Ort außerhalb der Stadt zu verlegen. Des Weiteren wird eine katholische Zensur verhängt und die Pastoren K. A. Geret und Efraim Oloff müssen die Stadt verlassen. Bei der Besetzung des Stadtrats werden allerdings nur vier Positionen von Katholiken belegt, obschon ihnen gemäß Gerichtsbeschluss die Hälfte der Plätze zugesichert worden war.
Die teils diplomatischen, teils polemischen Proteste und Interventionen der westlichen Nachbarstaaten, die sich über den Rückfall Polens in das »finstere Mittelalter« entsetzen, bleiben ohne jede erkennbare Wirkung. Von nun an aber wird das »Thorner Blutgericht« zum Inbegriff der Vorstellungen des Westens von der Intoleranz und Rückständigkeit des polnisch-litauischen Staats und fortwährend propagandistisch genutzt, um die Erste Polnische Republik dauerhaft zu diskreditieren und konfessionelle wie nationale Gegensätze anzuheizen.
Eine lange Vorgeschichte
Die Anfänge der Unruhen in Thorn reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Unter den Bürgern verbreiten sich rasch Martin Luthers Schriften und seine Bibelübersetzung. Die Reformation beginnt hier bereits im Jahr 1521, und zwar mit einem bedeutsamen Vorfall: Die Bürger bewerfen den päpstlichen Legaten und die ihn begleitenden Bischöfe, die ein Bild von Martin Luther und die als ketzerisch bezeichneten Schriften öffentlich zu verbrennen versuchen, mit Steinen. In der Folgezeit finden bereits erste Gottesdienste statt. Man kann daher von 400 Jahren Protestantismus in Thorn sprechen (1521–1920), was aus Anlass des Jubiläums im Jahre 2017 unter anderem mit einer bedeutenden Ausstellung über 500 Jahre Reformation im Altstädtischen Rathaus gewürdigt wurde.
Die katholische Reform nach dem Tridentinischen Konzil 1563 wird in der Adelsrepublik später in Kraft gesetzt, als dies im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation der Fall ist. Dabei ist die Rolle der Jesuiten nicht zu unterschätzen. In Polen vertreten sie aggressiv die Gegenreformation mit Mitteln ihres eigenen Bildungssystems, religiösen Schultheater-Veranstaltungen im Freien, propagandistisch geprägten Werken der Barockkunst oder Prozessionen im öffentlichen Raum.
Um die Situation der Stadt adäquat zu erfassen, muss man sogar bis ins 15. Jahrhundert zurückgehen. Thorn verfügt seit 1457 über zahlreiche Privilegien, die ihm von König Kazimierz IV. Jagiellończyk verliehen wurden. Es wird zur freien königlichen Stadt und genießt fortan volle Autonomie. Im Jahr 1558 gewährt König Sigismund II. August zuerst der Stadt und ein Jahr später dem gesamten Königlichen Preußen das Privileg der Religionsfreiheit. Die Warschauer Konföderation sichert allen konfessionellen Minderheiten religiöse Toleranz in ganz Polen zu. Jeder König seit 1573 leistet im Rahmen der Pacta conventa den Eid, den religiösen Frieden zu wahren.
1568 wird das Protestantische Gymnasium gegründet und 1594 zum Akademischen Gymnasium erhoben. 1595 findet in Thorn die Generalsynode der Lutheraner, der Calvinisten und der Böhmischen Brüder statt, auch eine Delegation der orthodoxen Kirche ist unter den Teilnehmern. Während der Synode wird versucht, eine Universität ins Leben zu rufen, was jedoch nicht gelingt. 1596 treffen Jesuiten in der Stadt ein – ein Zeitpunkt, an dem die Gegenreformation bereits in vollem Gange ist. Aus diesem Grund initiiert Bürgermeister Heinrich Stroband (Amtszeit 1587–1609) eine Synode für das gesamte Königreich Polen mit dem erklärten Ziel, Harmonie und Einheit zwischen den Konfessionen herzustellen und Schutz vor den Angriffen der Jesuiten zu erhalten. 1600 nimmt der Jesuitenorden die bis dato von beiden Konfessionen genutzte Johanneskirche in alleinigen Besitz. 1605 wird (laut eines Dokuments des Kulmer Bischofs Piotr Kostka) das Jesuitenkolleg gegründet, was zu Unruhen in der Stadt führt. Ein Jahr später werden die Jesuiten aus der Stadt vertrieben, nachdem es einen Aufruhr während der Prozession zu Fronleichnam gegeben hat. Nach dem Tod des Bürgermeisters Heinrich Stroband im Jahr 1609 kehren die Jesuiten jedoch wieder in die Stadt zurück.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gewinnen die Calvinisten im Thorner Patriziat tiefgreifenden Einfluß, beispielsweise unter den angesehensten Familien wie den Stroband, Lichtfuß, Linderhausen und Zimmermann. Laut Christoph Hartknoch, dem Preußischen Historiker und Rektor des Protestantischen Gymnasiums im 17. Jahrhundert, nimmt die lutherische Stadt um 1578 calvinistische Züge an. Im Jahr 1586 gestattet der Stadtrat den Reformierten offiziell, ihre Gottesdienste in zwei Kirchen zu feiern. Von entscheidender Bedeutung ist zudem, dass die Reformierten auch mit den Böhmischen Brüdern eine enge Allianz eingehen.
Jene Zeit ist geprägt durch zahlreiche Widersprüche und Konflikte, sowohl unter den Stadtbewohnern selbst als auch zwischen den Bürgern und den polnischen Adligen. Es entwickelt sich die Vorstellung von Thorn als einer belagerten Festung, und dies nicht nur aufgrund der Übergriffigkeiten der Jesuiten und anderer gegenreformatorischer Kräfte, sondern auch aufgrund eines (unterstellten) Neides auf die reiche Stadt sowie zahlreicher Probleme, die mit einer strengen Stadtjustiz und der deutsch-polnischen Zweisprachigkeit einhergehen. Hinzu kommen dann auch noch Provokationen seitens der aufgehetzten katholischen Schüler.
Dennoch oder gerade deshalb sind die Stadtbehörden und König Władysław IV. Wasa bemüht, einer weiteren Eskalation religiös motivierter Konflikte vorzubeugen. Sie laden daher 1645 Lutheraner, Calvinisten und Katholiken zu einem Colloquium Charitativum, einem »brüderlichen Gespräch« ein, das von dem evangelischen Theologen und Bischof der Böhmischen Brüder, Johann Amos Comenius, vorbereitet worden ist. Ein Fiasko ist allerdings bereits von Beginn an absehbar, weil der Vorsitzende Ossoliński, ein polnischer Adliger, offen die katholische Partei favorisiert und erkennbar zu keinerlei Kompromissen bereit ist. Dennoch stellt dieses Treffen einen Meilenstein auf dem Wege zu religiöser Toleranz dar, auch wenn ihm zu dieser Zeit ein Erfolg noch verwehrt geblieben ist.
Wie sieht die andere Partei den Stand der Dinge ? Tatsache ist, dass der katholischen Bevölkerung der Zugang zu politischen Ämtern wie denen von Stadtgericht oder Stadtrat versagt bleibt. Auch die Aufnahme in Gilden und Zünfte wird ihnen aus konfessionellen Gründen verwehrt. Zudem werden Katholiken vereinzelt aus dem Bürgerstand ausgeschlossen. Sie bilden innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie im Allgemeinen die Unterschicht, und ihre Lebensbedingungen stehen nicht selten in scharfem Kontrast zum wohlhabenden calvinistisch-lutherischen Patriziat und der protestantischen Mittelschicht. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die starke Position der Stadt, die es ihr beispielshalber ermöglicht hat, vier wegen handgreiflicher Auseinandersetzungen und der massiven Störung der öffentlichen Ordnung verurteilte polnische Adlige 1721 auf dem Marktplatz hinrichten zu lassen. So entsteht zwischen den Bevölkerungsgruppen ein Zustand permanenter Unruhe, der jederzeit eskalieren kann.
Den Ereignissen des Jahres 1724 gehen im 17. Jahrhundert bereits drei frühere gewaltsame Auseinandersetzungen voraus (1614, 1639 und 1688). Die wiederholten aggressiven Aktivitäten der Jesuiten, die nach 1606 auch 1629 und 1656 nochmals aus der Stadt ausgewiesen werden, aber immer wieder kurze Zeit später zurückkehren, tragen maßgeblich zu den Unruhen bei. In der historischen Forschung wird die Rolle der Jesuiten als Initiatoren der Ereignisse während des Thorner Tumults anerkannt; sie stehen nachweislich auch als treibende Kraft hinter den Gerichtsverfahren und ihren direkten Folgen, den zehn Hinrichtungen.
Offene Fragen
Der Verlust ihrer Kirchen motiviert die Lutheraner, sich um ein neues Gotteshaus zu bemühen. Samuel Luther Geret, der Sohn des verbannten Pfarrers, unternimmt eine »Kollekten-Reise« ins westliche Europa. In der Folge können die Protestanten 1756 eine neue Kirche, die Heiliggeistkirche am Altstädtischen Markt, trotz eines weiterhin bestehenden Verbots in Besitz nehmen. Der lange, über dreißig Jahre währende Zeitraum, in dem den Protestanten kein eigenes Gotteshaus zur Verfügung stand, verdeutlicht die andauernde Intoleranz der katholischen Seite gegenüber den Protestanten.
Wie kann eine derart gespaltene Stadt nach den Ereignissen von 1724 weiter funktionstüchtig bleiben? Zwar wird das Urteil in einigen Teilen im Nachhinein abgeschwächt – so dürfen beispielsweise die ausgewiesenen Prediger wieder in die Stadt zurückkehren –, aber die Konsequenzen für den innerstädtischen Frieden von Thorn sind fatal. Nicht zu übersehen ist auch, dass die Manipulation und die Aufhetzung von Jugendlichen, die die tragischen Vorfälle am 16. Juli 1724 ins Rollen brachten, weiterhin betrieben werden.
Es scheint ein vermeintlich harmloser Zufall am Rande der katastrophalen Ereignisse von 1724 zu sein, dass die Beisetzung von Prinzessin Anna Wasa, der lutherischen Schwester des polnischen Königs, in der Marienkirche 1636 gerade am 16. Juli erfolgte – mit einer elfjährigen Verzögerung. Ihr Bruder, Sigismund III. Wasa, konnte sie ihrer Konfession wegen aus Rücksicht auf die Mitglieder seines Hofes nicht in der königlichen Krypta in Krakau bestatten lassen.
Wohin religiöse Streitigkeiten führen können, liegt angesichts der Geschehnisse von Thorn auf der Hand. Lernen wir aus diesen Ereignissen? Lernen wir aus der Geschichte? Man könnte, in Modifikation des bekannten Appells, geneigt sein, mutlos zu reagieren und zu formulieren: Die Geschichte lehrt uns lediglich, dass wir aus ihr nichts zu lernen vermögen.