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Der Krieg nach dem Krieg

Robert Gerwarth untersucht historische Prozesse und Gewalt-Dynamiken nach 1918

2017 steht unübersehbar unter dem erinnerungspolitischen Vorzeichen des Jubiläums »der Reformation«, die von den tonangebenden Geschichtsinterpreten gegenwärtig wieder zum Inbegriff gesellschaftlichen Fortschritts erhoben wird. Umso deutlicher dürfte sich von den Reformations-feierlichkeiten der gedenkkulturelle Fluchtpunkt des Jahres 2018 unterscheiden :  Das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Immerhin führen die historischen Ereignisse, die sich mit ihm verbinden, in besonders drastischer Weise die Brüchigkeit der Fassade menschlicher »Zivilisation« vor Augen.

Eben­so kurz wie eine Redu­zie­rung »der Refor­ma­ti­on« auf ihre kul­tur­ge­schicht­li­chen »Errun­gen­schaf­ten« wür­de frei­lich eine Geschichts­deu­tung grei­fen, die im offi­zi­el­len Ende des Ers­ten Welt­krie­ges bereits einen Abschluss des mit ihm ein­her­ge­hen­den Zivi­li­sa­ti­ons­bru­ches sehen woll­te. Den – frei­lich nicht neu­en – Ein­wand, dass der Ers­te Welt­krieg viel­mehr dunk­le Schat­ten weit hin­ein in das 20. Jahr­hun­dert wirft, ja des­sen Kon­flik­te sich ohne ihn gar nicht erklä­ren las­sen, unter­streicht der His­to­ri­ker Robert Gerwarth mit sei­nem neu­es­ten Buch Die Besieg­ten. Das blu­ti­ge Ende des Ers­ten Weltkriegs.

Multiethnizität und Staatszerfall

Sei­ne ver­glei­chen­de Stu­die, in deren Zen­trum der Zer­fall der euro­päi­schen Groß­rei­che – des Rus­si­schen Rei­ches, des Deut­schen Rei­ches und Österreich-Ungarns – sowie des Osma­ni­schen Rei­ches steht, ana­ly­siert detail­liert die viel­fäl­ti­gen poli­ti­schen und Gewalt-­Dynamiken, die gera­de erst in der End­pha­se des Krie­ges ihren Aus­gang nah­men und sich weit über ihn hin­aus fort­schrie­ben. Dabei zie­hen sich zwei zen­tra­le Beob­ach­tun­gen als Kon­stan­ten durch die Kon­flikt­ge­schich­te der Zwischenkriegszeit.

Zum einen arbei­tet Gerwarth das fata­le Dilem­ma zwi­schen dem Stre­ben nach einer eth­ni­schen Ein­heit­lich­keit und der fak­ti­schen Mul­ti­eth­ni­zi­tät der neu ent­stan­de­nen Staa­ten Ost(mittel)europas her­aus :  »Der wesent­li­che Unter­schied zwi­schen ihnen und ihren impe­ria­len Vor­gän­gern […] bestand nicht in der erhoff­ten ›eth­ni­schen Rein­heit‹, son­dern viel­mehr dar­in, dass sie wesent­lich klei­ner waren und die eth­ni­schen Hier­ar­chien sich umge­kehrt hatten.«

Die­se Dia­gno­se allei­ne ver­leiht dem Buch frei­lich noch kei­nen Mehr­wert, da sie sich in der his­to­rio­gra­fi­schen Deu­tung des Ers­ten Welt­krie­ges bereits wei­test­ge­hend durch­ge­setzt hat. Bri­sanz gewinnt die­se Ent­wick­lung jedoch dadurch, dass der Autor sie zum andern in einen wech­sel­sei­ti­gen Zusam­men­hang mit einem zwei­ten Pro­zess stellt, der jene Pro­ble­ma­tik beein­flusst und letzt­lich ver­stärkt :  einem Staats­zer­fall, der, wie ihn Gerwarth nach­zeich­net, an fai­ling und fai­led sta­tes und deren blu­ti­ge Kon­se­quen­zen erin­nert, mit denen wir es heu­te außer­halb Euro­pas zu tun haben. »In Erman­ge­lung funk­ti­ons­tüch­ti­ger Staa­ten auf dem Gebiet der ehe­ma­li­gen euro­päi­schen Land­im­pe­ri­en maßen sich Mili­zen unter­schied­li­cher Coleur die Rol­le von Natio­nal­hee­ren an, und die Trenn­li­ni­en zwi­schen Freund und Feind, Sol­da­ten und Zivi­lis­ten ver­schwam­men zuse­hends, was fata­le Fol­gen haben sollte.«

Kontextualisierung von Einzelkonflikten

Die Besieg­ten hilft, Zusam­men­hän­ge, Par­al­le­len und Unter­schie­de zwi­schen den unter­schied­li­chen regio­na­len Kon­flik­ten der Zwi­schen­kriegs­zeit zu erken­nen, und ver­deut­licht his­to­ri­sche Phä­no­me­ne, die das Gesicht Euro­pas in der Nach­kriegs­zeit präg­ten. Damit bie­tet der Autor einen gro­ßen Auf­riss der Gesamt­pro­ble­ma­tik und ermög­licht damit eine Kon­tex­tua­li­sie­rung der ein­zel­nen kon­kre­ten Konfliktkonstellationen.

Dem­entspre­chend ist das Buch nicht anhand ter­ri­to­ria­ler Kri­te­ri­en, son­dern ein­zel­ner his­to­ri­scher Phä­no­me­ne geglie­dert, wel­che die drei Haupt­ka­pi­tel – »Nie­der­la­ge«, »Revo­lu­ti­on und Kon­ter­re­vo­lu­ti­on«, »Impe­ria­ler Zer­fall« – und einen Aus­blick auf »die euro­päi­sche Kri­se des 20. Jahr­hun­derts« struk­tu­rie­ren. Da sich Gerwarth mit einem his­to­ri­schen Raum befasst, der sich immer­hin von Finn­land bis an die Levan­te erstreckt, soll­te man das Buch nicht mit der Erwar­tung lesen, eine detail­lier­te Nach­kriegs­ge­schich­te einer ein­zel­nen Regi­on gebo­ten zu bekom­men. Wer sich jedoch für die grö­ße­ren Zusam­men­hän­ge und ihre Ver­flech­tung mit den ein­zel­nen Kon­flik­ten und Gewal­träu­men inter­es­siert, liest das Buch mit Gewinn. – Im Fol­gen­den soll anhand des Deut­schen Rei­ches ver­deut­licht wer­den, in wel­cher Wei­se Gerwarth dazu ver­hilft, die Geschich­te einer – exem­pla­ri­schen – Kon­flikt­par­tei im Kon­text zu denken.

Das Deutsche Reich in Zeiten des Umbruchs 

Die für das Deut­sche Reich rele­van­ten Ent­wick­lun­gen, die Gerwarth akzen­tu­iert, las­sen sich in mili­tä­ri­sche, ter­ri­to­ria­le, welt­an­schau­li­che und – zum gro­ßen Teil hier­aus ­resul­tie­ren­de – poli­ti­sche unterscheiden.

Zunächst bedeu­te­te das Ende der regu­lä­ren Kampf­hand­lun­gen des Welt­krie­ges für deut­sche Waf­fen­trä­ger nicht zwin­gend das Ende des Kriegs­alltags. Dies ver­deut­licht ein­drück­lich der anhal­ten­de Ein­satz deut­scher Kämp­fer in den gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen des Bal­ti­kums – bei dem das Deut­sche Reich auch gegen­über den Alli­ier­ten aus einer Macht­po­si­ti­on her­aus agie­ren konn­te :  Nach der Errich­tung einer deutsch­freund­li­chen Mario­net­ten­re­gie­rung in Lett­land 1919 for­der­ten die west­li­chen Sie­ger­mäch­te »von der Regie­rung Ebert die sofor­ti­ge Rück­be­ru­fung sämt­li­cher Frei­korps nach Deutsch­land, wor­auf die­se mit dem Hin­weis reagier­te, dass die West­mäch­te das Bal­ti­kum dann selbst gegen die Bol­sche­wi­ki ver­tei­di­gen müss­ten. Die Alli­ier­ten lenk­ten ein und rück­ten von ihrer ulti­ma­ti­ven For­de­rung nach dem deut­schen Abzug ab.«

Kriegsfolgen

Die ter­ri­to­ria­len Kon­se­quen­zen des Ers­ten Welt­krie­ges wie­der­um ver­bin­den sich in beson­de­rer Wei­se mit dem unte­ren Weich­sel­land. Hier – wie andern­orts – zeig­te sich das Wil­son­sche Prin­zip des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Völ­ker im Sin­ne der Schaf­fung neu­er Natio­nal­staa­ten als lebens­feind­li­ches Para­dox : Wil­son hat­te ver­spro­chen, »ein wie­der­her­ge­stell­tes Polen sol­le ein ›unbe­strit­ten‹ von pol­ni­scher Bevöl­ke­rung bewohn­tes Gebiet wer­den mit einem ›frei­en und siche­ren Zugang zur See‹. Bei­de Ver­spre­chen zu erfül­len war unmög­lich, denn ent­lang der Ost­see­küs­te gab es eine dich­te deut­sche Besiedlung.«

Der Ers­te Welt­krieg ver­än­der­te jedoch nicht nur die deut­schen Gren­zen, son­dern min­des­tens eben­so tief­grei­fend das Den­ken im Lan­de. Zum einen schlug sich die Nie­der­la­ge in einem wach­sen­den Natio­na­lis­mus nie­der, der etwa in der deut­schen Wis­sen­schafts­land­schaft zur Ent­ste­hung der auf Revi­si­on drän­gen­den »Ost­for­schung« führ­te. Zum zwei­ten ent­wi­ckel­ten poli­tisch reak­tio­nä­re Kräf­te aus dem Unter­gang von 1918 und den Kriegs­fol­gen her­aus Begrün­dungs­mus­ter für ihre Ableh­nung der jun­gen Demo­kra­tie. Als his­to­ri­schen Zeu­gen lässt Gerwarth den west­preu­ßi­schen Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Elard von Oldenburg-Januschau zu Wort kom­men: »Ich fin­de kei­ne Wor­te, um mei­nen Schmerz über das Gesche­hen des Novem­bers 1918 wie­der­zu­ge­ben, um zu schil­dern, was in mir zer­brach. Ich fühl­te eine Welt ein­stür­zen und unter ihren Trüm­mern alles das begra­ben, was der Inhalt mei­nes Lebens gewe­sen war, was mei­ne Eltern mich von Kin­des­bei­nen an zu ver­eh­ren gelehrt hatten.«

Neben den Gegen­satz von Demo­kra­tie und Reak­ti­on trat zudem die geis­tes­ge­schicht­li­che Dicho­to­mie, die bis zum Ende des Kal­ten Krie­ges prä­gend blei­ben soll­te :  die­je­ni­ge zwi­schen Kom­mu­nis­mus und Anti­kom­mu­nis­mus. Dass sich gera­de die feind­li­che, ableh­nen­de Hal­tung im Deut­schen Reich in beson­de­rer Wei­se aus­präg­te, resul­tier­te aus dem immensen Zuzug anti­bol­sche­wis­ti­scher bzw. zaris­ti­scher Flücht­lin­ge aus Russ­land :  »Im Herbst 1920 waren bereits 560 000 Rus­sen im Deut­schen Reich ein­ge­trof­fen. Ber­lin – und dort vor allem die Bezir­ke Schö­ne­berg, Wil­mers­dorf und Char­lot­ten­burg (das damals den Spitz­na­men ›Char­lot­ten­grad‹ erhielt) – ent­wi­ckel­te sich zum Zen­trum der rus­si­schen Exil­ge­mein­de, deren Mit­glie­der in der deut­schen Haupt­stadt bis 1922 nicht weni­ger als 72 Ver­la­ge gründeten.«

Politische Konsequenzen

Die bereits skiz­zier­ten Ent­wi­cke­lun­gen soll­ten im Lau­fe der Jah­re unmit­tel­ba­re poli­ti­sche Kon­se­quen­zen zei­ti­gen. So kam es in den neu­en Natio­nal­staa­ten Ost­mit­tel­eu­ro­pas zu nach­hal­ti­gen Ver­let­zun­gen der Min­der­hei­ten­rech­te, etwa der­je­ni­gen der deut­schen Volks­grup­pen :  »Was die ›Besieg­ten‹ Euro­pas ein­te, war der Glau­be dass ihre ›ver­lo­re­nen‹ Min­der­hei­ten um jeden Preis ›heim­ge­holt‹ wer­den muss­ten, wodurch die Revi­die­rung der Ver­trä­ge schon lan­ge vor dem Auf­kom­men der Nazis ganz oben auf der poli­ti­schen Agen­da stand.«

Dass die­se Ent­wick­lung für das Deut­sche Reich in sin­gu­lä­rer Wei­se zum Auf­stieg der Natio­nal­so­zia­lis­ten und in den Zwei­ten Welt­krieg führ­te, darf nicht den Blick dafür trü­ben, dass sich die­ser Weg nicht in einem luft­lee­ren Raum voll­zog. Viel­mehr gibt es weit­rei­chen­de Par­al­le­len und Zusam­men­hän­ge, auf die Gerwarth auf­merk­sam macht. Dies gilt vor allem für den Zer­fall des Osma­ni­schen Rei­ches und die Ent­ste­hung der kema­lis­ti­schen Tür­kei, denen die Mono­gra­phie detail­liert nach­spürt. Eben­die­se his­to­ri­schen Vor­gän­ge gehör­ten wie­der­um zu den prä­gen­den Ein­drü­cken, unter denen sich die faschis­ti­schen Dik­ta­tu­ren in Rom und Ber­lin her­aus­bil­de­ten :  »Mit sei­nem kom­pro­miss­lo­sen Wider­stand gegen den Druck der Alli­ier­ten rang Kemal Hit­ler gro­ße Hoch­ach­tung ab. Wie die­ser aus den Trüm­mern der Nie­der­la­ge einen radi­kal säku­la­ren, natio­na­lis­ti­schen und eth­nisch homo­ge­nen Natio­nal­staat schuf, ver­dien­te in den Augen Hit­lers Respekt. Nicht zuletzt die geno­zi­da­le KEF-Politik [KEF = Komi­tee für Ein­heit und Fort­schritt] gegen­über den Arme­ni­ern zu Kriegs­zei­ten und Kemals skru­pel­lo­se Ver­trei­bun­gen der osma­ni­schen Chris­ten übten einen nach­hal­ti­gen Ein­fluss auf die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Vor­stel­lungs­welt aus.«

Ausblick: Gegenwartsbedeutung

Die­se umfang­rei­che Stu­die ist frei­lich nicht nur ein gut recher­chier­tes Geschichts­werk, son­dern zugleich ein Buch von gegen­wär­ti­ger Bri­sanz – begeg­nen dem Leser doch grund­sätz­li­che Pro­blem­stel­lun­gen und Gewalt­phä­no­me­ne, die das wei­te­re 20. Jahr­hun­dert eben­so präg­ten wie unse­re gegen­wär­ti­ge Zeit. Dies gilt für die Auf­lö­sung von »klar umris­se­nen Front­li­ni­en« und die Ent­ste­hung eines Gue­ril­la­krie­ges eben­so wie für die damit ein­her­ge­hen­de Auf­he­bung der Unter­schei­dung von Zivi­lis­ten und Kämp­fern – eine Ten­denz, die im Ein­fluss­ge­biet des »Isla­mi­schen Staa­tes« momen­tan einen beklem­men­den Höhe­punkt erreicht. Fer­ner weist Gerwarth eine Bru­ta­li­sie­rung der vom Krieg betrof­fe­nen Gesell­schaf­ten nach, die zu einem grund­sätz­li­chen Nach­den­ken über die Mög­lich­keit von Konflikt- und Gewalt­prä­ven­ti­on, ja mit­hin über anthro­po­lo­gi­sche Anla­gen zur Gewalt­tä­tig­keit über­haupt anregt. Letzt­lich kreist das Buch jedoch aus his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve um einen Topos, der in der Frie­dens­ethik von wach­sen­der Bedeu­tung ist :  dem­je­ni­gen des »gerech­ten Frie­dens«. 1918 zumin­dest wur­de er in kei­ner Wei­se erreicht.

Til­man Asmus Fischer


Robert Gerwarth
Die Besieg­ten. Das blu­ti­ge Erbe des Ers­ten Welt­kriegs
Mün­chen, Sied­ler 2017.

Aus dem Eng­li­schen von Alex­an­der Weber. Original­titel: The Van­quis­hed. Euro­pe and the After­math of the Gre­at War.
Gebun­den, 480 Sei­ten, ISBN 978–3‑8275–0037‑3, € 29,99


Robert Gerwarth, gebo­ren 1976, hat Geschich­te in Ber­lin stu­diert und in Oxford pro­mo­viert. Nach Sta­tio­nen an den Uni­ver­si­tä­ten Har­vard und Prince­ton lehrt Gerwarth heu­te als Pro­fes­sor für Moder­ne Geschich­te am Uni­ver­si­ty Col­lege in Dub­lin und ist Grün­dungs­di­rek­tor des dor­ti­gen Zen­trums für Kriegs­stu­di­en, das vom Euro­pean Rese­arch Coun­cil und der Gug­gen­heim Stif­tung geför­dert wird. Er ist Fel­low der Roy­al His­to­ri­cal Socie­ty, Mit­glied der Roy­al Irish Aca­de­my und Autor zahl­rei­cher Publi­ka­tio­nen. Sein Buch »Der Bis­marck-Mythos. Die Deut­schen und der Eiser­ne Kanz­ler« (2007) wur­de mit dem renom­mier­ten Fraen­kel Pri­ze aus­ge­zeich­net. Bei Sied­ler erschien zuletzt sei­ne hoch­ge­lob­te Bio­gra­phie Rein­hard Heydrichs.