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Der „Kanzler der Einheit“ und die Deutschen aus dem Osten

Zum Tod von Bundeskanzler Helmut Kohl
(* 3. April 1930–† 16. Juni 2017)

Mitte Juni ist Helmut Kohl in seinem Geburtsort Ludwigshafen verstorben. Abschied vom „Kanzler der Einheit“ nehmen auch deutsche Heimatvertriebene und Heimatverbliebene. Mit ihm verbinden sie in besonderer Weise die Jahre der politischen Wende in Europa.

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabri­ti­us MdB wür­dig­te Hel­mut Kohl, dem bereits 1984 die Ehren­pla­ket­te des Bun­des der Ver­trie­be­nen ver­lie­hen wor­den war, als „Ver­fech­ter der ­euro­päi­schen Idee“ und Unter­stüt­zer der Ver­trie­be­nen und Aus­sied­ler :  „Im In- und Aus­land“ habe er deren „beson­de­ren Anteil […] am geis­ti­gen und mate­ri­el­len Wie­der­auf­bau Deutsch­lands deut­lich“ her­aus gestellt und sich dafür ein­ge­setzt, „Geschich­te und Kul­tur der deut­schen Ost- und Sied­lungs­ge­bie­te zu för­dern sowie die Auf­ar­bei­tung auch des Ver­trei­bungs­un­rech­tes voranzubringen“.

Dabei akzen­tu­ier­te Fabri­ti­us zugleich Ambi­va­len­zen, die sich für die Ver­trie­be­nen mit den his­to­ri­schen Pro­zes­sen ver­bin­den, die zur Wie­der­ver­ei­ni­gung führ­ten :  Hel­mut Kohls Ein­tre­ten für die Eini­gung Euro­pas habe „in unse­ren Krei­sen viel­fäl­ti­ge Hoff­nun­gen“ geweckt – „gera­de zu Beginn der his­to­ri­schen Umbrü­che im Zusam­men­hang mit der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung“. Die­se Hoff­nun­gen spie­gelt auch das Mani­fest 1989 der Lands­mann­schaft West­preu­ßen, in dem der Bun­des­vor­stand die „mehr­fach bekun­de­ten Grund­sät­ze und Anlie­gen“ des Ver­ban­des unter­strich :  Die­se waren neben der „staat­li­chen Ein­heit Deutsch­lands“ vor allem die Volks­grup­pen­rech­te der Deut­schen in der Hei­mat, „Ver­stän­di­gung mit dem pol­ni­schen Volk“ und die „Gestal­tung der Zukunft durch neue For­men des Zusam­men­le­bens der Völ­ker auf Grund­la­ge des Selbstbestimmungsrechtes“.

Zwar sei­en die damals geheg­ten Hoff­nun­gen nicht alle erfüllt wor­den, den­noch, so Fabri­ti­us, „ver­bes­ser­te Hel­mut Kohls poli­ti­sches Han­deln die grenz­über­schrei­ten­de Ver­stän­di­gung auf höchs­ter Ebe­ne ent­schei­dend“. Dass auch damals vie­le Ver­trie­be­ne die­se Span­nung zwi­schen dem defi­ni­tiv besie­gel­ten Ver­lust und den sich eröff­nen­den Chan­cen für ein ver­ein­tes Euro­pa emp­fan­den, bringt wie­der­um die am 30. Sep­tem­ber 1990 gefass­te Ent­schlie­ßung der Lands­mann­schaft West­preu­ßen Zum Tag der Wie­der­ver­ei­ni­gung 1990 zum Ausdruck.

Neben der Freu­de über die erreich­te Ein­heit, die „vol­le Sou­ve­rä­ni­tät“ und neue Per­spek­ti­ven für ein ver­ei­nig­tes Euro­pa war der 3. Okto­ber für die Betrof­fe­nen zugleich „ein Tag der Trau­er“ :  „Unse­re Hei­mat West­preu­ßen wird künf­tig zusam­men mit den ande­ren ost­deut­schen Gebie­ten voll an die Repu­blik Polen abge­tre­ten wer­den. Wir hal­ten solch eine Preis­ga­be für unge­recht.“ Den­noch bekräf­tig­te der Ver­band „unter Wah­rung der berech­tig­ten deut­schen Inter­es­sen zur Fes­ti­gung des Frie­dens und zur Gestal­tung eines zukünf­ti­gen, frei­en, demo­kra­ti­schen, sozi­al gerech­ten und ver­ein­ten Euro­pa bei­tra­gen“ zu wollen.

Ein unbe­streit­ba­rer Glücks­fall war das Wir­ken Hel­mut Kohls vor allem für die Deut­schen im sowje­ti­schen Macht­be­reich. So erin­nert Fabri­ti­us an des­sen auf­rich­ti­gen „Ein­satz für die Inter­es­sen der in den Hei­mat­ge­bie­ten ver­blie­be­nen Deut­schen, sowohl vor als auch nach dem Fall des Eiser­nen Vor­han­ges“. Bereits 1988 erklär­te Kohl als Reak­ti­on auf eine Peti­ti­on der sich im Unter­grund for­mie­ren­den deut­schen Volks­grup­pe in der Volks­re­pu­blik Polen, die Betrof­fe­nen per­sön­lich tref­fen zu wol­len. Gegen den Wider­stand der kom­mu­nis­ti­schen Macht­ha­ber setz­te er die­ses Vor­ha­ben durch und emp­fing im Novem­ber 1989 wäh­rend ­eines Staats­be­suchs Volks­grup­pen­ver­tre­ter in Warschau.

Dass es sich bei sei­ner Soli­da­ri­tät mit den Deut­schen in Polen nicht um Lip­pen­be­kennt­nis­se han­del­te, macht die Gemein­sa­me deutsch-polnische Erklä­rung von 1989 deut­lich, in der auch die berech­tig­ten Inter­es­sen der deut­schen Volks­grup­pe Ein­gang fan­den :  „Bei­de Sei­ten ermög­li­chen es Per­so­nen und Bevöl­ke­rungs­grup­pen, die deut­scher bzw. pol­ni­scher Abstam­mung sind oder die sich zur Spra­che, Kul­tur oder Tra­di­ti­on der ande­ren Sei­te beken­nen, ihre kul­tu­rel­le Iden­ti­tät zu wah­ren und zu ent­fal­ten.“ Zudem wur­de ein ers­ter Schritt in Rich­tung sprach­li­cher Iden­ti­täts­pfle­ge gegan­gen – wenn auch von mut­ter­sprach­li­chem Deutsch­un­ter­richt noch nicht die Rede war :  „Die pol­ni­sche Regie­rung wird sich nach­drück­lich dafür ein­set­zen, die Mög­lich­keit, in den Schu­len Deutsch als Fremd­spra­che zu wäh­len, in allen Lan­des­tei­len gleich­mä­ßig aus­zu­bau­en. Sie erklärt sich ein­ver­stan­den, daß die Bun­des­re­gie­rung bei der Aus­bil­dung von Lehr­kräf­ten hilft und Lehr­mit­tel zur Ver­fü­gung stellt.“

Par­al­lel dazu schuf die Bun­des­re­gie­rung unter Kohl für die­je­ni­gen, die nach Jahr­zehn­ten kom­mu­nis­ti­scher Unter­drü­ckung nicht mehr in ihrer ange­stamm­ten Hei­mat leben woll­ten, die Mög­lich­keit, sich im deut­schen Mut­ter­land anzu­sie­deln. Was dies für die Betrof­fe­nen bedeu­te­te, las­sen die Wor­te von Bernd Fabri­ti­us erken­nen, der auch vor dem Hin­ter­grund ­eige­ner Erfah­rung erklär­te :  „So haben es unzäh­li­ge Aus­sied­ler und Spät­aus­sied­ler – dar­un­ter auch ich – die­sem Ein­satz zu ver­dan­ken, dass sie nach Deutsch­land und damit in die Frei­heit aus­rei­sen und hier eine neue Hei­mat fin­den konnten.“

Das Land, das ihnen zur neu­en Hei­mat wur­de, war die „Bon­ner Repu­blik“. Heu­te ist Deutsch­land zur „Ber­li­ner Repu­blik“ gewor­den. In der Bun­des­haupt­stadt erin­nert seit dem Volks­trau­er­tag 1993 die Neue Wache als zen­tra­le Gedenk­stät­te an die „Opfer von Krieg und Gewalt­herr­schaft“. Die­ses Mahn­mal wur­de maß­geb­lich durch die Geschichts­po­li­tik Hel­mut Kohls geprägt. Dass es die deut­schen Ver­trei­bungs­op­fer expli­zit ein­schließt, ist zugleich ein blei­ben­des Andenken an die Ver­bun­den­heit des „Kanz­lers der Ein­heit“ zu den Deut­schen aus dem Osten.

Til­man Asmus Fischer