Teil I: Das Kriegerdenkmal (1904)
Von Katja Bernhardt
Eine Ansichtspostkarte in Bad Kreuznach
Im Mai 1904 kam in die Pension Ägir in Bad Kreuznach eine Postkarte geflattert, die die Empfängerin, »Frau Oberleutnant […]« – der Name wurde später geschwärzt –, gedanklich etwa eintausend Kilometer nach Nordosten versetzte; denn die Bildseite war mit einer Fotografie versehen, die ein feierliches Geschehen zeigte. Eine Menge aus unzähligen Menschen hatte sich auf einem Platz, auf Balkonen und Dächern der angrenzenden Häuser versammelt und strömte aus den zurückliegenden Straßen hinzu. Häuser, Platz und Straßen waren mit Girlanden und Fahnen geschmückt. Die Bildunterschrift informiert, dass es sich um eine Aufnahme vom 8. Mai 1904 handelt, an dem in Danzig – es ist zu ergänzen: auf dem Holzmarkt – ein Kriegerdenkmal enthüllt und Kränze zu Ehren gefallener Krieger niedergelegt worden seien. (Abb. 1)
Tatsächlich stechen das Hell und die Form des Denkmals aus der dunklen Menschenmasse hervor. In der Unschärfe des Fotos lässt sich bereits seine Gestalt erahnen. Seine vertikale Achse bildet ein steil aufragender sechsseitiger Pyramidenstumpf, der mit einer kleinen, flachen, sechsseitigen Pyramide abgeschlossen wird. Die Assoziation mit einem Obelisken liegt nahe. Beim näheren Hinschauen ist zu erkennen, dass am Fuß des »Obelisken« an drei der sechs Seiten wuchtige Voluten ausgreifen, auf denen jeweils eine Figur ausgestreckt ist. Stadtbauinspektor Richard Dähne (1875–1927) beschreibt diese in seinem Beitrag in »Danzig und seine Bauten« (1908) als einen »Jüngling, fast noch ein Knabe, mit langem Lockenhaar«, einen weiteren »Jüngling, der die Knabenzeit hinter sich hat und schon den Ernst des Lebens zu kennen scheint« und einen »Mann in der Blüte und Kraft der Jahre mit langem Barte«.1 Alle drei sind archaisch gekleidet, Schwerter und Helme lassen sie jedoch als Krieger erkennen. Die Figuren werden jeweils von einer Ädikula hinterfangen, aus deren gesprengten Giebeln und eingefasst von knorrigen Ästen leere Rüstungen und Waffen in den Stein geschlagen hervorwachsen. Darüber sind über der Knabenszene die Jahreszahlen 1864, beim Jüngling 1866 und beim Mann 1870/71 in den »Obelisken« eingemeißelt. An den jeweils verbliebenen drei Seiten sind Löwenköpfe angebracht, aus denen Wasser in ein Becken sprudelt. Letzteres übernimmt die Funktion eines Sockels, mit dem das Denkmal aus dem umgebenden Platz herausgehoben wird. Über den Löwenköpfen schiebt sich, gleichsam aus der Tiefe kommend, jeweils ein Schiffsbug aus dem Obelisken hervor. (Abb. 2)
»Der Stadtkreis Danzig und die Landkreise Danziger Höhe und Danziger Niederung« – so kann aus alledem geschlossen werden – wünschten, mit dem Denkmal der Kriege, die als deutsche Einigungskriege in die kollektive Erinnerung und die Geschichtsschreibung eingingen – des deutsch-dänischen Krieges von 1864 um Schleswig und Holstein, des sogenannten Deutschen Krieges, also der Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich um den Deutschen Bund von 1866, und des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 – und insbesondere »ihrer für das Vaterland gefallenen Söhne« zu gedenken.2
Welche Bedeutung aber dieser Erinnerung beigemessen wurde und welche Funktion sie zum gegebenen Zeitpunkt, 1904, am gegebenen Ort, Danzig, und für die in dieses Gedenken Eingebundenen und womöglich auch davon Ausgeschlossenen zukam, ist damit noch nicht geklärt; denn Denkmäler sprechen selten für sich und nicht unbedingt eine eindeutige Sprache. Sei es, dass sie Orte ritueller kollektiver oder individueller Erinnerung sind, mit der Zeit aus den Augen geraten oder womöglich schlagartig in Frage gestellt und gar gestürzt werden; sei es, dass sie umgemodelt oder neu kontextualisiert werden – als Medien des Erinnerns, des Gedenkens, der Geschichtsdeutung und der Machtausübung sind Denkmäler unausweichlich Teil der kontinuierlichen gesellschaftlichen Verständigung respektive ihrer Konflikte. Damit ist der Sinn, den Denkmäler zu stiften vermögen bzw. stiften sollen, in seinem Wesen nicht nur historisch fragil und schon in ein und derselben Zeit in der Regel konfliktreich. Vielmehr konstituieren sich Bedeutung und Sinn eines Denkmals erst in dieser dynamischen und permanenten Verständigung. Und so gehören die Prozesse und Praktiken, durch die Denkmäler hervorgebracht werden und die sie selbst hervorbringen, provozieren oder auch unterbinden, substantiell zum Denkmal dazu.3
Unsere Ansichtskarte (Abb. 1) war gleich auf mehreren Ebenen in diese Prozesse verwickelt: Sie hielt die Enthüllungsfeier und ihren räumlichen Kontext bildlich fest, als rasch gedruckte Karte verkündete sie zeitnah das Ereignis, wohin auch immer ein Absender sie versandte, und als Erinnerungsstück und nunmehr als Archivgegenstand stellte (und stellt) sie sicher, dass bis auf die heutige Zeit ein Reflex dieser Ereignisse und des längst nicht mehr vorhandenen Denkmals selbst in Erinnerung gebracht werden kann; schließlich führt sie ungewollt selbst den Prozess, in dem sie entstanden ist, vor.
Eine Allegorie auf die Nation
Die Karte legt zunächst also Zeugnis ab darüber, dass an einem Maitag 1904 unzählige Menschen zur Enthüllung des Kriegerdenkmals zum Danziger Holzmarkt geeilt waren, die sich, dort angekommen, in mehreren Kreisen um das neue Denkmal formierten. Die Menge und die Ordnung, die die Organisation und Durchführung der Enthüllungsfeier generierten, lassen darauf schließen: Hier – zumal Jahrzehnte nach den kriegerischen Ereignissen – ging es weniger um ein individuelles Trauern, das des einzelnen gefallenen Soldaten gedachte. Vielmehr ging es um einen zielgerichteten und choreografierten Akt gesellschaftlicher Sinnstiftung.
Die allegorische Darstellung des Denkmals, die sich von unten nach oben aufbaut, ist der Resonanzkörper für den Erinnerungsraum, der in diesem Geschehen evoziert wird. Die drei Krieger erscheinen dabei in ihrer archaischen Ausstaffierung der historischen Zeit enthoben. Die leeren Rüstungen und die Waffen über ihren Köpfen spielen mit ihren Formen hingegen auf vormoderne Zeiten an. Es handelt sich um sogenannte Tropaia, die in der Antike am Ort des Sieges über den Feind aufgestellt wurden und seitdem als Symbol in die Kriegerikonografie eingegangen sind. Hier in Danzig verweisen sie ebenso auf die besiegten Feinde vergangener Kämpfe, ohne diese genau zu bezeichnen. Darauf folgen mit den Jahresziffern die konkreten historischen Ereignisse der jüngsten Geschichte. Der »Obelisk« nimmt diese imaginative Bewegung in der Zeit auf und überführt den kurzen Moment konkreter Geschichtlichkeit sogleich wieder in die zeitlose Aura des Ruhmes der Toten.⁴ Die Einigung des Deutschen Reiches, auf die mit den drei Kriegen angespielt wird, wird somit als Ereignis vorgestellt, das sich, aus der unbestimmten Tiefe der Vergangenheit kommend, in der Geschichte Stück für Stück materialisiert und in den drei Kriegen erfüllt habe, um schließlich wieder in zeitlose Verherrlichung überzugehen. Das Subjekt dieser Einigung versinnbildlicht sich in den Figuren des Knaben, des Jünglings und des Mannes. In deren lebenszeitlicher Aufeinanderfolge wird der Einigung des Reiches eine von Natur her gegebene Reifung, eine innere Notwendigkeit unterstellt. Oder wie es Dähne zeitgenössisch formulierte: »Diese drei Gestalten […] verkörpern das deutsche Volk und das deutsche Heer, wie es in den drei Feldzügen heranreift und heranwächst, die Größe der Gefahr, aber auch die Größe des Erfolges, die die Kriege von 1864, 1866 und 1870 brachten.«⁵ Die zutiefst irdische und historisch junge Idee des einen deutschen Volkes – der Nation, zu deren Ehre, Einigung und Verteidigung die Soldaten gefallen seien – wird in dieser allegorischen Deutung von Geschichte in das Zeitlose und Unhintergehbare transzendiert.
Ein Bekenntnis zum Reich
Diese Sinnschichten eröffnen sich erst in einer avancierten Analyse, vor allem da auf direkte ikonografische Verweise auf Reich und Nation verzichtet wurde. Inwiefern also vermittelten sich diese Sinnschichten auch den Menschen, die da im Mai 1904 zur Denkmalsenthüllung zusammengekommen waren? Vor welchen Wahrnehmungs- und Deutungshorizont wurde also das Denkmal platziert?
Schauen wir zunächst zu den Initiatoren der Denkmalsetzung. In dieser Rolle trat der Kriegerverein Borussia auf. Er war 1882 gegründet worden, ging jedoch in seiner Vorgeschichte auf die bewaffneten Einheiten zurück, die in Reaktion auf Revolution und Aufstand 1848 als nationale Bürgerwehr gegründet worden waren. Die gesellschaftlichen Aufgaben, denen sich der Verein verpflichtet sah, waren die Fortsetzung kameradschaftlicher Beziehungen ehemaliger Militärangehöriger, die Beerdigung ehemaliger Vereinsmitglieder sowie die Unterstützung hinterbliebener Witwen und Waisen. An erster Stelle stand jedoch die »Pflege der Vaterlandsliebe«, und diese hatte im Verein programmatisch ihren Bezugspunkt im Deutschen Reich und der Monarchie.⁶
Hierin fand der Verein einen Resonanzraum bei den mit Entscheidungs- und Artikulationsmacht ausgestatteten städtischen Eliten, die in den Jahrzehnten zuvor sukzessive eine grundlegende Neuausrichtung des städtischen Selbstverständnisses vollzogen hatten.⁷ Bereits im Januar 1871 hatten die Danziger Stadtverordneten auf Initiative des Magistrats eine Adresse an den neu gekrönten deutschen Kaiser verabschiedet, in der sie der »Befriedigung darüber« Ausdruck gaben, »dass Danzig endlich einem Deutschen Reich angehöre«. Mit den sogenannten Säcularfeiern, mit denen 1872 das einhundertjährige Jubiläum der Annexion des ehemals königlichen Preußen durch das Preußische Königreich (noch ohne Danzig und Thorn) und 1893 das einhundertjährige Jubiläum der Eingliederung auch dieser beiden Städte in das Königreich begangen wurde, löste die nationale Deutung der Geschichte der Region und Danzigs die »lokale Abgeschiedenheit« des Danziger Selbstverständnisses ab. Dieses hatte noch bis in das 19. Jahrhundert hinein seinen identifikatorischen Bezugspunkt in der jahrhundertelangen relativen Autonomie gefunden, die der Stadt im Polnischen Königreich zugestanden worden war. Jetzt wurde die Integration Westpreußens samt seiner Hauptstadt in das Deutsche Reich gefeiert; die Feier von 1893 habe sich, so Peter Oliver Loew in seiner grundlegenden Studie zur Danziger Geschichtskultur, schon ganz und gar als königs- und kaisertreues Fest gestaltet. In eben diesem Sinne eines nationalen und reichsdeutschen Bekenntnisses fiel auch der »Deutsche Tag« aus, den der Ostmarkenverein 1902 in Danzig ausrichtete. So war es nur folgerichtig, dass der Zweite Bürgermeister von Danzig, Otto Trampe (1848–1911), sehr bald schon den Vorsitz und der Oberpräsident der Provinz Westpreußen, Gustav von Goßler (1838–1902), den Ehrenvorsitz des eigens einberufenen Komitees für die Errichtung des Kriegerdenkmals übernahmen und die Stadt offenbar zu einem treibenden Akteur des Projektes wurde.
Während also die Feste vermutlich bereits wirksame Gelegenheiten waren, in denen sich die Neuausrichtung des Danziger Selbstverständnisses formte, artikulierte und in einer breiteren Menge der Bewohner verankerte, waren die Danziger seit 1897 darüber hinaus aufgerufen, sei es als Privatpersonen oder sei es vermittelt über Vereine und Institutionen, sich mit einer Spende zur Finanzierung des Kriegerdenkmals selbst zu dem so gedeuteten Vaterland zu bekennen. Nach einem Vierteljahr waren im April 1897 bereits 11.200 Reichsmark zusammengekommen. 1901 konnte das Denkmalkomitee schließlich einen – sinnfällig auf »deutsche« Künstler beschränkten – Wettbewerb für den Entwurf des Denkmals ausloben und für die Realisierung 50.000 Reichsmark veranschlagen. Der erste Preis ging an Christian Behrens (1852–1905), Professor für Bildhauerei am Schlesischen Museum für Bildende Künste in Breslau. Damit war nicht nur eine prominente Person gewonnen, sondern es wurde, da Behrens zu dieser Zeit auch mit der Arbeit an Skulpturen des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig beschäftigt war, zugleich ein Bezug zu einem anderen nationalen Denkmalprojekt hergestellt und damit gleichsam ein virtueller Bezugsraum evoziert.⁸
Die Denkmalinitiative, der Spendenaufruf, die Sammlung der Gelder, das Denkmalkomitee, der Wettbewerb, all die Berichte darüber in der Presse und schließlich die Enthüllungsfeier und deren mediale Repräsentation machten die Denkmalsetzung dabei zu einem mehrjährigen Ereignis, das sich unmittelbar mit der offensiven Selbstpositionierung der Stadt als Hauptstadt einer preußischen Provinz im Deutschen Reich verschränkte. Ein Ereignis, mit dem das individuelle Gedenken an die Gefallenen und die Erinnerung der Kriegsveteranen – vermutlich also für den Einzelnen bzw. die Einzelne bereits gut nachvollziehbar – auf die Reichsidee, damit auf einen höheren Sinn bezogen und eingeschworen wurde; das individuelle Totengedenken wurde in diesem Sinne politisiert.⁹ Dass dabei die suggerierte Egalisierung des Einzelnen in der Gemeinschaft der deutschen Nation eine Illusion war, macht allein schon die ringförmige Ordnung der zur Enthüllung zum Danziger Holzmarkt geeilten Menge deutlich, wie sie anschaulich auf der Bildseite unserer Ansichtskarte dokumentiert ist. Sie bestimmte darüber, wer im Zentrum des Geschehens stand, womöglich dieses mitbestimmte und mit Sprechgewalt ausgestattet war und wer lediglich als Teil der Masse der Veranstaltung Eindrücklichkeit verlieh.
War also dieses Ereignis sowohl Ausdruck wie auch Faktor einer Nationalisierung der Danziger, die sich als deutsch begriffen, so war die Denkmalssetzung, gewissermaßen in umgekehrter, extrovertierter Perspektive, Teil einer ganzen Welle von ähnlichen Denkmalinitiativen, die das Reich einige Jahre zuvor erfasst hatte und seitdem mit unzähligen Denkmalen überzog. Das Kriegerdenkmal auf dem Holzmarkt schwor also nicht nur die Danziger Bürger auf die Reichsidee ein, sondern es war zugleich ein gezielter Akt, mit dem sich die Stadt offensiv und dauerhaft sichtbar zum Reich bekannte. Es war damit Teil eines wirkkräftigen Imaginationsraums, in dem die Nation als Ganzes vorgestellt wurde, und es verankerte diese Imagination am Ort in Danzig – physisch mit dem Denkmal am Platz und symbolisch mit den Schiffsbugen und dem Wasser, das das Denkmal umspülte. Jede Stadt solle sich ein solches »memento« erschaffen, forderte Fritz Abshoff in dem großformatigen Band »Deutschlands Ruhm und Stolz« (ca. 1904), mit dem diese »hervorragendsten vaterländischen Denkmäler in Wort und Bild« vorgestellt und die »Heldenführer und Heldensöhne«, die »zur Entstehung, Größe und Wiedererrichtung des Deutschen Reiches den Grundstein« gelegt hätten, gefeiert wurden. Danzig konnte sich rühmen, hierin schon mit seinem Kriegerdenkmal aufgenommen worden zu sein.10
Ein Abbruch mit Folgen
Die Stadt konnte sich gar rühmen, mit noch einem zweiten, nicht weniger opulenten Denkmal, dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal, in diesem Band vertreten zu sein. Das bronzene Reiterstandbild, das vom Berliner Bildhauer Eugen Boermel (1858–1932) geschaffen worden war, war nur ein Jahr zuvor westlich vor dem Hohen Tor aufgestellt worden.11 (Abb. 7) Es wurde damit nicht nur demonstrativ an den Beginn des sogenannten Königsweges positioniert, auf dem die polnischen Könige einst Einzug in die Stadt gehalten hatten, sondern es besetzte ebenso den westlichen Rand vor der alten Stadt, wo das neue Danzig seinen Schauplatz hatte.
Auch von diesen Veränderungen legt unsere Ansichtskarte Zeugnis ab; denn sie zeigt nicht nur das Ereignis der Enthüllung des Kriegerdenkmals, sondern ist auch eine Momentaufnahme des Danziger Holzmarktes. (Abb. 1) Richtet man also die Aufmerksamkeit darauf, wird man gewahr, dass hinter dem Denkmal ein erst kürzlich erbautes Wohn- und Geschäftshaus, eingehüllt in reichlich Dekor der Neorenaissance, über die Dachlinie der umgebenden Häuser hinausragt. Auf der gegenüberliegenden Straßenecke wächst hinter einem Baugerüst bereits das nächste moderne Geschäftshaus empor, und bald schon würde sich ihm da, wo auf unserer Karte der dreigeschossige, weiß verputzte Bau mit dem Ecktürmchen zu sehen ist, ein weiteres Büro- und Kaufhaus anschließen. (Abb. 4) Ganz offenbar war etwas am Platz in Bewegung geraten.
Einst war der offene Platz des Holzmarktes in einem Winkel vor den Toren der Alt- und der Rechtstadt gelegen und später mit dem Bau der frühneuzeitlichen Festungsanlagen in die Stadt eingeschlossen worden. (Abb. 3) Er lag gut, denn er war von der Alt- und der Rechtstadt hervorragend zu erreichen. Jedoch führte der Weg über den Platz gen Westen noch bis kurz vor die Jahrhundertwende lediglich auf den Wallgang der Festungsanlagen. Diese Situation änderte sich grundlegend mit dem Abriss derselben. Damit wurde 1895 offiziell begonnen, und an der Stelle der Wälle und Gräben, die die Stadt an ihrem westlichen Rand umfangen hatten, wurden nun Boulevards angelegt – der Elisabeth‑, der Dominiks‑, der Karren- und der Wiebewall. Wer nun – ob über den neuen Elisabethwall oder die altstädtische Töpfergasse – vom neuen, auf die Stadtseite verlegten Hauptbahnhof (fertiggestellt: 1900) in Richtung Stadt strebte, kreuzte fast zwangsläufig den Holzmarkt.
Vermutlich noch wichtiger für dessen neue Lage in der Stadt war ein breiter Durchbruch in Ost-West-Richtung, der durch die Niederlegung der Festungsanlagen möglich geworden war und der nun über den Holzmarkt hinweg die entfestete alte Stadt mit dem westlich gelegenen Neugarten verband.12 Dort aber war bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und forciert nach der Begründung der Provinz Westpreußen und der Ernennung Danzigs zu deren Hauptstadt 1878 etwa mit dem Dienstgebäude des Oberpräsidenten (fertiggestellt: 1886) und der Provinzialverwaltung und dem Landeshaus (fertiggestellt: 1883) ein Regierungs- und Verwaltungsviertel im Entstehen. Es würde bald schon um das Land- und Amtsgerichtsgebäude (fertiggestellt: 1910) erweitert werden.13 Die Stadtpläne von 1886 und 1906 (Abb. 5 und 6) – hier im Ausschnitt – führen die einschneidenden räumlichen Veränderungen anschaulich vor.14
Ein Dreieck der Macht
Der Holzmarkt wurde so zu einem Verkehrsknotenpunkt, und er wandelte sich im Zuge all dessen und gemeinsam mit dem westlichen Rand der Stadt zu einem neuen urbanen Zentrum mit Hotels, Restaurants, Geschäfts- und Warenhäusern und Verwaltungsbauten. Während das Kaiser-Wilhelm-Denkmal nicht nur in der Achse des ehemaligen Königsweges, sondern ebenso in die Flucht des neuen Dominikswalls positioniert wurde (Abb. 7), stand ganz in der Nähe das Kriegerdenkmal in der verlängerten Achse des Neugartens. Und so bildete das Denkmal mit seiner Huldigung der »Einigungskriege« als Vollzug nationaler Selbstwerdung des deutschen Volkes mit den Bauten für die Regierung und Verwaltung der Provinz am Neugarten und dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal als Repräsentation monarchischer Macht ein sinnbildliches Dreieck, in dem Reich, Provinz und die vorgeblich willige Selbstaufopferung des Volkes in wechselseitigen Bezug zueinandergesetzt waren und sich sinnfällig ergänzten.
Hier, am Rande der alten Stadt – in Neu-Danzig –, etablierte sich also das neue Machtgefüge, in dem sich Danzig als Hauptstadt einer Provinz im Königreich Preußen und als ein integraler Teil des Deutschen Reichs, als deutscher Nationalstaat und als Monarchie, verortete. Dieses Machtgefüge etablierte sich physisch im städtischen Raum ebenso wie dessen ideologische Deutung und Sendung den Stadtraum auf einer symbolischen Ebene einnahm. Dieses neue Danzig stand zum alten Danzig notwendigerweise in einer spannungsreichen Beziehung – stadträumlich gleichermaßen wie in einem übertragenen Sinne, denn das neue städtische Bewusstsein bildete den Fixpunkt, von dem aus die Danziger Vergangenheit reinterpretiert wurde. Die Rückprojektion des national deutschen Selbstverständnisses auf die Historie brachte ein einseitig überhöhtes Narrativ hervor, das der Vielschichtigkeit der Geschichte der Stadt nicht gerecht werden konnte und das zunehmend mit der »Beschwörung polnischer Gefahren« verkoppelt war.15 Beides, das Geschichtsnarrativ, das ob seiner Exklusivität über kurz oder lang revidiert werden würde, wie auch die antipolnische Rhetorik, gewissermaßen als unsichtbare Kehrseite der Einschwörung der Danziger auf die Einheit der deutschen Nation, lagerten sich diskursiv an das Kriegerdenkmal auf dem Holzmarkt an.
In dem Moment, in dem der von Deutschland angezettelte Krieg 1945 auf die Stadt zurückschlug und den fliehenden Deutschen Polen nachrückten, die die Stadt einnahmen, mussten diese Sinnschichten in einem nunmehr grundlegend veränderten Resonanzraum einen gewaltigen Misston erzeugen. Sinnschichten, die sich im dynamischen Ineinandergreifen von Ikonografie, Erinnerungspraxis und symbolischer Machtrepräsentation gebildet hatten, die über die Jahre zwar modifiziert worden waren, immer aber ihren zentralen Bezugspunkt im Deutschen Reich und in einer exklusiv nationalen deutschen Deutung der Stadt hatten. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den Konflikt um die Freie Stadt Danzig sowie auf die Erfahrungen, die die Bürger der Polnischen Republik in der Zeit der Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland machen mussten, ist die Entscheidung der Miejska Rada Narodowa, des polnischen Nationalen Stadtrates, vom 9. Juli 1946 zu verorten, mit der der Abriss des Denkmals beschlossen wurde. Er erfolgte nur einige Tage später, am 1. August.
Der zweite Teil dieses Beitrags erscheint in der nachfolgenden Ausgabe 2/2024.
- R[ichard] Dähne: »Denkmäler, Brunnen usw.«, in: Danzig und seine Bauten, hrsg. v. Westpreußischer Architekten- und Ingenieur-Verein zu Danzig, Berlin 1908, S. 429–432, hier: S. 430f.
- Die Widmung auf dem Denkmal lautete: »Der Stadtkreis Danzig und die Landkreise Danziger Höhe und Danziger Niederung dem Andenken ihrer für das Vaterland gefallenen Söhne«.
- Siehe dazu grundlegend die Einleitung in: Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 108).
- Zur Ikonografie des Obelisken: Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. V: Mosb‑Q, hrsg. v. Harald Olbrich u.a., Leipzig 1993, S. 245f.
- Dähne, »Denkmäler« (wie Anm. 1), S. 431.
- Kurzer Abriß der Geschichte des Krieger-Vereins »Borussia« in Danzig in den ersten 25 Jahren seines Bestehens. Eine Gabe zum Jubelfeste, Danzig, den 18. Januar 1908, Zitat: S. 10.
- Grundlegend zur Veränderung des geschichtlichen Selbstverständnisses Danzigs: Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793–1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück 2003, S. 145–218, hier insbesondere: S. 145–154 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 9). Die Zitate in diesem Absatz sind dieser Publikation entnommen: Ebd., S. 145 und 148.
- »Danziger Kriegerdenkmal […]«, in: Danziger Neueste Nachrichten, Nr. 98 vom 28. April 1897; zur Auslobung: Danzig […], in: Kunst für Alle, 16 (1900/1901), H. 11, S. 272; Bernhard Arke: Danzigs Kriegsdenkmäler, Danzig 1908; Kurzer Abriß (wie Anm. 6), S. 35f.; Loew, Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 7), S. 181 und 480.
- Zur Frage des politischen Totengedenkens siehe insbesondere die Schriften Reinhard Kosellecks.
- Deutschlands Ruhm und Stolz. Unsere hervorragendsten vaterländischen Denkmäler in Wort und Bild, u. Mitwirkung v. zahlreichen Behörden, Vereinen und Vaterlandsfreunden bearb. und redig. v. Fritz Abshoff, Berlin o.J. [ca. 1902], S. 76.
- Ebd.; zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal außerdem: Loew, Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 7), S. 167 und 480; Jacek Friedrich: Walka obrazów. Przedstawienia wobec idei w Wolnym Mieście Gdańsku [Der Kampf der Bilder. Vorstellungen der Idee der Freien Stadt Danzig], Gdańsk 2018, S. 91–99.
- Richard Bertlings Großer Plan von Danzig, 1886; Plan von Danzig, Kafemann, 1906.
- Siehe dazu das Kapitel »Hochbauten/A. Verwaltungsbauten«, in: Danzig und seine Bauten, hrsg. v. Westpreußischer Architekten- und Ingenieur-Verein zu Danzig, Berlin 1908, S. 107–143.
- Wiesław Gruszkowski: »Rozwój przestrzenny [Die räumliche Entwicklung]«, in: Historia Gdańska [Geschichte Danzigs], Bd. IV/1: 1815–1920, hrsg. v. Edmund Cieślak, Sopot 1998, S. 250–267; zum Prozess der Entfestung: Małgorzata Omilanowska: »Defortyfikacja Gdańska na tle przekstałceń miast niemieckich w XIX wieku [Die Entfestung Danzigs vor dem Hintergrund der Umgestaltungen deutscher Städte im 19. Jahrhundert]«, in: Biuletyn Historii Sztuki, 72 (2010), H. 3, S. 293–334.
- Loew, Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 7), S. 167.