Zurück

Titelbild: Neptunbrunnen in Danzig

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

Der höchste Turm Westpreußens

Die Geschichte des markanten Wahrzeichens von Elbing

Von Bartosz Skop

Jede Stadt hat ein architektonisches Symbol, das fest mit ihr ­verbunden ist. In der alten Hansestadt Elbing trifft dies zweifellos auf die Domkirche St. Nikolai mit ihrem 97 m hohen Turm zu.

Bis 1945 galt dieser Turm (gleichauf mit den beiden Domtürmen von Breslau) als der höchste in Ostdeutschland; in Polen nimmt er in solch einem Ranking heute den neunten Platz ein. Weiterhin ist er aber zumindest der höchste Kirchturm östlich der Weichsel.

Drei Jahre nach der Gründung von Elbing setzt im Jahre 1240 auch die Geschichte von St. Nikolai ein. Von nun an sind die Entwick­lungen der Stadt und ihrer Pfarr­kirche aufs Engste mitein­ander verwoben. Das Gebäude wird in den folgenden Jahrhun­derten immer wieder erweitert und modifi­ziert. Darin spiegelt sich zunächst der Wunsch der Bewohner wider, den stetig zuneh­menden Reichtum und das Prestige der Hanse­stadt in angemes­sener Weise zum Ausdruck zu bringen: Die Kirch­türme und die Stadt­be­fes­tigung treten in Elbing zu einem derart eindrucks­vollen Panorama zusammen, dass die Stadt sogar mit den »Sieben Türmen« von Lübeck verglichen wird.

Eine neue Blüte erlebt die Stadt in der Gründerzeit, in der sie zu einem bedeu­tenden nordost­deut­schen Indus­trie­zentrum aufsteigt. Folge­richtig wächst mit den ökono­mi­schen Ressourcen Elbings auch das Bedürfnis der Bürger­schaft, an ihrer Haupt­kirche einen reprä­sen­ta­tiven – und nun besonders imposanten – Turm errichten zu lassen. Keine 40 Jahre später aber ist Elbings Altstadt – nachdem der Feuer­sturm des Zweiten Weltkrieges gewütet hat – weitest­gehend vernichtet und findet im nackten Stahl­skelett der Turmspitze, das sich über das Trümmerfeld erhebt, für längere Zeit das Sinnbild ihrer Katastrophe.

Glück­li­cher­weise wird in der Stadt­ge­schichte seit den späten 1950er Jahren noch ein neues Kapitel aufge­schlagen: Über etliche Zwischen­schritte konnte es somit 2015 gelingen, dass die Kirche, die inzwi­schen zur Kathe­drale einer eigenen Diözese erhoben worden ist, wieder in voller Pracht als Wahrzeichen Elbings erstrahlt.

Ein mächtiges Westwerk

Wann einst mit dem Bau des Mittel­turms begonnen wurde, lässt sich nicht mehr exakt erschließen. Die Arbeiten müssen aber gewiss in der ersten Hälfte des 14. Jahrhun­derts aufge­nommen worden sein, denn bereits 1364 wurde die große Glocke erstmals urkundlich erwähnt und wohl wenig später auch aufge­hängt. Aller­dings führten ein zu dieser Zeit durch­ge­führter Ausbau des Haupt­schiffs sowie das regel­mäßige Läuten dieser Glocke zu einer Insta­bi­lität des Mauer­werks und der Turmkon­struktion insgesamt.

Die Elbinger haben dieses Problem auf eine origi­nelle Weise gelöst. Während ihre Pfarr­kirche – wie üblicher­weise auch die anderen in Preußen – nur einen Glockenturm erhalten sollte, errich­teten sie bis 1428 an dessen Seiten zwei weitere, fast gleich hohe Türme, deren bautech­nische Haupt­aufgabe darin bestand, den zentralen Turm zu stützen. Dadurch entstand ein beein­dru­ckendes dreitei­liges Westwerk, das in der gesamten Region einzig­artig war.

Nach der Refor­mation diente St. Nikolai von 1573 bis 1617 der luthe­ri­schen Gemeinde als Haupt­kirche. In dieser geschicht­lichen Phase erlebte die Stadt unter der polni­schen Krone eine Zeit zuneh­mender Prospe­rität. So wurden 1576 an der West- und Ostseite des Haupt­turms manie­ris­tische Giebel errichtet, in die Uhren mit großdi­men­sio­nierten Ziffer­blättern eingefügt wurden; und der Baumeister Michael Janszon Pfingster konnte zwischen 1599 und 1603 den Haupt- und Uhrenturm mit einem spekta­ku­lären, durch zwei Galerien geglie­derten Aufsatz versehen. Der »Grüne Turm«, wie er aufgrund seiner Farbe hieß, wurde jetzt zum Wahrzeichen der stolzen Stadt. Seine Höhe betrug 312 Fuß (ca. 96 m), und er überragte damit die meisten Türme der damaligen Respu­blica Poloniae

Hohe Bauwerke ziehen zwangs­läufig Blitze an. Von solchen Einschlägen wurde der Hauptturm von St. Nikolai mehrmals getroffen: Dies geschah 1647, 1652, 1718 und am Weihnachtstag 1736, wobei sich die Brände glück­li­cher­weise jeweils zügig eindämmen ließen. Wenngleich Benjamin Franklin seine physi­ka­li­schen Arbeiten über die Elektri­zität 1751 veröf­fent­licht hatte, verfügte der Turm auch im Jahr 1777 noch über keinen Blitz­ab­leiter, und so schlug am 26. April während eines schweren Unwetters um 10:30 Uhr ein Blitz in die Spitze des »Grünen Turms« ein. Diesmal war das ausbre­chende Feuer derart heftig, dass alle drei Kirch­türme bis auf Stümpfe herun­ter­brannten und dass die Dachkon­struk­tionen über den Kirchen­schiffen und sogar das benach­barte Alte Rathaus zerstört wurden. Erst am Morgen des folgenden Tages konnten die Flammen unter Kontrolle gebracht werden, und kleine Brand­herde schwelten noch bis zum 30. April.

Nach dieser Katastrophe erhielt die Kirche ein provi­so­ri­sches Dach, denn alle Verant­wort­lichen wie auch die Bürger gingen wie selbst­ver­ständlich davon aus, dass das Gotteshaus nach und nach wieder­auf­gebaut würde. Dann verfasste Stadt­bau­meisters Bernhard Emmanuel Friederici einige Jahre später aller­dings ein Gutachten, in dem er an mehreren Stellen gravie­rende Risse im Mauerwerk, insbe­sondere an den Mauern des Nordturms zur Fischer­straße hin, konsta­tierte. Daraufhin wurden von den Mauern der Kirchen­schiffe und der Seiten­türme mehr als sechs Meter in der Höhe abgerissen; und die Hoffnung, dass wenigstens der Hauptturm bewahrt werden könnte, stellte sich während dieser Arbeiten in den Jahren 1786 und 1787 als trüge­risch heraus, weil auch diese Partien in einem sehr schlechten Zustand waren und ebenfalls abgetragen werden mussten. Übrig blieb seit Anfang der 1790er Jahre nur der 13 m hohe Stumpf, der danach – nicht ohne Gehäs­sigkeit – als »gewal­tiger Mauer­klotz« bezeichnet wurde. Damit hatte Elbing sein Wahrzeichen für lange Zeit verloren.

Ein Jahrhundert vergeblichen Bemühens

Der Magistrat der Stadt Elbing konnte ebenso wie die katho­lische Kirchen­ge­meinde den Verlust der Türme nicht verwinden. Deshalb wurde Stadt­bau­meister Friederici beauf­tragt, einen Entwurf für einen neuen Turm anzufer­tigen. Bei seiner Konzeption gelangte er zu einer Höhe von 240 Fuß, von der 130 Fuß in Holzbau­weise errichtet werden sollten. Die Skizze wurde zur Geneh­migung an das Oberbau­de­par­tement in Berlin geschickt, dort wurde das Vorhaben aber aus größten­teils techni­schen Gründen definitiv abgelehnt. Daraufhin erstellte Friederici im Jahr 1790 einen neuen Entwurf und Kosten­vor­anschlag des Turmes mit einem barocken Aufsatz, der sich einschließlich von drei Glocken und einer Turmuhr auf einen Betrag von 20.653 Reichs­talern und 60 Groschen belief, der weder von der Kirchen­ge­meinde noch der Stadt hätte aufge­bracht werden können. Die Gemeinde beantragte nun bei der Kriegs- und Domänen­kammer zu Marien­werder eine Unter­stützung, doch auch diese Bemühungen schei­terten 1793, und selbst eine ausdrück­liche Befür­wortung durch König Friedrich Wilhelm II. vermochte es nicht, diese Entscheidung zu revidieren. So konnte auf die Bedachung, die seit 1783 wie bei einer Hallen­kirche alle drei Kirchen­schiffe überspannte, 1796 nur ein kleiner Dachreiter aufge­setzt werden, der von nun an die Funktion des Glocken­turms übernehmen musste. Diese vorläufige Lösung des Problems bestand – ebenso wie manches andere Provi­sorium – eine lange Zeit, und zwar, während das Thema Wieder­aufbau immer wieder aufge­griffen wurde, das ganze 19. Jahrhundert hindurch.

Untersuchungen und Planungen

Ende des 19. Jahrhun­derts zählte die katho­lische Gemeinde St. Nikolai bereits 10.000 Seelen, so dass der Wunsch nach einem reprä­sen­ta­tiven Gotteshaus immer drängender wurde. So entstanden in der Amtszeit von Probst Adalbert Wagner Skizzen zu neuen Entwürfen. Demge­genüber unternahm der ihm nachfol­gende Probst, August Zagermann, im Verbund mit dem Kirchen­vor­stand ernst­hafte Anstren­gungen, die Kirche in ihrem früheren Glanz wieder­her­zu­stellen. Deshalb unter­suchte Maurer­meister Otto Depmeyer im Jahr 1894 die Funda­mente des früheren Turms und kam zu dem Ergebnis, dass sie für einen Neubau noch zu nutzen seien. Fünf Jahre später begut­achtete ein Mauer­meister Bruno Fechter neuerlich den »gewal­tigen Mauer­klotz« und kam ebenfalls zu dem Urteil, dass die vorhandene Bausub­stanz das Gewicht des geplanten Turms tragen könnte. Diese Studien stehen vermutlich mit Entwurfs­tä­tig­keiten im Zusam­menhang, die in dieser Phase zu einem nicht genauer bestimm­baren Zeitpunkt vom Königs­berger Archi­tekten Wilhelm Bolten ausge­führt wurden. Sein Konzept betraf zwar eigentlich nur den Turm, umfasste aber auch die Errichtung neuer Giebel auf den Mauern der drei Kirchen­schiffe (die aber erst in den 1950er Jahren entstanden). 

Boltens Ziel war es offen­sichtlich, durch das Aussehen und die Größe des Turmbaus den Eindruck des Erhabenen, wenn nicht Monumen­talen hervor­zu­rufen. Die Gesamthöhe sollte nun 96 m betragen. Die Begut­achtung des Projektes erfolgte durch den örtlichen Bezirks­bau­in­spektor Theodor Neuhaus. Trotz einer grund­sätzlich positiven Einschätzung gab es auf verschie­denen Ebenen Kritik an einzelnen Details. Vom preußi­schen »Minis­terium der geist­lichen, Unterrichts- und Medizi­nal­an­ge­le­gen­heiten« wurde eine Sonder­kom­mission einge­setzt, die am 8. Juni 1901 eine Besich­tigung des Kirchen­ge­bäudes an seinem Standort vornahm. Zu klären war weiterhin die grund­sätz­liche Frage, ob der »Mauer­klotz« tatsächlich in der Lage wäre, ein derart schweres Bauwerk zu tragen. Deshalb wurde beschlossen, zunächst noch weitere Unter­su­chungen vorzu­nehmen. Sie führten im September des gleichen Jahres zu dem Ergebnis, dass das Stein­fun­dament des Turms eine Tiefe von fünf bis sechs Meter erreichte.

Nach der Kritik im Vorfeld konnten Boltens Vorstel­lungen nicht vollständig reali­siert werden. Vielmehr wurde vom Kreis­bau­in­spektor Theodor Neuhaus 1902 ein modifi­zierter Plan vorgelegt, der nun auch schon von einem Kosten­vor­anschlag in Höhe von 205.000 Mark begleitet wurde. Die Gemeinde St. Nikolai verfügte über ein früheres Legat, das sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun­derts für den Bau eines Glocken­spiels erhalten hatte und das inzwi­schen bis zum Beginn des 20. Jahrhun­derts mit Zins und Zinseszins einen Wert von 100.000 Mark erreicht hatte.

In Bezug auf die weiterhin bestehende Finan­zie­rungs­lücke hoffte die Gemeinde auf die Unter­stützung des Staates in seiner Funktion als Schirmherr der Kirchen; die Behörden der Danziger Provin­zi­al­re­gierung und des schon genannten preußi­schen Minis­te­riums bestanden zunächst jedoch darauf, dass der Turm in derje­nigen Gestalt wieder­her­zu­stellen sei, die seinem Erschei­nungsbild im 17. Jahrhundert entspräche, und lehnten das Ersuchen letztlich mit der Begründung ab, dass der »Fiskus als Patron nach dem allge­meinen Landrecht nur zum Bau von Kirchen, nicht Kirch­türmen verpflichtet« wäre. In dieser Situation sah sich die gänzlich allein­ge­lassene Gemeinde genötigt, für ihre Projekte selbst ein Darlehen in Höhe von 110.000 Mark aufzunehmen.

Der Turmbau

Die ersten Abbruchs­ar­beiten begannen im Mai 1906. Die gesamte Maßnahme wurde vom König­lichen Kreis­bau­in­spektor Karl Michaelis geleitet, der in einzelnen Phasen jeweils von verschie­denen Archi­tekten und Technikern unter­stützt wurde. Haupt­auf­trag­nehmer waren die Elbinger Bauun­ter­nehmen Otto Depmeyer und Zimmer­meister Walter Jebens.

Bei den Arbeiten am »Mauer­klotz«, der ursprünglich – aufgrund der vorher­ge­henden Begut­ach­tungen – hätte wieder­ver­wendet werden sollen, wurden unerwar­te­ter­weise Risse in den Wandungen festge­stellt, so dass ein vollstän­diger Abriss unaus­weichlich wurde. Auch der Zustand der Grund­mauern entsprach nicht den Erwar­tungen. Darüber hinaus zeigte sich, dass sie kleinere Abmes­sungen aufwiesen, als frühere Unter­su­chungen ergeben hatten. Deshalb musste der Bauplan gleich zu Beginn leicht umgestaltet werden. Die wichtigste Änderung betraf die Fläche des Grund­risses, die von 13,00 : 13,60 m auf ein Quadrat von 12,75 m Seiten­länge verkleinert wurde, was dem Turmschaft eine schlankere Form verlieh. Die oberen Teile blieben im Maß unverändert.

Auch das Fundament bot eine unange­nehme Überra­schung: Es bestand aus losen Granit-Findlingen, die eine Last von rund 6.000 t nicht zu tragen vermochten. Deshalb musste die obere Schicht bis zu einer Tiefe von zwei Metern entfernt und vom darun­ter­lie­genden Teil an mit insgesamt 451,8 m³ Beton ausge­gossen werden, der seiner­seits durch Doppel­trä­ger­profile stabi­li­siert wurde. Darauf konnte nun ein großes und schweres Bauwerk errichtet werden.

Am 24. Oktober 1906 fand die feier­liche Grund­stein­legung statt. Damit wurde das Start­zeichen für einen Arbeits­prozess gegeben, der zu einer Demons­tration des modernen, technisch versierten Bauens werden sollte: Nirgendwo in Preußen wurde ein derart hohes Bauwerk in solch einer Geschwin­digkeit errichtet: Im November 1906 ragten die Mauern schon eineinhalb Meter über das Niveau des Sockels heraus. Jetzt wurde eine elektrische Beleuchtung instal­liert, die es ermög­lichte, die Arbeiten auch nachts fortzu­setzen. Nachdem insgesamt 6 Mio. kg an Backsteinen und Eisen verbaut waren, erreichte der Turmschaft bereits Ende Juli 1907 die Höhe, auf der er mit vier neoma­nie­ris­ti­schen Giebeln bekrönt wurde – die Sandstein­ele­mente hatte die Firma Migge aus Breslau geliefert – und auf der nun das Stahl­gerüst des Helmes aufge­setzt werden konnte.

Natur­gemäß ging der Aufbau der Stahl­kon­struktion noch rascher vonstatten. Die von Brett­schneider & Krüger aus Berlin-Pankow gelie­ferten Bauele­mente des Turmhelms wurden unten auf dem Straßen­niveau aufgebaut, dann mit Hilfe hydrau­li­scher Hebevor­rich­tungen nach oben trans­por­tiert und dort dann verschweißt. Dieses Skelett wurde schließlich mit Holz und Kupfer verkleidet. Auf diese Art entstand ein zeitge­mäßes Bauwerk, dessen Erschei­nungsbild äußerlich gleichwohl stark an dasjenige des »Grünen Turms« erinnerte. – Während der ganzen Bauzeit ereignete sich übrigens nur ein einziger Unfall: Ende September 1907 traf ein herab­fal­lender Hammer einen der Handwerker und fügte ihm einen Schädel­bruch zu.

Gegen Ende des Jahres 1907 waren die Arbeiten so weit voran­ge­schritten, dass noch im Dezember der Glocken­stuhl gebaut und sechs Glocken, die von der Glocken­gie­ßerei Franz Schilling aus Apolda stammten, aufge­hängt werden konnten. Das von Phillip Hörz in Ulm gefer­tigte Uhrwerk verfügte über vier große Ziffer­blätter mit einem Durch­messer von jeweils 4,30 m; es schlug zur halben und zur vollen Stunde, und die Zeiger und Ziffern waren vergoldet. Es handelte sich um eine der größten Turmuhren Westpreußens. Schließlich wurde das Bauwerk noch mit einem sieben Meter hohen Kreuz bekrönt.

Bereits im Frühjahr 1908 konnte die Baustelle abgeräumt werden. Die endgül­tigen Kosten beliefen sich – ohne Berück­sich­tigung der Bauleitung – auf 256.000 Mark. Als denkwür­diges Zeugnis der avancierten Baukunst im frühen 20. Jahrhundert erfüllte dieser Turm in vorzüg­licher Weise die Ambitionen des modernen Elbing, das in der Kaiserzeit eine glanz­volle Renais­sance als Indus­trie­stadt erlebte. Für die Höhe des Bauwerks findet sich in dieser Zeit die Angabe von 95 m, während das Ergebnis heutiger Messungen eine Höhe von 97 m beträgt.

Das weitere wechselvolle Schicksal

Im Jahr 1918 wurden die Kupfer­ver­kleidung des Turmhelms zwar zu Kriegs­zwecken beschlag­nahmt, blieb aber intakt, weil die Demontage ein Gerüst nötig gemacht hätte und die Anordnung mithin nicht umsetzbar war. Die Glocken von Franz Schilling hatten weniger Glück: Sie wurden 1917 im Zuge der »Metall­spende des deutschen Volkes« requi­riert, abgenommen und einge­schmolzen. Die Glocken­gie­ßerei Heinrich Humpert – Inhaber Junker & Edelbrock – Albert Junker in Brilon stellte 1928 vier neue große Glocken her, auch sie aber wurden dann im Zweiten Weltkrieg beschlagnahmt.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde St. Nikolai schwer beschädigt. Am 2. Februar 1945, an »Mariä Lichtmess«, brannte das ganze Kirchen­ge­bäude nieder. Der Turm verlor seine Kupfer­um­man­telung und einige seiner Giebel stürzten ein. Das Stahl­ge­rippe hingegen trotzte den Zerstö­rungen. Für die neuen Macht­haber lag es deshalb nahe, den wertvollen Rohstoff für eigene, bessere Zwecke zu nutzen. Dabei ergab sich die aufschluss­reiche Konstel­lation, dass zwar der zweite polnische Stadt­prä­sident von Elbing, Jerzy Skarżyński, den Abriss des Gerüsts verfügte, der sowje­tische Stadt­kom­mandant Oberst Jurij Novikov aber, der von Beruf Architekt war, dagegen heftigen Protest einlegte. Auf diese Weise blieb die besondere Träger­kon­struktion nachfol­genden Genera­tionen erhalten und wurde dann in den Jahren 1948/49 vollständig gesichert.

1950 konnten bereits einzelne Repara­tur­ar­beiten vorge­nommen werden: Der Glocken­stuhl wurde gerichtet und mit drei stählernen Glocken vom Turm der kriegs­zer­störten St. Annen­kirche bestückt. Im Jahr 1957 wurden Einschuss­löcher im Maurerwerk geschlossen, und zwar mit Ziegeln, die hier nach dem Abbruch der von Wilhelm II. erbauten Kaiser­kirche in Cadinen eine Wieder­ver­wendung finden sollten.

Die Arbeiten zum Wieder­aufbau der Turmspitze begannen 1961. Wohl aus finan­zi­ellen Gründen wurde auf eine histo­risch getreue Rekon­struktion der Giebel zugunsten schlichter Bauformen verzichtet. Die Rekon­struktion des Helms folgte aber der ursprüng­lichen Vorlage. Auch dabei sollten aller­dings die Kosten möglichst niedrig gehalten werden, indem die Verkleidung nicht aus Kupfer, sondern aus verzinktem Blech gefertigt wurde. Diese Maßnahme fand im September 1963 ihren Abschluss; und danach wurde im Jahr 1970 nur noch ein kleinerer Umbau der Treppen­häuser vorgenommen.

Im Laufe der beiden folgenden Jahrzehnte machte sich die unzurei­chende Qualität der Turmver­kleidung zunehmend bemerkbar: Sie begann schlichtweg zu rosten. Einen wichtigen Impuls, die notwendig gewor­denen Renovie­rungs­ar­beiten tatsächlich durch­zu­führen, gab 1992 die Bildung der neuen Diözese Elbing mit der Erhebung der Nikolai-Kirche zum Bischofssitz: Bereits im folgenden Jahr verschwanden die hässlichen Zinkplatten und machten einer angemes­senen Kupfer­ver­kleidung Platz. 

In den Jahren 2014/15 folgte schließlich eine umfas­sende, langwierige Instand­setzung des Bauwerks, die durchaus spekta­kuläre Momente hatte, denn zweit­weise erweckte der fast vollständig in Folie einge­schlagene Turm den Eindruck, als ob der Künstler Christo eines seiner Verhül­lungs­pro­jekte reali­siert hätte. Im Rahmen dieser Arbeiten wurde zudem die Stahl­kon­struktion verstärkt und die untere Galerie als Aussichts­plattform nutzbar gemacht. Von nun an war der Turm – wie übrigens auch schon einmal in der Zwischen­kriegszeit – für Besucher zugänglich.

Ein Turmaufstieg

Im unteren Teil des Bauwerks befinden sich zwei separate Treppen­häuser. Deshalb haben sich der Eingang auf der linken und der Ausgang auf der rechten Seite der Vorhalle vonein­ander trennen lassen. Auf der ersten Etage, in gut acht Metern Höhe, befindet sich eine kleine Ausstellung von Relikten der früheren Kirchen­aus­stattung sowie von Schau­tafeln zur Sanierung des Kirch­turms. Im Jahr 1908 war hier eine – im Krieg unter­ge­gangene – Pfarr­bi­bliothek einge­richtet worden. Wenn das nächste Stockwerk erklommen ist, befindet man sich auf einer Höhe von 21 m und sollte nicht versäumen, einen Blick durch das Fenster der Tür zu werfen, die zum Dachboden des Haupt­kir­chen­schiffs führt.

Von hier aus gelangt man noch über gemauerte Stufen bis zum dritten Oberge­schoss (32,6 m), danach folgen Wendel­treppen aus Stahl. Beim weiteren Aufstieg passieren die Besucher das Stockwerk, das den Glocken­stuhl beher­bergt und auf dem auch die massiven Ständer des 53 m hohen und 40 t schweren Turmge­rüsts aufruhen. Die vierte Etappe ist in einer Höhe von 47 m erreicht. Hier befanden sich bis zum Kriegsende das Uhrwerk und auf den vier Seiten jeweils eins der mächtigen Zifferblätter.

Zugleich ist dies die letzte Zwischen­station vor der unteren Galerie des Turmhelms, die nach weiteren 20 m erklettert ist. Hier betreten nun dieje­nigen, die die Heraus­for­derung angenommen und bestanden haben, endlich die Aussichts­plattform und werden für ihre Mühe, über 366 Stufen eine Höhe von gut 67 m erstiegen zu haben, reichlich belohnt: Von dieser hohen Warte aus lässt sich die gesamte Stadt überschauen, der Blick reicht bis zum Frischen Haff, zur Weichsel-Niederung und bei gutem Wetter sogar bis zur Marienburg. Dass die obere Galerie, in einer Höhe von 78 m, für Touristen nicht zugänglich ist, dürfte nach diesen erhebenden Eindrücken zu verschmerzen sein.