Das erste Jahr der Regierung Tusk – ein Neustart für die deutsch-polnischen Beziehungen?
Seit dem 13. Dezember 2023 ist Donald Tusk – wieder – Ministerpräsident der Republik Polen. Seine Amtsübernahme beendete die fast ein Jahrzehnt währende Regentschaft der nationalistischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) und war mit allseitigen Hoffnungen auf einen politischen Neustart in Polen verbunden – nicht zuletzt mit Blick auf die Innen- und Europapolitik. In besonderer Weise gilt dies für die deutsch-polnischen Beziehungen. Nach dem ersten Jahr der neuen Regierung ist zu fragen: Haben sich die entsprechenden Erwartungen erfüllt?
In einem Beitrag für die Polen-Analysen beschreibt der Politologe und Historiker Stefan Garsztecki das erste Jahr der Tusk-Regierung als »mühsame[n] Wiedereinzug der Demokratie«. Der Lehrstuhlinhaber für Kultur- und Länderstudien an der Technischen Universität Chemnitz verweist dabei auf die Einschränkung des Handlungsspielraums von Tusk aufgrund der Blockade unterschiedlicher Vorhaben durch den von der PiS gestellten Staatspräsidenten Andrzej Duda. So seien die »Veränderungen im Bereich der Innenpolitik […] noch nicht sehr weit gediehen« – und eine Verbesserung der Rahmenbedingungen durch die Präsidentschaftswahl 2025 sei nicht gesichert, da ein »Wahlsieg der Opposition […] nicht ausgeschlossen« sei. Dabei liege es »zweifellos im Interesse der aktuellen Regierung von Donald Tusk […], im kommenden Jahr den Präsidenten zu stellen und damit die anhaltende Kohabitation zu beenden«. Dies sei notwendig, »um die Wahlversprechen, insbesondere die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, und auch den Koalitionsvertrag zu erfüllen«, wie Garsztecki erläutert: »Präsident Duda steht einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts und einem Zurückdrehen der PiS-Reformen insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und bei den Medien mit einem potentiellen Veto entgegen. Über die notwendige 3/5‑Mehrheit, um ein Präsidentenveto zurückzuweisen, verfügt die Regierungskoalition im Sejm nicht.« Folglich müssten »alle Gesetze, die die PiS-Politik aufheben wollen, […] mit einem Veto des Präsidenten rechnen und ein gutes halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen sieht es nicht danach aus, dass die Regierung sich mit dem aktuellen Amtsinhaber noch verständigen wird.«
Vor dem Hintergrund des Reformdrucks wie ‑staus ist es umso bemerkenswerter, dass die neue Regierung bereits innerhalb der ersten 100 Tage eine zwei Jahre zuvor von der PiS getroffene Entscheidung rückgängig machte, die Teil der antideutschen Agitation der Nationalisten gewesen war: Die »Rückkehr zu drei Stunden Deutschunterricht für die deutsche Minderheit, welche die Vorgängerregierung 2022 auf eine Stunde reduziert hatte«, werteten dann auch Dr. Markus Ehm und Martin Wycisk in einer Analyse für die Hanns-Seidel-Stiftung als ein »wichtiges Signal für die Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen«. Dabei muss freilich berücksichtigt werden, dass der Zustand des Deutschunterrichts für die deutsche Volksgruppe in Polen bereits in den Jahrzehnten vor den krassen Einschnitten durch die PiS-Regierung – und zwar unabhängig davon, welche Parteien an der Warschauer Regierung beteiligt waren – weder den in europäischen noch den in polnischen Gesetzen verankerten minderheitenrechtlichen Standards entsprach. Insofern ist an der Nachjustierung der Tusk-Regierung zugunsten der deutschen Volksgruppe die Frühzeitigkeit bzw. die daraus sprechende Prioritätensetzung beachtlich; einen wirklichen Fortschritt stellt die Rückkehr zu einem bereits zuvor defizitären Zustand jedoch nicht dar.
Was noch nicht ist, kann jedoch noch werden. Leise Hoffnungen hierauf stiftet der im Rahmen der 16. Deutsch-Polnischen Regierungskonstellationen am 2. Juli in Warschau präsentierte »Deutsch-Polnische Aktionsplan«. Es ist, wie Garsztecki feststellt, durchaus »bemerkenswert«, dass der Aktionsplan – bzw. das erste Hauptkapitel »Zusammenarbeit in bilateralen Angelegenheiten« – »mit der Geschichte beginnt«; auf den entsprechenden Abschnitt wird unten noch eigens einzugehen sein. Nicht minder bedeutsam ist jedoch, dass nach der Geschichtspolitik der zweite Unterabschnitt unmittelbar der »Deutsche[n] Minderheit in Polen und [der] polnische[n] Gemeinschaft in Deutschland« gewidmet ist – noch vor weiteren Handlungsfeldern wie »Grenzüberschreitende[r] Zusammenarbeit«, »Bildung und Jugend« oder »Polizei- und Grenzzusammenarbeit«. Neben der allgemeinen Absichtserklärung, »die Gespräche zur Unterstützung von deutschen Staatsangehörigen mit polnischen Wurzeln und Polinnen und Polen in Deutschland sowie der deutschen Minderheit in Polen im Rahmen eines erneuerten Deutsch-Polnischen Runden Tisches wieder auf[…]nehmen« zu wollen, fokussiert der Aktionsplan konkret die Frage des muttersprachlichen Unterrichts: Für die Sicherstellung einer Umsetzung der diesbezüglichen »Bestimmungen des Artikels 21 des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991« würden »beide Regierungen […] Anstrengungen unternehmen«.
Der Abschnitt präludiert zudem dem Unterabschnitt »Zwischenmenschliche Kontakte«. In diesem bekennen sich die beiden Regierungen zur Arbeit der »Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit«. Betonung findet zudem »die Tatsache, dass der angemessene Status eines Beauftragten des Ministers für auswärtige Angelegenheiten für die polnisch-deutsche zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit wiederhergestellt wurde« – eine symbolträchtige Entscheidung, insofern damit die Tradition des von der PiS ausgesetzten Amtes wiederbelebt wurde, das von niemandem anderen so geprägt wurde wie von dem Historiker und Politiker Władysław Bartoszewski. In seine Fußstapfen tritt mit dem in Breslau lehrenden Krzysztof Ruchniewicz ein Historiker, der sich zwar in der Debatte um die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung durch Kritik an der Mitwirkung der organisierten deutschen Heimatvertriebenen profiliert hat, insgesamt jedoch als um Differenzierung und Verständigung bemühter Kenner der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt.
Diese Personalentscheidung fügt sich in die geschichtspolitische Agenda der neuen Regierung ein. Wie Garsztecki hervorhebt, sind »insbesondere Institute, die im Rahmen der PiS-Geschichtspolitik gegründet wurden, […] von Schließung bedroht.« Bereits Mitte Juni sei »das Institut De Republica, das 2021 von Ministerpräsident Morawiecki gegründet wurde, um polnische wissenschaftliche Publikationen im Ausland und in Polen zu fördern«, geschlossen worden. Dasselbe gelte für das 2020 eröffnete »Roman Dmowski und Ignacy Jan Paderewski Institut des Erbes des Nationalgedankens«. »Beim 2021 gegründeten Jan-Karski-Institut für Kriegsverluste […] wurde«, so Garsztecki, »ebenso wie beim West-Institut […] der wissenschaftliche Beirat abberufen, beim Karski-Institut zusätzlich noch der Direktor und sein Stellvertreter. Das weitere Schicksal beider Institute ist gegenwärtig unklar«.
Von besonderem Interesse dürfte dabei die Zukunft des Jan-Karski-Instituts sein, dessen Zielsetzung mit den von der PiS gegenüber Deutschland propagierten Reparationsforderungen korrelierte. Von diesen hat sich – ein weiterer Bruch mit der nationalistischen Regierungspolitik der Vorjahre – Tusk verabschiedet, ohne jedoch das Grundanliegen einer Entschädigung aufzugeben. Hierzu sagte er nach den Regierungskonsultationen:
Was das Thema Reparationen anbelangt, so gab es den Verzicht in kommunistischer Zeit. Das Zweite ist, was wir als Polen von Deutschland gebührend bekommen sollten. Das sagt auch Herr Bundeskanzler […]. Aus formeller, aus rechtlicher Sicht sind die Reparationen ein abgeschlossenes Kapitel, und es gibt keinerlei Argumente dagegen. […] Das Wichtigste ist aber, dass gewisse Fenster und Türen geöffnet werden, wo es möglich ist, und man miteinander auf aufrichtige, ehrliche Art und Weise darüber spricht, wer welche Limits, welche Einschränkungen, welche Prioritäten, welche Schwerpunkte hat und was die Situation in dem einen oder anderen Staat ist. Darüber können wir offen sprechen. Wir verstehen uns gegenseitig. Ich bemühe mich zu verstehen, welche Beschränkungen Sie haben, Herr Bundeskanzler, und der Herr Bundeskanzler versteht auch meine Einschränkungen, meine Limits.
Was Tusk vollzieht, ist also die Verschiebung der Position von einer rechtlichen hin zu einer moralischen Forderung dessen, »was wir als Polen von Deutschland gebührend bekommen sollten«. In diese Richtung weist auch Garszteckis Deutung der Äußerungen der beiden Regierungschefs auf der Pressekonferenz zu den Regierungskonsultationen:
Hinsichtlich der Reparationsforderungen betont Bundeskanzler Olaf Scholz die deutsche Rechtsposition, und auch Ministerpräsident Donald Tusk lässt erkennen, dass diese Frage bereits (negativ) entschieden worden sei. Wichtig ist für Tusk allerdings, dass Deutschland Verantwortung übernimmt, einerseits für die Vergangenheit beispielsweise bezüglich von Entschädigungsleistungen für noch lebende NS-Opfer, anderseits für die gemeinsame Sicherheit Europas.
Als drittes Element der Entschädigung sind ferner die im ersten Kapitel des Aktionsplans genannten erinnerungspolitischen Vorhaben zu sehen. Deren zentraler Punkt ist die »Gründung eines Deutsch-Polnischen Hauses im Zentrum Berlins zur Erinnerung an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs«; interessanterweise sprach Bundeskanzler Scholz während der Pressekonferenz von diesem als einem »sichtbare[n] Zeichen gegen das Vergessen und eine[r] Mahnung für die Zukunft« und verwendete mit dem Begriff des »sichtbaren Zeichens« diejenige Formulierung, unter der seinerzeit die Initiative des Bundes der Vertriebenen für ein »Zentrum gegen Vertreibungen« von der Bundesregierung aufgegriffen und letztlich zur Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung weiterentwickelt wurde. Flankiert wird das Projekt des Deutsch-Polnischen Hauses in dem Aktionsplan durch die bilateralen Zusagen, die Verbreitung des deutsch-polnischen Geschichtsschulbuches Europa – Unsere Geschichte zu fördern, die »Zusammenarbeit in der Erinnerungspolitik zu stärken« sowie die »Zusammenarbeit der Staats- und Bundesarchive beider Länder« zu unterstützen. Zuletzt sagt die polnische Seite zu, »zu einer Konferenz der aktuell in Polen und Deutschland existierenden Museen und Gedenkstätten ein[zu]laden, die an im Zweiten Weltkrieg verübte Verbrechen erinnern«.
Ob zu diesen auch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sowie die ostdeutschen Landesmuseen eingeladen werden? Auszuschließen ist dies der Formulierung nach nicht. Doch besteht Zweifel hieran, geht man von der Eröffnung des Unterabschnitts »Die Rolle der Geschichte« aus, die ihn inhaltlich grundiert:
Die Vergangenheit spielt für die deutsch-polnischen Beziehungen eine besondere Rolle. Der Zweite Weltkrieg und die Untaten und Verbrechen, die die deutschen Aggressoren in der NS-Zeit an Polinnen und Polen begangen haben, sind im historischen Gedächtnis noch ausgesprochen präsent. Für viele Polinnen und Polen zählen diese Erinnerungen zur kollektiven Identität. Die beiden Regierungen führen einen intensiven Dialog über Maßnahmen zur Unterstützung für die noch lebenden Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung in den Jahren 1939 bis 1945, des Gedenkens sowie der Sicherheit. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess wird die Stiftung Deutsch-Polnische Aussöhnung spielen.
Dieses Narrativ wurde im Rahmen der Pressekonferenz weder ausdifferenziert noch um weitere Aspekte ergänzt. In markanter Weise wird die für die deutsch-polnischen Beziehungen relevante Geschichte hier ausschließlich von den – unbestreitbar einen Zivilisationsbruch darstellenden – deutschen Kriegsverbrechen her verstanden. Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung, Flucht und Vertreibung kommen hingegen nicht einmal peripher vor. Ob ein solches Geschichtsbewusstsein für die Zukunft tragfähig ist, bleibt abzuwarten. Wohlgemerkt ist das hier markierte Defizit nicht Ministerpräsident Tusk anzulasten; vielmehr wirft es die Frage auf, welche Akzente die deutschen Regierungsvertreter in den Konsultationen gesetzt – oder eben nicht gesetzt haben.
Im Rückblick auf die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen im ersten Jahr der neuen Tusk-Regierung ist dieser Befund so zu lesen, dass es künftig nicht zuletzt darauf ankommen wird, was die deutsche Seite bereit ist, ihrem polnischen Gegenüber im Dialog »zuzumuten«. Dazu ermutigt sehen könnte sie sich von Tusks Selbstbeschreibung am Ende der Konsultationen: Er sei »ein polnischer Politiker, der in Danzig geboren wurde und alle komplizierten Verflechtungen unserer gemeinsamen Geschichte gut versteht«.
Tilman Asmus Fischer