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Das Hafenstädtchen Tolkemit

Nachrichten aus Vergangenheit und Gegenwart

Von Hans-Jürgen Schuch

Der Deutsche Orden hat – mit hoher Wahrscheinlichkeit im Jahre 1296 – die Stadt Tolkemit an der Stelle einer alten Prußenburg gegründet. Das Hafenstädtchen blickt also auf eine bereits vielhundertjährige Geschichte zurück. Seit der Gründung des Landkreises Elbing 1818 gehörte die Stadt zu ihm. Ab 1874 bildete die Stadtgemeinde Elbing einen eigenen Stadtkreis, und Tolkemit war damit (bis 1945) die einzige Stadt im Landkreis, dessen Landrat seinen Sitz in der nun kreisfreien Stadt Elbing hatte.

Der Untergang der deutschen Stadt

Am 26. Januar 1945 erreichte die Rote Armee mit ihrem großen Vorstoß von Süden her in der Nähe von Tolkemit das Frische Haff. Damit waren die deutschen Truppen in Ostpreußen weitgehend vom Nachschub abgeschnitten. Auch der dortigen Bevöl­kerung war der Fluchtweg nach Westen versperrt. Es blieb nur noch der Weg über das zugefrorene Frische Haff und die Frische Nehrung. Da von El­bing nach Pillau eine Fahrrinne durch das Eis des Frischen Haffs aufge­brochen war, musste diese mit Hilfe von Brettern, Leitern, Stangen und anderen Gerät­schaften überbrückt werden. Diesen gefähr­lichen Weg wählte auch ein großer Teil der Tolkemiter Bevöl­kerung. In Tolkemit selbst waren die ersten Soldaten der Roten Armee bereits am 24. Januar 1945 gegen 22 Uhr einge­drungen. In der Stadt lag kein deutsches Militär, und der Volks­sturm befand sich in Auflösung. Von Frauenburg herbei­ei­lende deutsche Truppen konnten wenig später die sowje­tische Vorhut aus der Stadt drängen, doch am 26. Januar kehrte der Feind zurück. Die auf einer Anhöhe stehende schöne Jugend­her­berge, ein Fachwerk­ge­bäude im Vorlau­ben­hausstil, brannte sofort lichterloh, am Hafen gingen die Holzboote in Flammen auf, und am Markt vernichtete das Feuer das Rathaus, die Wohn- und Geschäfts­häuser und das katho­lische Pfarramt.

Anfang 1945 hatte das Einwoh­ner­mel­deamt rd. 4.000 Personen als ständige Einwohner regis­triert. In dieser Zahl sind weder Evaku­ierte aus dem Westen und Flücht­linge aus Ostpreußen noch »Ostar­beiter« und Kriegs­ge­fangene enthalten. Von den etwa 4.000 Personen waren im Januar 1945 rd. 1.000 nicht am Ort, weil sie anderswo als Soldaten oder in anderer Eigen­schaft Kriegs­dienst leisteten. Ebenfalls rd. 1.000 Tolkemiter waren bis zum 24. Januar 1945 geflüchtet, und rd. 500 folgten ihnen am 4. Februar. Im November 1945 wurden rd. 100, im Juli 1946 rd. 600 und im Oktober 1947 noch einmal 100 Tolkemiter vertrieben. Von den restlichen 700 Einwohnern wurden, nach der Statistik der Stadt­ge­mein­schaft, rd. 200 von den Sowjets umgebracht und rd. 300 verschleppt. Rund 200 Stadt­ein­wohner starben in ihrer Heimat­stadt durch Krankheit, oder sie sind verhungert. Ende 1947 lebte kein Deutscher in Tolkemit mehr, und 1958 war es ein Deutscher, der aus Braunsberg stammte.

Die Stadt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges

Tolkemit ist eine Hafen­stadt. Das war nicht von Anfang an der Fall. Bei der Gründung hatte der Deutsche Orden festgelegt, dass die Stadt nicht näher als 40 Meter an das Haff gebaut werden darf. Später gab es einen Flach­was­ser­hafen. Erst seit 1773 wird von einer Lastschiff­fahrt berichtet. Schließlich wurde 1864 mit der Anlage eines künst­lichen Hafens begonnen. Aber erst 1883 wurden die Arbeiten abgeschlossen. Seitdem entwi­ckelte sich mit Segel­schiffen ein umfang­reicher Fracht­verkehr. Es entstand ein nach der Stadt benannter Schiffstyp :  die »Tolkemiter Lomme«. Mit ihr fuhren die Tolkemiter nicht nur auf dem Frischen Haff, sondern auch auf der Ostsee. Ein besonders wichtiger Trans­port­ar­tikel waren die Produkte der zwischen Elbing und Tolkemit gelegenen Ziege­leien, die alle über einen Hafen am Haff verfügten. Die kriegs­be­dingt 1940 geschlossene Tolkemiter Ziegelei besaß sogar einen eigenen Fracht­segler. In größerem Umfang wurde die Fischerei betrieben und später das Fischen – oder besser gesagt das Bergen – großer Steine (Findlinge) vom Grund der Ostsee. »Stein­zangen« wurde dieser Broterwerb genannt.

An das Straßennetz im Landkreis Elbing war Tolkemit gut angebunden. Über die Tolkemi­ter Chaussee, die Haffchaussee und auch über die Reichs­straße 1 konnten von Elbing aus die Stadt und der Hafen erreicht werden. Tolkemit hatte Eisen­bahn­an­schluss und einen Bahnhof für Personen- und Güter­verkehr. Es war die private normal­spurige Haff­uferbahn (HUB), die von Elbing über Tolkemit nach Frauenburg und Braunsberg fuhr und dort Anschluss an die Reichsbahn hatte. In den Sommer­mo­naten verkehrte der Dampfer »Tolkemit« mehrmals am Tag nach dem acht Kilometer entfernten, auf der Frischen Nehrung liegenden Seebad Kahlberg. Viele Kahlberg­be­sucher aus Elbing und Frauenburg nutzten diese schnelle, nur 30 Minuten dauernde Verbindung.

Die kreis­an­ge­hörige Klein­stadt Tolkemit, deren Stadt­gebiet sich auf 1.494,35 ha erstreckte, hatte sich in den zehn Jahren vor Kriegsende zu einem leben­digen und aufwärts­stre­benden Gemein­wesen entwi­ckelt. Im Zentrum stand am Markt­platz das Rathaus und wenige Meter entfernt die große, 1376 aus Stein erbaute katho­lische Pfarr­kirche. Ein kleines evange­li­sches Kirchlein mit dem Namen Kripplein Christi wurde 1887 in der Fischer­straße errichtet. Die beiden konfes­sio­nellen Volks­schulen waren zu einer Simul­tan­schule (Volks­schule) vereinigt worden, der 1941 eine Haupt­schule angegliedert wurde. Dieser Schultyp war in etwa vergleichbar mit einer Mittel­schule, die damals im Reichsgau Danzig-­Westpreußen abgeschafft worden ist. Die Schüler und Schüle­rinnen, die eine höhere Schule besuchten, mussten mit der HUB nach Elbing oder Braunsberg fahren. Es gab einen Sport­platz, ein Krankenhaus, zwei kleine Schiffs­werften, die 60 Personen beschäf­ti­gende Keramik­werk­statt Tolkemiter Erde und seit 1939 die Marmeladen- und Konser­ven­fabrik, die mit 100 Beschäf­tigten täglich bis zu 50 t Marmelade herstellte und zur Obstzeit im Herbst sogar bis zu 200 Personen beschäf­tigte. Geplant waren 800 Arbeits­plätze. Außerdem gab es eine Wachs­wa­ren­fabrik und viele selbständige Hand­werks­meisterbetriebe. Vor 1914 lagen im Tolkemiter Hafen zeitweise mehr als 120 Lommen. Von den 1945 vorhan­denen ca. 50 Lommen wurden 26 zweimastige Schoner­lommen und acht einmastige Lommen zerstört, acht gelangten nach Schleswig-Holstein. Heute gibt es selbst in Schiff­fahrts­museen keine Lommen mehr – weder in Deutschland noch in Polen.

Neue Perspektiven

Nach dem Ende der deutschen Stadt folgten schwere, vom Niedergang gezeichnete Jahrzehnte. Als Haupt­er­werbs­quelle der neuen Bevöl­kerung wurde eine Fische­rei­ge­nos­sen­schaft gegründet, die allein die Einwohner der Stadt aber nicht zufrie­den­stellend ernährte. Ein sehr schlichtes Kino wurde an der Straße nach Neukirchhöhe gebaut und später zum Kulturhaus erweitert. Auch die Zeit nach der politi­schen Wende ab 1989 änderte an der Gesamt­si­tuation wenig. Die Bürger­meister wurden nun nicht mehr von einer Partei einge­setzt, sondern gewählt – und wechselten oft. Lediglich außerhalb der Stadt wurde Anfang der 90er Jahre mit starker Förderung der Deutsch-Polnischen-Stiftung ein neues Klärwerk gebaut, das inzwi­schen wie vieles andere auch überho­lungs­be­dürftig ist. In einem Reise­be­richt aus dem Jahre 1996 heißt es :  »Mit Wehmut mußten die Tolkemiter jedoch feststellen, daß in ihrem Heimatort, im Vergleich zu vielen anderen Orten in Polen, die Uhren stehen geblieben sind. So bescheiden wie die Feier zu 700 Jahre Tolkemit ausfiel, so bescheiden muß es wohl auch in der Gemein­de­kasse aussehen. So lange die Fabriken dort still­stehen, bleibt Tolkemit ohne Perspek­tiven.« Erst mit dem Amtsan­tritt des neuen Bürger­meisters, mgr. Inz. Andrzej Lemanowicz, wurde vieles besser. Das Stadtbild wurde sauberer, freund­licher, und inzwi­schen ist eine Zukunfts­per­spektive erkennbar. – Der Bürger­meister ist, unter­stützt vom Vizebür­ger­meister Jozef Zamojcin, für die aus der Stadt und den benach­barten Dörfern im Norden, Osten und Süden gebildete kommu­nal­po­li­tische Einheit »Stadt und Gemeinde Tolkemit« zuständig. Der Rat besteht aus 15 Abgeord­neten, die mehreren Parteien angehören. Wenn es um Tolkemit geht, ziehen alle an einem Strang, und das Mitein­ander mit dem Bürger­meister ist gut.

Seit vier Jahren hat die Stadt wieder ein Rathaus. Es wurde auf der Südseite des ehema­ligen Markt­platzes erbaut und u. a. mit staat­lichen Zuschüssen finan­ziert. Zuvor musste an dieser Stelle ein Nachkriegs­ge­bäude abgebrochen werden. Darin hatte sich die Gaststätte Fregatte befunden, eine unschöne Bierkneipe mit Separees. Der Rathaus­neubau ist jetzt eine Zierde des Platzes, der gut gestaltet und mit Ruhebänken versehen wurde. Da 1945 die Nordbe­bauung mit dem Hotel Deutsches Haus von Albertine Pillukat ebenfalls zerstört worden war, reicht der dadurch vergrö­ßerte – und als Markt nicht mehr benötigte – Platz bis zur katho­li­schen Pfarr­kirche St. Jakobus.

Im Erdge­schoß des Rathauses befindet sich neben der größeren Eingangs­halle ein anspre­chend gestal­teter Saal für Trauungen. Im Oberge­schoß liegen die Büroräume für den Bürger­meister, seinen Stell­ver­treter und für die anderen 20 Angestellten sowie der Sitzungssaal des Stadt- und Gemein­de­rates. Der Bürger­meister ist mit der Stadt­ge­schichte sehr vertraut. Das zeigt auch der Wandschmuck im Sitzungssaal, in seinem Büro und in anderen Räumen. Tolkemiter Stadt­motive sind zu sehen, Landschaften und Ansichten der zur heutigen Gemeinde gehörenden Dörfer aus der Zeit vor 1945 :  aus der kaiser­lichen Herrschaft Cadinen, von Succase mit dem Haffschlösschen, von Neukirchhöhe, von Lenzen und z. B. aus Konradswalde.

Die Schaffung eines Regional-Museums war die Voraus­setzung für die Gewährung der staat­lichen Förderung. Es wurde im Dachge­schoß einge­richtet. Dort werden in Wechsel­aus­stel­lungen Künst­ler­ar­beiten gezeigt und aus den noch als bescheiden charak­te­ri­sierten Beständen vor allem Handwerks­geräte. Von beson­derer Bedeutung ist die alte Feuer­glocke, die im Ostgiebel des 1945 zerstörten Rathauses hing. Sie sollte im Zweiten Weltkrieg einge­schmolzen werden, wurde 1943 »abgeliefert«, nach Kriegsende auf dem Glocken­friedhof in Hamburg gefunden und nach Hann. Münden ausge­liehen. Dort diente sie am Rathaus bis zum Herbst 1992 als Uhren­schlag­glocke. Als sie nicht mehr benötigt wurde, brachte sie der aus der Gegend bei Kulm/Weichsel stammende Bürger­meister anlässlich einer Busreise in die Heimat nach Tolkemit zurück. Dort wurde sie, von außen sichtbar, in den Kirchturm der Jakobus­kirche gehängt und am 5. Juni 1993 einge­weiht. Nun steht sie auf dem Fußboden des Museums, sollte aber doch attrak­tiver präsen­tiert werden. Im Museum kann der Besucher einen gut gemachten Kurzfilm über Tolkemit und die Umgebung sehen. Der Begleittext ist wahlweise in polni­scher, engli­scher und deutscher Sprache zu hören. Das Museum zeigte Anfang 2017 Ansichten und Dokumente vom deutschen Tolkemit, die der Vorsit­zende der Stadt­ge­mein­schaft, Leo Lindner aus Hamburg, zur Verfügung gestellt hatte.

Das neue Rathaus verfügt über einen Turm, dessen Aussichts­ga­lerie auch mit einem Fahrstuhl erreichbar ist. Von der Aussichts­ga­lerie des Rathaus­turms reicht der Blick über die Stadt und das Haff bis zur Frischen Nehrung.

Die Stadt Tolkemit hatte zum Jahres­wechsel 2016/17 rd. 2.700 Einwohner – also 1.300 Einwohner weniger als 1944/45. In den zur Gemeinde Tolkemit gehörenden Dörfern in der Nachbar­schaft leben 4.000 Personen. Die Gesamt­einwohnerzahl von Stadt und Gemeinde Tolkemit zählt damit 6.700 Personen. Sie ist leicht zunehmend. Wie viele Menschen wirklich anwesend sind, weiß niemand. Eine nicht unbedeu­tende Zahl der regis­trierten Einwohner arbeitet z. B. in England. – Die Arbeits­lo­sigkeit soll 18 % betragen. Aller­dings dürften von den Betrof­fenen nicht wenige im Ausland leben und arbeiten. Diese Prozentzahl entspricht auch der festge­stellten Arbeits­lo­sigkeit im gesamten Landkreis Elbing, während sie in der kreis­freien Stadt Elbing bei 20 % liegen soll.

Für den Bürger­meister ist der hohe Anteil an Arbeits­losen ein kaum lösbares Problem. Da die staat­lichen Sozial­leis­tungen in den letzten Jahren stark angehoben wurden, geben sich viele Arbeitslose damit zufrieden. Die Konser­ven­fabrik aus deutscher Zeit produ­ziert mit 150 Beschäf­tigten gefros­tetes Gemüse. Sie sucht dringend Arbeits­kräfte, aber kann sie nicht finden. Das leicht anstei­gende Steuer­auf­kommen von Stadt und Gemeinde beträgt etwa 20 Mio. Złoty. Die Verschuldung liegt bei 40%, was, gemessen an den Inves­ti­tionen, nicht besonders hoch sein soll. Der Haushalt ist derzeit wieder ausge­glichen. In den Jahren 2017 und 2018 sollen diverse Straßen erneuert werden, und das Klärwerk steht ebenfalls zur Moder­ni­sierung an.

Unerfreulich ist bislang, dass der Hafen zwar gut ausgebaut ist, aber nur wenig genutzt wird, und dass der Fischfang noch kaum entwi­ckelt ist. Die Fische­rei­ge­nos­sen­schaft besteht nicht mehr. Es gibt nur noch sechs Fangge­mein­schaften mit insgesamt neun bis zehn Fischern. Sie fangen Hering, Zander und inzwi­schen auch wieder mehr Aal. Nur kleine Boote, vor allem Sport­segler, laufen den Hafen in geringer Zahl an, und nur selten fährt ein Motor­schiff nach Kahlberg.

Nach Frauenburg und nach Elbing besteht jeweils eine Buslinie. Die nach 1945 von der polni­schen Staatsbahn übernommene HUB-Linie wurde vor Jahren still­gelegt. Nur sehr selten fährt über die HUB-­Gleise noch ein Güterzug oder ein Ausflugs­son­derzug. Der einst besonders schmucke Bahnhof Tolkemit sieht trostlos aus.

In Tolkemit, Neukirchhöhe und Lenzen gibt es jeweils eine Volks­schule (Grund­schule), in der Stadt zudem ein Gymnasium (vergleichbar mit einer Realschule in Deutschland). In Succase wird im Haffschlösschen ein Privat­gym­nasium betrieben. Wer das Abitur ablegen will, fährt nach Elbing, um dort ein Lyzeum zu besuchen. In Warschau wird aller­dings wieder einmal eine Schul­reform disku­tiert oder bereits vorbe­reitet. Sie könnte auch die Schul­land­schaft in Tolkemit neuerlich verändern.