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Das Gold der Ostsee

Ein Besuch im Danziger Bernstein-Museum

Danzig ist heute unbestritten das Zentrum der künstlerischen Bernstein-Verarbeitung in Europa. Dieser Rang beruht auf jahrhundertelangen handwerklichen wie merkantilen Erfahrungen der Stadt im Umgang mit dem fossilen Harz, und diese Tradition schloss seit dem frühen 18. Jahrhundert auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ein: Vor dem Zweiten Weltkrieg verfügte das Westpreußische Provinzial-Museum über die nach Königsberg zweitgrößte Sammlung der Welt. Vor diesem Hintergrund ist es hoch erfreulich, dass Danzig seit einigen Jahren wieder über ein eigenständiges – und äußerst attraktives – Bernstein-Museum verfügt.

Bern­stein hat Men­schen seit jeher fas­zi­niert – die ers­ten Bewei­se für die­ses Inter­es­se stam­men bereits aus der Mit­tel­stein­zeit (8300–4500 v. Chr.); und in Nord­po­len sind klei­ne Figu­ren von Vögeln und ande­ren Tie­ren sowie Per­len und Ket­ten­an­hän­ger ent­deckt wor­den, die aus vor­his­to­ri­scher Zeit stam­men. Spä­ter­hin wur­de die­ses eigen­tüm­li­che Mate­ri­al hand­werk­lich bear­bei­tet und nicht nur als Schmuck, son­dern auch in der Volks­kunst, der Medi­zin und – z. B. als Amu­let­te, Räu­cher­werk oder Rosen­krän­ze – für reli­giö­se bezie­hungs­wei­se magi­sche Zwe­cke genutzt. Bald begehr­ten auch die Ein­woh­ner der von der Ost­see weit ent­fern­ten Gebie­te die­ses beson­de­re „Gold“, so dass sich früh ein schwung­haf­ter Han­del ent­wi­ckel­te: Nicht ohne Grund wur­de einer der wich­tigs­ten Han­dels­we­ge der anti­ken Welt, der zugleich als die ältes­te Bin­nen­stra­ße Zen­tral­eu­ro­pas gilt, „Bern­stein­stra­ße“ genannt.

Die Attrak­ti­vi­tät des Bern­steins, des­sen zu allen Zei­ten her­aus­ge­ho­be­ne Rol­le, die er inner­halb der ver­schie­de­nen Kul­tu­ren ein­nimmt, sowie die atem­be­rau­ben­de Viel­falt und Schön­heit sei­ner Roh­for­men und der künst­le­risch gestal­te­ten Pro­duk­te sucht das Dan­zi­ger Bernstein-Museum zu erfas­sen und sei­nen Besu­chern zu ver­mit­teln. Dabei ist es – wie ein­gangs bereits erläu­tert – gera­de­zu selbst­ver­ständ­lich, dass es – wenn­gleich erst seit 2006 – auch in Dan­zig wie­der solch ein Haus gibt. Die Bern­stein­zunft wur­de hier bereits 1477 gegrün­det, und es wird geschätzt, dass sich Mit­te des 17. Jahr­hun­derts jeder zwölf­te erwerbs­tä­ti­ge Dan­zi­ger mit Bern­stein­ver­ar­bei­tung befass­te. Nicht zuletzt hat Fried­rich I. gera­de die Meis­ter aus die­ser Stadt beauf­tragt, sei­ne Capri­ce eines gan­zen „Bern­stein­zim­mers“ Wirk­lich­keit wer­den zu lassen.

Gera­de die­se Tra­di­ti­on sucht Dan­zig schon seit län­ge­rem wie­der­zu­be­le­ben: Seit 1994 fin­det hier all­jähr­lich die Ambe­rif, die welt­weit größ­te Mes­se für Bern­stein, Schmuck und Schmuck­stei­ne, statt, und 1996 wur­de hier der Inter­na­tio­na­le Ver­ein der Bern­stein­hand­wer­ker ins Leben geru­fen. Im nächs­ten Schritt wur­de im Muse­um von Dan­zig eine eige­ne Abtei­lung ein­ge­rich­tet, bis dann das eigen­stän­di­ge Muse­um in einem für sol­che Zwe­cke unge­wöhn­li­chen Gebäu­de, in einem eins­ti­gen Vor­tor­kom­plex am Koh­len­markt, der „Dan­zi­ger Bar­bak­a­ne“, eröff­net wer­den konn­te. – Auch wenn die archi­tek­to­ni­schen Merk­ma­le des Gebäu­des – wie bei­spiels­wei­se die Wen­del­trep­pen – für eini­ge Besu­cher nur schwer über­wind­ba­re Bar­rie­ren errich­ten, bil­den sie doch zugleich ein höchst reiz­vol­les Ambi­en­te, in dem die aus­ge­stell­ten Juwe­len der Natur und der Kunst beson­ders pracht­voll zur Gel­tung kommen.

Die Geschich­te des Bern­steins und der Bern­stein­ver­ar­bei­tung wird den Besu­chern auf meh­re­ren Eta­gen des Stock­turms ver­mit­telt – eines Wehr­tur­mes, des­sen Bau 1346 begann und der das im ers­ten Befes­ti­gungs­ring der Stadt­mau­ern gele­ge­ne Lang­gas­ser­tor schüt­zen soll­te. Anfang des 17. Jahr­hun­derts ver­lor er aller­dings die­se Funk­ti­on und wur­de bis zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts Teil eines im gesam­ten Kom­plex ein­ge­rich­te­ten Gefängnisses.

Bernsteinwald und Inklusen

Im ers­ten Stock taucht man ein in die Atmo­sphä­re des eozä­nen Bern­stein­wal­des, indem man bezau­bert die in den Vitri­nen prä­sen­tier­ten ver­schie­den­ar­ti­gen – glat­ten, ris­si­gen oder porös wir­ken­den – Klum­pen und Trop­fen von Bern­stein und ande­ren fos­si­len Har­zen aus aller Welt betrach­tet und bestaunt (denn außer dem meist­be­kann­ten Ostsee-Bernstein gibt es dort auch Kolo­pho­ni­um, Bit­ter­fel­der Bern­stein, sizi­lia­ni­schen Sime­tit und vie­le ande­re). Die Aus­ma­ße eini­ger Klum­pen kön­nen einen in Ver­wun­de­rung ver­set­zen, so der „Rekord­hal­ter“, der von einem Kut­ter aus der Ost­see her­aus­ge­fischt wur­de und des­sen Gewicht 2.788 g beträgt. Fas­zi­nie­rend ist die Man­nig­fal­tig­keit der im sel­ben Raum gezeig­ten Bern­stein­ein­schlüs­se – neben pflanz­li­chen Inklu­sen, die rela­tiv sel­ten vor­kom­men, gibt es auch vie­ler­lei Res­te von Klein­le­be­we­sen (z. B. von einem Weber­knecht oder einem Ohr­wurm), die wie in einem glä­ser­nen Sarg Jahr­mil­lio­nen über­dau­ert haben und jetzt drei­di­men­sio­nal in allen Fein­hei­ten betrach­tet wer­den kön­nen. Beson­ders ver­blüfft dabei die „Gierłowska-Echse“ – eine wegen ihrer unge­wöhn­li­chen Grö­ße in ganz Polen ein­zig­ar­ti­ge Inklu­se, die nun ihrer­seits den Namen ihrer Fin­de­rin, der Bernstein-Sammlerin Gabrie­la Gierłows­ka, gleich­sam mit ein­schließt und bewahrt. Die beson­ders spek­ta­ku­lä­ren Stü­cke aus der Samm­lung kön­nen auch auf einem Touch­ta­ble ver­grö­ßert und detail­liert stu­diert wer­den. (Ansons­ten begeg­nen medi­en­tech­nisch moder­ne­re Ange­bo­te aller­dings recht sel­ten.) – Eine hüb­sche Über­ra­schung berei­tet die Ent­de­ckung von eini­gen Fläsch­chen mit Bern­stein­ein­schlüs­sen aus der Samm­lung von Otto Helm (1826–1902) – einem von Bern­stein und ins­be­son­de­re von den Inklu­sen fas­zi­nier­ten Phar­ma­zeu­ten und Che­mi­ker; denn sie sind Zeu­gen einer ver­wi­ckel­ten und auf­schluss­rei­chen Geschich­te. Helm hat­te sei­ne impo­san­te Kol­lek­ti­on dem Staat­li­chen Muse­um für Natur­kun­de und Vor­ge­schich­te in Dan­zig geschenkt; in den Kriegs­wir­ren schien sie gänz­lich unter­ge­gan­gen zu sein. 2.000 Stü­cke tauch­ten dann aber doch noch im Muse­um der Natur in Gotha auf und kamen 2007 an das West­preu­ßi­sche Lan­des­mu­se­um in Waren­dorf. Von dort sind zehn Fläsch­chen nun letzt­lich als Leih­ga­be wie­der nach Dan­zig zurückgekehrt.

Meisterliche Werke und Kunst-Stücke

Auf der nächs­ten Eta­ge kann sich der Besu­cher in den Formen- und Ideen­reich­tum des Kunst­ge­wer­bes, in die reli­giö­sen und mythi­schen Dar­stel­lun­gen und den Bereich der Heil­kunst ver­tie­fen. Hier sticht vor allem das Kabi­nett­schränk­chen des Dan­zi­ger Meis­ters Johann Georg Zern­e­bach aus dem Jah­re 1724 ins Auge, ein mit Elfen­bein, Sil­ber und Glim­mer­fi­schen ver­zier­tes Pracht­stück, das en minia­tu­re die Bau­form eines Dan­zi­ger Schranks wie­der­holt. Neben sol­chen Schät­zen wird aber auch die Geschich­te der hand­werk­li­chen Bear­bei­tung ver­deut­licht: durch ein „Schlüs­sel­loch“ las­sen sich eine neo­li­thi­sche und eine mit­tel­al­ter­li­che Werk­statt betrach­ten. Oder man kann eine alte Apo­the­ke auf­su­chen, um nach einer Bern­st­ein­sal­be oder ‑tink­tur zu fra­gen – sei es gegen Koli­ken, Poda­gra oder Hysterie.

In den fol­gen­den Räu­men wer­den zeit­ge­nös­si­sche Wer­ke des Kunst­ge­wer­bes und moder­nen Schmucks gezeigt, die mit hohem tech­ni­schen Kön­nen, ori­gi­nel­len For­men und küh­nen Ver­bin­dun­gen von Bern­stein mit ande­ren Mate­ria­li­en begeis­tern kön­nen. (Nicht zuletzt trägt die Abtei­lung „Bern­stein­ge­stal­tung“ der Dan­zi­ger Kunst­aka­de­mie dazu bei, dass der Strom von krea­ti­ven, niveau­vol­len Ent­wür­fen nicht ver­siegt.) Wenn man die recht­ecki­gen, sil­ber­um­rahm­ten Bro­schen von Janusz Wosik oder die aus Filz gefer­tig­ten, mit einer „Fül­lung“ aus Bern­stein ver­se­he­nen „Teig­ta­schen“ von Olga Podfilipska-Krysińska betrach­tet, ver­blasst die Erin­ne­rung an frü­he­ren, kon­ven­tio­nel­len Bern­stein­schmuck sehr rasch. Zu den beson­ders ori­gi­nel­len Wer­ken gehö­ren Bog­dan Mirow­skis Skulp­tu­ren, die von der mit­tel­al­ter­li­chen Kunst, ins­be­son­de­re von Hie­ro­ny­mus Bosch inspi­riert sind. Die bevor­zug­ten Ver­fah­ren die­ses Künst­lers kom­bi­nie­ren Roh-Bernstein mit Edel- und Lese­stei­nen sowie Frag­men­ten von Treib­holz. In der Aus­stel­lung kön­nen bei­spiels­wei­se sei­ne Skulp­tur Obcy [Der Frem­de], die phan­ta­sie­vol­le Dar­stel­lung eines Außer­ir­di­schen, und das Tri­pty­chon O bur­sz­ty­nie w księ­gach pis­a­no [Über Bern­stein wur­de in den Büchern geschrie­ben] bewun­dert werden.

Ein ganz beson­de­res Glanz­stück ist schließ­lich das „Fabergé-Ei“, das auf einer rotie­ren­den Schei­be prä­sen­tiert wird. Die­ses wert­vol­le Ein­zel­stück wur­de der Stadt Dan­zig anläss­lich des 1000. Jah­res­ta­ges ihrer Grün­dung im Jah­re 1997 von der deut­schen Fir­ma Vic­tor May­er Com­pa­ny geschenkt, die – als ein­zi­ge auto­ri­sier­te Werk­stät­te – von 1989 bis 2009 an die Tra­di­ti­on des rus­si­schen Hof­ju­we­liers Peter Carl Faber­gé (1846–1920) ange­knüpft hat. Das kost­ba­re Prä­sent ist mit den Wap­pen der Stadt Dan­zig und der Roma­nows ver­ziert und besteht neben Gold, Email­le, Bril­lan­ten, Rubi­nen und Saphi­ren selbst­ver­ständ­li­cher­wei­se auch aus Bernstein.

Im Ober­ge­schoss des Ker­ker­turms fin­den sich Neu­erwer­bun­gen. Dabei nimmt es ange­sichts des hohen Wer­tes der ein­zel­nen Objek­te nicht wun­der, dass in die­ser Abtei­lung – wie in der Samm­lung des Muse­ums ins­ge­samt – durch­schnitt­lich jedes vier­te Stück auf eine Stif­tung von Per­so­nen bzw. Samm­lern oder Insti­tu­tio­nen wie z. B. Kre­dit­an­stal­ten zurück­geht. Zu den neu­en Expo­na­ten, die die Samm­lung nun dau­er­haft berei­chern, gehört zwei­fel­los eine eiser­ne, 8 cm lan­ge Hut­na­del, die allem Anschein nach im 17. Jahr­hun­dert in Dan­zig ent­stan­den ist. Auf den ers­ten Blick wirkt sie recht unauf­fäl­lig, sobald sie aber mit Hil­fe einer Lupe ein­ge­hen­der betrach­tet wird, ent­deckt man in der Bernstein-Verzierung des Nadel-Endes eine als Kamee gestal­te­te Gra­vur eines win­zi­gen, höchst detail­lier­ten männ­li­chen Bildnisses.

Neben dem Stock­turm kann zudem das angren­zen­de Pein­kam­mer­tor besucht wer­den, das eben­falls einen Teil des Ver­tei­di­gungs­werks bil­de­te, dann aber auch in den Gefäng­nis­kom­plex inte­griert wur­de und Gefäng­nis­zel­len, die Fol­ter­kam­mer sowie den Gerichts­saal beher­berg­te. Eine eige­ne Aus­stel­lung, die sich auf archäo­lo­gi­sche Fun­de und eine Viel­zahl von Doku­men­ten stützt, ver­an­schau­licht die düs­te­re Geschich­te des Gebäu­des, die dama­li­gen Prak­ti­ken der Rechts­fin­dung und die sehr unter­schied­li­chen Lebens­be­din­gun­gen der Wär­ter und Gefan­ge­nen. Deut­lich erfreu­li­che­re Ein­drü­cke ver­mit­telt dann aller­dings der ehe­ma­li­ge Gerichts­saal, in dem nun Son­der­aus­stel­lun­gen ver­an­stal­tet wer­den. Gegen­wär­tig sind dort bis zum 28. Juni Arbei­ten von Miec­zysław Róży­cki (1919–1995) zu sehen, einem Dan­zi­ger, aus Lem­berg stam­men­den Künst­ler, der dem pol­ni­schen Schmuck­de­sign der Nach­kriegs­zeit wich­ti­ge neue Impul­se gab.

Wer das Bernstein-Museum im Stock­turm besu­chen möch­te, soll­te damit aller­dings nicht mehr all­zu lan­ge zögern. Nach dem aktu­el­len Pla­nungs­stand wird es 2021 in die bis dahin grund­re­no­vier­te Gro­ße Müh­le ver­legt. Damit wird mit dem Königs­ber­ger Mee­res­mu­se­um zugleich auch das gemein­schaft­li­che Pro­jekt „Połąc­ze­ni bur­sz­ty­nem“ [Durch Bern­stein ver­bun­den] ver­wirk­licht. Der neue Ort wird für das Muse­um eine mehr als dop­pelt so gro­ße Aus­stel­lungs­flä­che bie­ten, und er soll – nicht zuletzt – end­lich auch ganz bar­rie­re­frei sein.

Joanna Szkolnicka