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Danzig zur Sprache bringen

Stefan Chwin und die Geschichte seiner Stadt

Von Joanna Bednarska-Kociołek

Stefan Chwin – ein namhafter polnischer Schriftsteller und Professor für Literaturwissenschaft an der Danziger Universität – ist Autor mehrerer Romane, deren Handlung meist in Danzig bzw. in Gdańsk spielt. Auch in Deutschland hat er eine größere Leserschaft gefunden, die sich seinen in Übersetzung vorliegenden Texten (z. B. „Tod in Danzig“, „Die Gouvernante“ und „Der goldene Pelikan“) zugewandt hat.

Chwin wur­de 1949 in Gdańsk gebo­ren. Sein Vater ist nach dem Zwei­ten Welt­krieg aus Wil­na und sei­ne Mut­ter aus dem bom­bar­dier­ten War­schau dort­hin geflüch­tet. In Gdańsk waren sie fremd. Ste­fan erkun­det als Kind allei­ne die Stadt sei­ner Geburt, die für sei­ne Eltern nie Hei­mat wur­de. In ähn­li­cher Wei­se suchen auch die Erzäh­ler in sei­nen Wer­ken nach ihrer Iden­ti­tät. Die Ent­de­ckung der Stadt wird zu einem zen­tra­len Sujet die­ser Pro­sa: Eben­so wie Chwin selbst stam­men auch sei­ne Erzäh­ler aus einer Stadt, die sie Schritt für Schritt selbst erschlie­ßen und erfah­ren. Der Schrift­stel­ler gehört somit neben dem um 22 Jah­re älte­ren Gün­ter Grass und dem um acht Jahr jün­ge­ren Paweł Huel­le zu den bedeu­ten­den Schöp­fern des lite­ra­ri­schen Mythos von Danzig/Gdańsk. Dabei schafft er sei­ne eige­ne Ver­si­on der Stadt­ge­schich­te, indem er auf die Geschich­ten und Legen­den der Stadt sowie auf frü­he­re lite­ra­ri­sche Tex­te (z. B. die von Gün­ter Grass) anspielt und sich in ers­ter Linie auf die Meta­mor­pho­sen der Stadt kon­zen­triert. So beschreibt er mit beson­de­rer Inten­si­tät die Welt, die sich nach dem Zwei­ten Welt­krieg von einer deut­schen in eine pol­ni­sche ver­wan­delt. Des­halb sind Dan­zig und Gdańsk in Chwins Pro­sa not­wen­di­ger­wei­se zwei unter­schied­li­che Städ­te, zwi­schen denen aller­dings eine linea­re Ver­bin­dung besteht. Die Fas­zi­na­ti­on des Autors an der Meta­mor­pho­se prägt die meis­ten sei­ner Wer­ke, z. B. die Roma­ne „Kur­ze Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“ (1991), „Tod in Dan­zig“ (1995, dt. 1997) oder „Der gol­de­ne Peli­kan“ (2003, dt. 2005) wie auch sein „Deut­sches Tage­buch“ (2004, dt. 2015) und sei­ne lite­ra­ri­schen Feuil­le­tons „Stät­ten des Erin­nerns. Gedächt­nis­bil­der aus Mit­tel­eu­ro­pa“, die 2005 mit dem Unter­ti­tel „Dresd­ner Poe­tik­vor­le­sun­gen“ auf Deutsch erschie­nen sind.

Zwei Städte – zwei Welten

Eine ers­te Beschäf­ti­gung mit dem Sujet der Hei­mat­stadt bie­tet der Roman „Kur­ze Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“, der bis­lang nicht ins Deut­sche über­setzt wor­den ist. Hier ist das Bild der Stadt rea­lis­tisch gehal­ten. Der Erzäh­ler ist im Nach­kriegs­po­len auf­ge­wach­sen und beob­ach­tet, wie eine gan­ze (deut­sche) Stadt starb, um einer ande­ren (pol­ni­schen) Platz zu machen. Die meis­ten Spu­ren ster­ben­der oder bereits toter Ver­gan­gen­heit waren dis­kret, wie klei­ne Patro­nen­spu­ren, die man erst dann bemer­ken konn­te, wenn man die Tür oder den Fuß­bo­den sehr genau betrach­te­te. Zu den von den Deut­schen hin­ter­las­se­nen Spu­ren zäh­len Fried­hö­fe, Häu­ser, Kir­chen, Schu­len, die Frak­tur­schrift und schließ­lich Gebrauchs­ge­gen­stän­de wie Hand­tü­cher mit ein­ge­stick­ten Mono­gram­men oder Streu­er mit den fremd klin­gen­den Auf­schrif­ten „Salz“, „Pfef­fer“ und „Zucker“. Zu bemer­ken waren deut­li­che Unter­schie­de zwi­schen der pol­ni­schen (damals kom­mu­nis­ti­schen) und der deut­schen Welt. Die von Deut­schen hin­ter­las­se­nen Gegen­stän­de waren fast immer ordent­lich, mas­siv, sta­bil und prak­tisch, und zugleich sahen sie schön aus. Die pol­ni­schen Waren wur­den nach dem Kriegs­en­de „hol­ter­die­pol­ter“ her­ge­stellt. Die pol­ni­schen Gebrauchs­ge­gen­stän­de waren zu die­ser Zeit meis­tens nicht nur unschön, son­dern sie gin­gen sehr schnell ent­zwei. Des­we­gen konn­ten sie kaum als prak­tisch gel­ten. Die­se Unter­schie­de fie­len sofort auf, auch wenn man sich bewusst war, dass es nach dem Krieg aus Man­gel an Geld und Mate­ria­li­en unmög­lich war, hoch­wer­ti­ge Gegen­stän­de zu pro­du­zie­ren. Weil man von Häss­lich­keit, von Rui­nen und grau­en Fas­sa­den, umge­ben war, beein­druck­ten jene soli­den deut­schen Sachen, die man ent­we­der fin­den oder von den zurück­ge­blie­be­nen Deut­schen kau­fen konn­te, in noch höhe­rem Maße.

Ein beson­de­res Sym­bol für die Exis­tenz der deut­schen Kul­tur in Gdańsk, das vom Erzäh­ler fokus­siert wird, waren die in Frak­tur geschrie­be­nen Inschrif­ten. Es wer­den unzäh­li­ge Gegen­stän­de, auf denen deut­sche Schrift zu erken­nen ist, aufgezählt:

Was­ser­zäh­ler, Hydran­ten, Ven­ti­le: Schwa­ba­cher, Frak­tur, Gotik hiel­ten sich an den Ble­chen, Rie­geln, Roh­ren, Deckeln, Brü­cken­ge­län­dern, Stra­ßen­über­füh­run­gen, Schleu­sen, Schlo­ten fest, sie hin­gen stur im Bahn­land der Schie­nen, Eisen­bahn­si­gna­le, Was­ser­tür­me und Eisen­bahn­wei­chen, gewöhnt an ihre Anwe­sen­heit auf den Eisen­rä­dern der alten Loko­mo­ti­ven und Wagen. („Kur­ze Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“, Übers.: JBK)

Die oben beschrie­be­nen Buch­sta­ben sind „gut“. Es gibt aber auch die „bösen“. Als der Erzäh­ler ein Kind war, stell­te sich plötz­lich her­aus, dass sich im Zim­mer, in dem er schlief, unter der Tape­te als Maku­la­tur Aus­schnit­te aus natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zei­tun­gen ver­bar­gen. Die Fotos und Buch­sta­ben, die man nun sah, waren für den Jun­gen böse, weil sie vom Unheil erzähl­ten – sie erweck­ten jedoch auch sei­ne Neu­gier. Die­se Buch­sta­ben und Bil­der erzähl­ten ihm von der Stadt sei­ner Geburt und sei­ner Kind­heit anders, als er dies bis­her erfah­ren konn­te. Das Kind fand in den spre­chen­den Wän­den die letz­ten Augen­zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Nur mit Mühe erkann­te er auf den Fotos aus dem „Dan­zi­ger Vor­pos­ten“ die ein­zel­nen Orte. Die Stra­ßen, durch die er mehr­mals spa­zie­ren gegan­gen war und die er sich jetzt auf den Fotos ansah, hie­ßen selt­sam: Frau­en­gas­se, Hun­de­gas­se, Karen­wall. Einer­seits woll­te der Erzäh­ler, dass die Spu­ren der Ver­gan­gen­heit ver­schwin­den, und ande­rer­seits emp­fand er ein unkla­res Gefühl, dass er sie vor dem Ver­ges­sen ger­ne bewah­ren würde:

So vie­le Jah­re hat­te ich hier also ruhig geschla­fen, unter den tee­ro­sen­gel­ben Tape­ten mit den Peki­ne­sen aus Königs­berg, […] Gau­lei­ter Fors­ter […], dem Pan­zer­kreu­zer ‚Schles­wig Hol­stein‘ – groß, schwer wie ein stäh­ler­ner Pan­zer­schrank – […] wäh­rend die blon­den Hit­ler­jun­gen in glän­zen­den Schaft­stie­feln durch die Hin­den­bur­g­al­lee mar­schier­ten. […] Ich? Was fühl­te ich damals? […] Angst, Ekel und Abscheu – oder eher einen merk­wür­di­gen Wunsch, dass die­se gräss­li­chen Spu­ren von etwas, was fremd, schreck­lich und feind­lich war, trotz­dem über­le­ben wür­den. („Kur­ze Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“, Übers.: JBK)

Sein Zuhau­se war dem Kind plötz­lich nicht mehr so ver­traut wie zuvor. Irr­tüm­lich hat­te es immer geglaubt, hier sicher zu sein. Jetzt sieht es die bösen Buch­sta­ben unter der Tape­te, zugleich sind es aber doch die glei­chen Buch­sta­ben wie auf den Hydran­ten oder Was­ser­häh­nen und auch – was am meis­ten ver­wirrt – im Dom in Oli­wa. Dem Kind ist klar, dass auch die Kir­che von den bösen Deut­schen gebaut wur­de. Durch das Wie­der­erken­nen der Ambi­va­lenz der ver­gan­ge­nen Welt wer­den die Fas­zi­na­ti­on des Jun­gen von die­ser Welt und das Bedürf­nis nach der Deko­die­rung der geheim­nis­vol­len Zei­chen aus den frü­he­ren Zei­ten unterstrichen.

Fremdheit und Identität

Im bekann­tes­ten Roman von Ste­fan Chwin, „Tod in Dan­zig“, des­sen Titel im pol­ni­schen Ori­gi­nal „Hane­mann“ lau­tet, wird die Geschich­te der Stadt aus der Per­spek­ti­ve eines Jun­gen erzählt, der im pol­ni­schen Gdańsk nach dem Krieg gebo­ren wur­de. Sei­ne Eltern stam­men – eben­so wie die­je­ni­gen des Erzäh­lers der „Kur­zen Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“ sowie des Schrift­stel­lers selbst – nicht aus Dan­zig. Chwins neu­er Erzäh­ler beschreibt die Bevöl­ke­rung der Stadt, die nach dem Krieg sehr hete­ro­gen war, weil sie sich aus Men­schen unter­schied­li­cher Her­kunft, aus Ver­trie­be­nen und ent­wur­zel­ten Men­schen, zusam­men­setz­te. Nach Gdańsk kamen nach dem Krieg Men­schen pol­ni­scher Her­kunft aus Wil­na, Lem­berg oder War­schau sowie auch Lem­ken, die einem rus­si­ni­schen, in Gali­zi­en behei­ma­te­ten Volks­stamm ange­hö­ren. Vie­le sei­ner Mit­glie­der wur­den nach dem Krieg aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben bzw. aus­ge­sie­delt. Zurück­ge­blie­ben sind in Gdańsk auch eini­ge weni­ge Deut­sche, die bis­her in Dan­zig gelebt hat­ten, und vie­le Kaschub­en, die als Auto­chtho­ne ihre eige­ne Kul­tur und Spra­che pfleg­ten. Es waren Men­schen, die zuvor nichts oder wenig mit­ein­an­der gemein hat­ten: Die Zuwan­de­rer, die nach 1945 gen Wes­ten geflo­hen oder ver­trie­ben wor­den waren, stan­den noch unter dem unmit­tel­ba­ren Ein­druck des Kriegs­ge­sche­hens und waren des­we­gen aller­meist trau­ma­ti­siert. Das gemein­sa­me Schick­sal ver­band sie. Die Zuwan­de­rer in Gdańsk wohn­ten nach der Grenz­ver­schie­bung in einem frem­den Land, in einer pol­ni­schen Stadt, die noch vor kur­zem deutsch war; des­halb wur­den deut­sche Sym­bo­le ent­fernt; es ging dar­um, die deut­sche Prä­gung der Stra­ßen und Gebäu­de so schnell wie mög­lich aus dem Stadt­bild zu til­gen. Der Umben­nen­ung der Stra­ßen­na­men kam nach dem Krieg über­all eine her­aus­ra­gen­de sym­bo­li­sche Bedeu­tung zu, denn gera­de sie soll­te der Her­aus­bil­dung einer neu­en Iden­ti­tät die­nen. Die frü­he­re deut­sche Benen­nung ist in vie­len pol­ni­schen Namen der Stra­ßen und Plät­ze aller­dings erhal­ten oder erkenn­bar geblie­ben. Bei­spiels­wei­se heißt der „Bischofs­berg“ nach dem Krieg „Bis­ku­pia Gór­ka“, aus „Brö­sen“ wur­de „Brzeź­no“, aus „Ahorn­weg“ „Klo­no­wa“ oder aus der „Breit­gas­se“ die „uli­ca Szero­ka“. Man hat Namen seman­tisch oder pho­ne­tisch ein­fach „über­setzt“, ohne wirk­lich neue zu erfin­den. Chwin ver­sucht in sei­ner Pro­sa, das Phä­no­men des Namens­tauschs dif­fe­ren­ziert fest­zu­hal­ten, indem er genau und kon­se­quent zwi­schen deut­schen Namen in Dan­zig und pol­ni­schen in Gdańsk unter­schei­det. So zeigt er im Roman „Tod in Dan­zig“, wie vie­le Stra­ßen­na­men einer­seits zwar von einem Tag auf den ande­ren ver­än­dert wur­den (z. B. der Wech­sel von der Les­sing­stra­ße zu Grottgera-Straße, vom Jäsch­ken­ta­ler­weg in die Jaś­ko­wa Doli­na oder vom Karen­wall in die Oko­po­wa), der Erzäh­ler ande­rer­seits aber beobachtet:

Unser Unter­richt über Mickie­wicz, Kości­usz­ko und Gałc­zyń­ski fand in neu­go­ti­schen dunk­len Zie­gel­bau­ten aus der Wil­hel­mi­ni­schen Ära statt – ehe­mals deut­schen Gym­na­si­en. Für den Sonn­tags­got­tes­dienst ging es zu den frü­he­ren deut­schen Gar­ni­sons­kir­chen, in denen 1916 die Husa­ren des Gene­rals von Tres­kow vor dem Auf­bruch an die rus­si­sche Front gebe­tet hat­ten. […] Die Städ­te von frü­her mit ihren frem­den Namen gab es nicht mehr; aber es war von ihnen ein Netz aus Stra­ßen, Parks, Kanä­len und Tram­bahn­li­ni­en übrig­ge­blie­ben, die unse­re Wege bestimm­ten. („Stät­ten des Erin­nerns“, S. 15)

Die­ser Text­aus­schnitt ver­weist auf jene „,Net­ze‘“, die unter­schwel­lig wei­ter­wir­ken: Wenn sie erschlos­sen und pro­ble­ma­ti­siert wer­den, kann es der Lite­ra­tur gelin­gen, in ihrem Medi­um den Geni­us loci der Stadt zu erfassen.

Bei Chwin wer­den aber nicht nur sol­che his­to­ri­schen Kon­ti­nui­tä­ten erfasst, son­dern auch schrof­fe Brü­che. Die­se Zäsu­ren betra­fen den Autor – gleich­wie sei­ne Erzäh­ler – unmit­tel­bar, weil sich die Eltern kaum der Stadt­ver­gan­gen­heit bewusst waren und sie sich oft auch gar nicht aneig­nen woll­ten. Sie waren Zuwan­de­rer in Gdańsk. Die Geschich­te der Stadt war für sie pein­lich, und sie tabui­sier­ten sie. Chwin unter­streicht, dass die neu­en Stadt­be­woh­ner, durch zwei Tota­li­ta­ris­men gezeich­net, von sich aus eine neue, gemein­sa­me Iden­ti­tät her­aus­bil­de­ten, ohne dass ihnen die­se vom Kom­mu­nis­mus auf­ge­zwun­gen wor­den wäre. Indi­rekt tru­gen die Kom­mu­nis­ten aller­dings dazu bei, dass sich in Polen die Gewerk­schaft Soli­dar­ność ent­wi­ckel­te, denn die pol­ni­schen Staats­bür­ger wur­den einer­seits in ihrer Frei­heit ein­ge­schränkt, ande­rer­seits wur­de ihnen aber das Bewusst­sein gege­ben, dass sie ein Kol­lek­tiv sei­en und als Kol­lek­tiv Macht besä­ßen. In der Fol­ge woll­ten die Men­schen für sich selbst ent­schei­den und die glei­chen Chan­cen wie in den west­li­chen Indus­trie­ge­sell­schaf­ten haben.Deswegen war es, Chwin zufol­ge, kein Zufall, dass die Gewerk­schafts­be­we­gung gera­de in Gdańsk ent­stand: Hier konn­ten sich die hybri­di­sier­ten, ent­frem­de­ten Men­schen­grup­pen am ehes­ten eine neue gemein­sa­me Iden­ti­tät als Kol­lek­tiv auf­bau­en. Die Arbei­ter­ver­ei­ni­gung half ihnen, ihre eige­ne Iden­ti­tät und Kraft wie­der­zu­fin­den. In die­sem Zusam­men­hang geht der Autor auch auf die Benen­nung der „Frei­en Stadt Dan­zig“ aus der Zwi­schen­kriegs­zeit ein und asso­zi­iert damit eine mit­tel­bar fort­wir­ken­de Idee einer „Stadt Frei­er Men­schen“, für die die Soli­dar­ność letzt­lich gekämpft habe. Durch die Gewerk­schafts­be­we­gung konn­te man sich in Gdańsk end­lich zu Hau­se füh­len, weil man sich die­ses Zuhau­se ganz neu und gemein­sam erbaute.

Die Stadt als Palimpsest

Immer wie­der stellt Chwin die Kind­heit sei­ner Erzäh­ler als Pro­zess der Ent­de­ckung von Zeit-Schichten dar, die im Sin­ne eines Dan­zi­ger Palim­psests über­ein­an­der gela­gert sind: ver­schie­de­ne Kul­tu­ren, ver­schie­de­ne Kon­fes­sio­nen und gegen­sätz­li­che ästhe­ti­sche Vor­stel­lun­gen „über­schrei­ben“ ein­an­der, sind par­ti­ell aber wei­ter­hin „les­bar“. In der „Kur­zen Geschich­te eines gewis­sen Scher­zes“ schreibt er über sei­ne Heimatstadt:

Ich bin gebo­ren nach dem gro­ßen Krieg in einer zer­stör­ten Stadt an der Bucht eines kal­ten Mee­res, auf hal­bem Wege zwi­schen Mos­kau und dem Ärmel­ka­nal, in einem alten Haus mit einem stei­len, mit roten Dach­zie­geln gedeck­ten Dach, in der mit alten Lin­den bepflanz­ten Lüt­zow­stra­ße, die sich im Janu­ar des Jah­res 1945 von einem Tag auf den ande­ren in die Poznańska-Straße ver­wan­del­te. (Übers. JBK)

In den 1950er Jah­ren leb­te Chwin wie auch sei­ne Erzäh­ler in einer Stadt, die einem Fried­hof ähnel­te. Die neu­en Fas­sa­den waren größ­ten­teils noch nicht errich­tet wor­den und der künf­ti­ge Schrift­stel­ler hat­te die ein­zig­ar­ti­ge Mög­lich­keit, Rui­nen der frü­he­ren Zei­ten, vom Alter­tum über das Mit­tel­al­ter und den Barock bis zur Frei­en Stadt Dan­zig, zu sehen.

Die­se Viel­schich­tig­keit der Rui­nen wird detail­liert in den lite­ra­ri­schen Auf­sät­zen the­ma­ti­siert. Die Spu­ren erweck­ten die Fan­ta­sie des neu­gie­ri­gen und scharf­sin­ni­gen Kin­des: „Man kann in den Schutt aus Zie­geln, Holz und Metall immer tie­fer ein­drin­gen und älte­re Schich­ten errei­chen. Die Zeit hat­te hier die Rei­hen­fol­ge ver­ges­sen, in der die Din­ge gewöhn­lich ver­ge­hen.“ („Stät­ten des Erin­nerns“, S.17f.) Die­se Beschrei­bung erin­nert an die Freud­sche The­se vom „Wun­der­block“. Sig­mund Freud ent­wi­ckelt in sei­ner „Notiz über den Wun­der­block“ ein Modell des mensch­li­chen Gedächt­nis­ses: Das Kin­der­spiel­zeug – der Wun­der­block  –, das das immer neue Beschrei­ben und Löschen von Zei­chen auf einer Wachs­plat­te ermög­licht, wobei Spu­ren aller frü­he­ren Ein­schrei­bun­gen als unsicht­ba­re Ver­tie­fun­gen erhal­ten blei­ben, soll so ähn­lich wie das mensch­li­che Gedächt­nis funk­tio­nie­ren. Dabei ver­deut­licht Freud zugleich die Dif­fe­renz zwi­schen dem Kurz­zeit­ge­dächt­nis (dem Deck­blatt) und dem Lang­zeit­ge­dächt­nis (der Wachs­schicht). In ver­gleich­ba­rer Wei­se kon­zi­piert Chwin das Erin­ne­rungs­sys­tem der Stadt:

Unter dem Stra­ßen­pflas­ter der wirk­li­chen Stadt eröff­ne­te sich eine ande­re, die nicht mehr vor­han­den war. Das Bild der Stadt als Palim­psest hat auch mein Ver­ständ­nis von der Spra­che der Lite­ra­tur geprägt. Sehr früh merk­te ich, dass das Wort ver­schie­de­ne Schich­ten hat – so wie auch mein nie­der­ge­brann­tes Tro­ja des Nor­dens in ver­schie­de­nen Erd­schich­ten erhal­ten war. („Stät­ten des Erin­nerns“, S. 33)

Der Autor denkt dar­über nach, wel­che der vie­len Erschei­nungs­for­men von Dan­zig, deren Trüm­mer er als Kind betrach­te­te, ­authen­tisch sei, und kommt zu der Schluss­fol­ge­rung, dass sie erst alle gemein­sam den Geni­us loci her­aus­bil­de­ten. In einer Stadt, die dem Betrach­ter so vie­le Gesich­ter auf ein­mal offen­bar­te, konn­te kein ein­zel­nes Gesicht, muss­ten viel­mehr alle Gesich­ter „wahr“ sein. Nur zusam­men konn­ten sie ein Ant­litz erge­ben, das sich der „Wahr­heit“ annä­her­te. Wenn die alte Fas­sa­de der Stadt durch eine neue Vor­der­front ersetzt wur­de, war dies für Chwin somit gleich­be­deu­tend mit einem Vor­gang, bei dem ein Text über die bis­he­ri­gen Schich­ten auf ein Per­ga­ment geschrie­ben wird.

Das Ende der Vielschichtigkeit?

Im Roman „Der gol­de­ne Peli­kan“ wird die Meta­mor­pho­se von einer deut­schen in eine pol­ni­sche Stadt eben­falls the­ma­ti­siert. Der Prot­ago­nist, Jakub, ist Pro­fes­sor der Rechts­wis­sen­schaf­ten. Er kam kurz nach dem Krieg in Gdańsk auf die Welt und ist ein ange­se­he­ner Bür­ger der Stadt – als sich plötz­lich infol­ge einer fata­len Ket­te von Zufäl­len sein Leben grund­sätz­lich ver­än­dert. Er ver­liert sei­ne Frau, sei­ne Arbeit, sei­ne Woh­nung und wird letzt­lich obdach­los. Aus die­ser Per­spek­ti­ve nimmt er die Stadt nun ganz anders wahr und besucht Orte, von denen er nie ahn­te, dass sie exis­tier­ten. In sei­ner Zeit als Pro­fes­sor erin­nert er sich noch an sei­ne Kind­heit, kurz nach dem Krieg. Damals begrüß­ten ihn „auf dem lin­den­be­stan­de­nen Platz vor der Kir­che auf der blo­ßen Erde sit­zen­de, trau­ri­ge Remi­nis­zen­zen des gro­ßen Krie­ges: in Lum­pen gehüll­te Rümp­fe ohne Arme, bein­lo­se Kör­per mit Leder­rie­men an aus Bret­tern gezim­mer­te Prit­schen geschnallt, leben­di­ge ent­rin­de­te Baum­stümp­fe“. („Der gol­de­ne Peli­kan“, S. 19). Damals hat­te er Angst vor die­sen Men­schen – und jetzt bet­telt er selbst, ähn­lich wie sie, um über­le­ben zu können.

Die eigent­li­che Hand­lung des Romans spielt am Anfang des 21. Jahr­hun­derts. Zu die­ser Zeit kann man kei­ne Kriegs­op­fer mehr auf den Stra­ßen antref­fen, aber die Toten, die die Ver­gan­gen­heit der Stadt sym­bo­li­sie­ren, sind, wie sich zeigt, immer noch anwe­send, obgleich nicht mehr sicht­bar. Bei Chwin wer­den sie gezeigt, als der obdach­lo­se Jakub auf der Suche nach einer Über­nach­tungs­mög­lich­keit in den Kanal hin­ab­steigt. Im Tun­nel stößt er zunächst auf Abfall aus ver­schie­de­nen Epo­chen, der ihm die ver­ges­se­ne Geschich­te der Stadt erzählt. Hier fin­det er lee­re Sham­poo­fla­schen, Ansichts­kar­ten, kai­ser­li­che Diplo­me mit dem deut­schen Auf­druck „Tech­ni­sche Hoch­schu­le“, ver­gilb­te Flug­blät­ter vom Dezem­ber 1970, die zum Streik in der Werft auf­ru­fen, von Albert Fors­ter unter­schrie­be­ne Bekannt­ma­chun­gen, For­mu­la­re eines Geschäfts­plans für das Jahr 2000. Alle die­se Zei­chen der Ver­gan­gen­heit wur­den zum Müll, sind kei­ne Zeu­gen der frü­he­ren Geschich­te mehr. Der Müll in den Dan­zi­ger Abwas­ser­ka­nä­len ist natur­ge­mäß nicht nach einer ursprüng­li­chen Bedeu­tung sor­tiert und bleibt gänz­lich dem Ver­ges­sen anheim­ge­ge­ben. Letzt­lich stößt Jakub dann auf einen Luft­schutz­bun­ker, in dem er unbe­rühr­te Lei­chen von Zivi­lis­ten entdeckt:

Die schwei­gen­den Men­schen, die den Saal erfüll­ten, bewach­ten in abso­lu­ter Stil­le das schwar­ze Was­ser. […] Sie waren zu einer lan­gen Rei­se bereit, schie­nen nur auf ein Zei­chen zu war­ten. Man­che hat­ten Kat­zen und Hun­de im Arm, einen Käfig mit einem schmut­zig­gel­ben toten Kana­ri­en­vo­gel oder lee­re Pan­zer von Haus­schild­krö­ten. Ande­re hiel­ten ein Päck­chen Brie­fe, mit einem Band zusam­men­ge­hal­ten, ver­mo­der­te Aus­wei­se, alte Schreib­ma­schi­nen, sil­ber­nes Besteck, Medi­zin­köf­fer­chen. […]Wenn er sich näher­te, lie­ßen ihn alte Frau­en mit auf der Stirn gebun­de­nen Kopf­tü­chern pas­sie­ren und nick­ten schwer­fäl­lig mit dem Kopf, als ob sie ihr Ein­ver­ständ­nis gäben. („Der gol­de­ne Peli­kan“, S. 236)

Die­se Pas­sa­ge, in der Danzig/Gdańsk als Stadt der Fried­hö­fe ver­sinn­bild­licht wird, gewinnt eine phantastisch-imaginäre Dimen­si­on. Dabei wird aber nicht mehr die Ver­gan­gen­heit beschwo­ren; viel­mehr hat die Geschich­te, für die die ehr­wür­di­gen Fried­hö­fe stan­den, in der Gegen­wart kei­ne Aktua­li­tät mehr. Schlicht­weg alles, auch die Lei­chen der Kriegs­op­fer, ist in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Soll das hei­ßen, dass der Mythos Dan­zig bereits unter­ge­gan­gen ist und sich kaum noch jemand an ihn erin­nert? Die­se Dia­gno­se scheint Chwin in sei­nem Roman tat­säch­lich zu stellen:

Die Stadt, in der Jakub auf die Welt kam, war ver­wüs­tet und leer. […] Die frü­he­ren Bewoh­ner der Stadt waren nicht mehr da. Die einen waren im Feu­er umge­kom­men, ande­re mit Schif­fen übers Meer geflo­hen, die rest­li­chen hat­te man hin­ter die sie­ben Ber­ge abtrans­por­tiert. Sie hin­ter­lie­ßen eit­le, phan­ta­sie­vol­le Schil­der mit goti­schen Buch­sta­ben über den Türen zer­stör­ter Restau­rants und lee­re Woh­nun­gen mit kal­ten Laken auf Eisen­bet­ten, in denen man noch eini­ge Wochen nach der Ein­nah­me der Stadt durch die Sol­da­ten der gro­ßen Armee einen wei­chen, weiß schim­mern­den Kopf oder einen im Schlaf zusam­men­ge­kau­er­ten Leib sehen konn­te. („Der gol­de­ne Peli­kan“, S. 5f.)

In die­sem Roman wird mit­hin eine pes­si­mis­ti­sche The­se for­mu­liert. Die ver­gan­ge­ne Welt ist für den durch­schnitt­li­chen Men­schen nicht mehr zu sehen. Man muss in den Kanal – gleich­sam in den Hades, die Unter­welt – hin­ab­stei­gen, um sie noch sehen zu kön­nen. Die mythi­sche Stadt, die der Schrift­stel­ler selbst schuf, gibt es nicht mehr. Sie ähnelt einem nicht mehr exis­tie­ren­den Fried­hof oder einem Müll­ei­mer, in dem alles inko­hä­rent ist. Die Mate­rie, auf die Jakub in den Kanä­len stößt, ist wert­los, absto­ßend, bedeu­tungs­los und bleibt ver­ges­sen. Jakub als Obdach­lo­ser ver­liert sogar die Fähig­keit zu spre­chen. Es ist kein Zufall, dass er gera­de, nach­dem er aus dem Abgrund der Kanä­le wie­der ans Tages­licht kommt, stumm wird: Er ist nicht imstan­de zu beschrei­ben, was er sah. Noch bevor er sich in die Unter­welt begibt, hat Jakub die The­se des Phi­lo­so­phen Lud­wig Witt­gen­stein bestä­tigt, nach der die Gren­zen unse­rer Spra­che die Gren­zen unse­rer Welt sei­en. Kon­se­quen­ter Wei­se wer­den die Namen der Gegen­stän­de, die Jakub in den Kanä­len fin­det, nun von nie­man­dem mehr aus­ge­spro­chen, d. h. sie haben kei­ne Namen mehr, obwohl sie einst von jeman­dem benannt wor­den waren. Die Din­ge haben, anders als im „Tod in Dan­zig“, kei­ne magi­sche Bedeu­tung mehr. Sie sind Müll geworden.

Ähn­lich wie Gün­ter Grass oder Paweł Huel­le zeigt Ste­fan Chwin auf ver­schie­de­ne Wei­sen, dass die Geschich­te Dan­zigs als Kon­ti­nu­um zu ver­ste­hen ist, auch wenn sie von tief­grei­fen­den Zäsu­ren (wie dem Zwei­ten Welt­krieg) zer­klüf­tet wur­de. Auch für ihn ist es unmög­lich, sich von der Ver­gan­gen­heit abzu­spal­ten. Dabei geht es kei­nes­falls nur um eine persönlich-individuelle Erin­ne­rung, son­dern viel­mehr um das kul­tu­rel­le Gedächt­nis der Polen und der Deut­schen. Dies ist letzt­lich der Flucht­punkt der Geschich­ten, in denen Kin­der eine Privat-Archäologie auf Dan­zi­ger Dach­bö­den, in Kel­lern und unter­ir­di­schen Gän­gen betrei­ben, sich auf deut­sche Spu­ren bege­ben – und dem Frem­den ohne Hass gegenübertreten.


Die Zita­te aus „Tod in Dan­zig“ und „Der gol­de­ne Peli­kan“ fol­gen der kon­genialen Über­set­zung von Rena­te Schmidgall.


Die heu­ti­gen Vor­stel­lun­gen von der kul­tu­rel­len Viel­schich­tig­keit und mythi­schen Dimen­si­on der Stadt Dan­zig ver­dan­ken sich in erheb­li­chem Maße dem dich­te­ri­schen Werk von Ste­fan Chwin. Die­ser Schrift­stel­ler hat am 11. April sein 70. Lebens­jahr voll­endet, und zu die­sem Jubi­lä­um wol­len wir ihm eben­so gra­tu­lie­ren, wie wir vor gut ein­ein­halb Jah­ren sei­nen jün­ge­ren Kol­le­gen Paweł Huel­le aus Anlass von des­sen 60. Geburts­tag gewür­digt haben. Und da Dr. Joan­na Bednarska-Kociołek, die sich als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin inten­siv mit dem Erin­ne­rungs­ort Danzig/Gdańsk aus­ein­an­der­ge­setzt hat, unse­ren Lese­rin­nen und Lesern damals bereits Paweł Huel­les Danzig-Bild über­zeu­gend erläu­tet hat (DW 9/2017), sind wir ihr sehr dank­bar dafür, dass sie sich nun bereit­erklärt hat, uns auch eine Ein­füh­rung in die poetisch-literarische Welt von Ste­fan Chwin zu geben. 

DW