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Biographische Annäherungen an zwei außergewöhnliche Elbinger

Der Sinn von Mikro­ge­schich­te ist, durch detail­lier­te Ana­ly­sen klei­ner, meist lokal begrenz­ter The­men nicht nur das his­to­ri­sche Detail an sich zu erken­nen, son­dern auf Grund genau­er Betrach­tung der klei­nen Ein­heit bes­ser begrün­de­te Aus­sa­gen zu grö­ße­ren geschicht­li­chen Zusam­men­hän­gen tref­fen zu kön­nen. So geschieht es in dem vor­lie­gen­den Büch­lein. Es zeich­net eines­teils den span­nen­den Lebens­weg von Johann Josua Kett­ler (1659–1718) nach, der nach einer tur­bu­len­ten Jugend­zeit in Elb­ing als ange­se­he­ner Kauf­mann und Diplo­mat in Indi­en leb­te. Andern­teils – und vor allem – wid­met es sich der mis­sio­na­ri­schen Wirk­sam­keit von Jacob Klein (1721–1790), der den evan­ge­li­schen Glau­ben aus sei­ner Hei­mat nach Indi­en getra­gen und so Kul­tur­gren­zen über­wun­den, zugleich aber Typi­sches sei­ner Hei­mat­kul­tur zur Wir­kung gebracht hat. Selbst wenn auch Klein – wie Kett­ler im Unter­ti­tel des ihm gel­ten­den Auf­sat­zes – ein „außer­ge­wöhn­li­cher Elb­in­ger“ genannt wür­de, dürf­te das den nicht mikro­his­to­risch an der west­preu­ßi­schen Stadt Inter­es­sier­ten zunächst kaum ver­lo­cken ;  die Lek­tü­re über­zeugt frei­lich davon, wie beredt Klein­ge­schich­te für gro­ße Zusam­men­hän­ge sein kann.

Die Mis­si­on auf dem indi­schen Sub­kon­ti­nent hat­te mit der päpst­li­chen Bul­le Roma­nus Pon­ti­fex begon­nen, durch die den Por­tu­gie­sen 1455 das Patro­nat über die Mis­sio­nie­rung neu­er Län­der „hin­ter Afri­ka“ über­tra­gen wur­de. Gleich­zei­tig erhiel­ten die Por­tu­gie­sen ein Han­dels­mo­no­pol für die­sen Raum. Vas­co da Gama ent­deck­te 1498 den See­weg nach Indi­en – in wel­chen welt­bild­li­chen Umbruch­zei­ten die Refor­ma­ti­on ver­wur­zelt ist, gerät nur all­zu leicht aus dem mit­tel­eu­ro­päi­schen Blick. Zunächst ver­wehr­ten die Por­tu­gie­sen, pri­mär aus öko­no­mi­schen Erwä­gun­gen, aus­län­di­schen Geist­li­chen den Zugang nach Asi­en. Erst auf päpst­li­chen Druck pro­kla­mier­te der por­tu­gie­si­sche König die Epo­che der ver­stärk­ten Mis­sio­nie­rung Asi­ens und schick­te um 1540 Mit­glie­der des unter der Her­aus­for­de­rung der Refor­ma­ti­on gegrün­de­ten Jesuiten-­Ordens nach Goa. Ers­ter deut­scher evan­ge­li­scher Mis­sio­nar in Indi­en war spä­ter Bar­tho­lo­mä­us Zie­gen­balg (1682–1719).

In die­sen Hori­zont fügt sich die akri­bisch gear­bei­te­te Stu­die Hans-Jürgen Kleins ein. Jacob Klein (1721–1790) als Ordi­nier­ter der Dänisch-Halleschen Mis­si­on fin­det plas­tisch sei­nen Ort in der Geschich­te der Aus­brei­tung evan­ge­li­schen Glau­bens. Dass Mis­si­on immer zwi­schen den Polen des Macht­er­werbs und der Aus­beu­tung einer­seits, der empa­thisch kul­tur­sen­si­blen Für­sor­ge ande­rer­seits pen­del­te und sich letzt­lich jedem scha­blo­nen­haf­ten Urteil ver­wei­gert, bestä­tigt sich ein­mal mehr. Die deutsch-protestantische Geschich­te West­preu­ßens hat auch dar­in ihre glo­ba­le Dimen­si­on ;  sie wirkt in den pro­tes­tan­ti­schen Gemein­schaf­ten Indi­ens über ihren eige­nen Unter­gang hinaus.

In sei­nem pro­fun­den theo­lo­gie­ge­schicht­li­chen Nach­wort beleuch­tet Til­man Asmus Fischer die Viel­falt der Rol­len, die Mis­sio­na­ren als Mitt­ler zwi­schen den Kul­tu­ren zufiel, sowie die meist zu wenig beach­te­ten Wech­sel­be­zie­hun­gen zwi­schen Mis­si­on und indi­ge­nen Gesell­schaf­ten. Dass heu­te die glo­ba­le Mehr­heit pro­tes­tan­ti­scher Chris­ten in Län­dern lebt, in denen es sie vor dem 19. Jahr­hun­dert kaum oder nicht gege­ben hat, unter­streicht die Mobi­li­tät mis­sio­na­ri­scher Impul­se. Anders als ehe­dem in den „klas­si­schen“ pro­tes­tan­ti­schen Län­dern Mittel‑, West- und Nord­eu­ro­pas, wo Kon­fes­si­ons­lo­sig­keit heu­te die Fra­ge mis­sio­na­ri­schen Han­delns ganz neu stellt, umfas­sen pro­tes­tan­ti­sche Gemein­schaf­ten in den ange­stamm­ten „Mis­si­ons­ge­bie­ten“ nir­gends die Gesamt­heit oder eine Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Der Pro­tes­tan­tis­mus ist im Zuge sei­ner „Glo­ba­li­sie­rung“ zur Reli­gi­on qua­li­fi­zier­ter Min­der­hei­ten gewor­den und zeich­net sich oft durch sei­ne beson­de­re Affi­ni­tät zu Bil­dung und Dia­ko­nie aus.

Anspre­chend ist Fischers Gedan­ke, das refor­ma­to­ri­sche Gedan­ken­gut habe über die Gren­zen des kon­fes­sio­nell ver­fass­ten Chris­ten­tums hin­aus eine Inkul­tu­ra­li­sie­rung erfah­ren und so „gesell­schaft­lich heil­sam“ gewirkt im Sin­ne der Stär­kung indi­vi­du­el­ler Frei­heit und Ver­ant­wort­lich­keit. Fischer spricht von der „Pro­tes­tan­ti­sie­rung indi­ge­ner Reli­gio­nen“, die deren anti­ko­lo­nia­les Poten­zi­al geweckt oder geför­dert habe.

So reiz­voll – und aus protestantisch-konfessioneller Sicht schmei­chelhaft – die­se Ana­ly­se sein mag, so kri­tisch soll­te doch die Rück­fra­ge aus­fal­len, ob jene „Pro­tes­tan­ti­sie­rung“ in bürgerschaftlich-emanzipatorischem Ver­ständ­nis denn etwa auch das Mut­ter­land der Refor­ma­ti­on erfasst habe. Nament­lich das sich betont pro­tes­tan­tisch geben­de Wil­hel­mi­ni­sche Reich basier­te gera­de nicht auf einer obrig­keits­kri­ti­schen, per­sön­li­che Mün­dig­keit for­cie­ren­den Adap­ti­on refor­ma­to­ri­scher Para­me­ter. Der schmerz­haf­te Ver­lust der deut­schen Ost­ge­bie­te, so auch Elbings, steht doch ent­schei­dend für die Tra­gik einer gesell­schaft­li­chen Dis­pen­sie­rung bür­ger­schaft­li­cher Eigen­stän­dig­keit zu Guns­ten fata­ler Gehorsamsbereitschaft.

Wie dem auch sei :  Den bei­den aus Elb­ing stam­men­den „Außer­ge­wöhn­li­chen“ Johann Josua Kett­ler und Jacob Klein wur­de hier ein wür­di­ges, infor­ma­ti­ves und zum Wei­ter­den­ken her­aus­for­dern­des Denk­mal gesetzt – alle­mal in pro­tes­tan­ti­schem Geist !

Klaus Beck­mann