Die früheren Wehranlagen laden zu erholsamen Spaziergängen ein
Als die deutsche Schriftstellerin Sabrina Janesch 2009 das neu geschaffene Amt der Stadtschreiberin in Danzig übernommen und sukzessiv ihre Wirkungsstätte erkundet hatte, bekannte sie, dass die alte, um 1620 erbaute Steinschleuse, die die Niederstadt von der Vorstadt trennt, ganz entschieden zu ihrem Lieblingsort geworden sei – und dies auch oder vielleicht gerade an einem stillen Oktobertag, wenn Schwäne lautlos über die Gewässer der Mottlau ziehen, durch Nebelschwaden und das ufernahe Schilf gleiten.
Dieser Ort, der keine 15 Gehminuten südlich von der lauten Innenstadt entfernt liegt, von dem aus sich früher die Wasserzufuhr in den Fluss regulieren ließ und bei Gefahr das Land jenseits des Walls geflutet werden konnte, bietet auch an einem lauen Frühlingstag einen willkommenen Rückzugsort. Alternativ zum touristischen Sightseeing-Programm empfiehlt es sich, von hier aus einen erholsamen Spaziergang entlang der historischen Wallanlage zu beginnen, jetzt, da der rote Mohn leuchtet und die Holdundersträucher voll erblüht sind – nicht nur zur Freude der Insekten; bald werden sich Vögel, die hier in großer Artenvielfalt von Ornithologen beobachtet werden können, in Scharen über die schwarzen Beeren als eine Delikatesse hermachen. Ältere Zeitgenossen werden sich daran erinnern, wie auffällig viele Straßen in der Unterstadt einst nach Vögeln benannt worden waren.
Jetzt im Mai stehen die Bäume in der weiten Niederung und bis hoch hinauf zum Bischofsberg, der mit seinen 60 Metern ein herausragendes Segment im Befestigungsring um das alte Danzig bildete, bereits wieder in sattem Grün. Enten dümpeln friedlich zwischen Seerosen, die wie Teppiche den ehemaligen, im charakteristischen Zickzack verlaufenden Stadtgraben bedecken – dort, so schwärmte der Schriftsteller Wolfgang Federau (1894–1950) in seinen Jugenderinnerungen, habe es zu ihrem Kinderglück gehört, auf leise schwankenden Holzflößen zu spielen, schön und aufregend zugleich.
In das Bild eines solch friedlichen Gewässers fügen sich wie selbstverständlich Angler ein, die das Reservat wegen seines reichen Fischbestandes von jeher sehr schätzen: Wer Glück hat, fängt einen Hecht oder Barsch, vielleicht eine Plötze, Karausche oder Ukelei. Aufmerksame Naturliebhaber können – neben dem nimmersatten, sich spreizenden Kormoran – einen Fischfreund ganz anderer Art erspähen, denn auch der wunderschöne smaragdgrüne Eisvogel geht hier auf Jagd: Pfeilgerade wird er durch die Wasseroberfläche stoßen und nach den schmackhaften kleinen Jungtieren tauchen.
Angesichts dieser frühlingshaften Idylle ist kaum vorstellbar, wie hier in früheren Jahren während frostiger Winter über Wochen aus dicken gefrorenen Schichten mühsam Eisblöcke geschnitten und an Land gezogen werden mussten, um sie sodann zu den Eiskellern in die Stadt zu transportieren.
Die frühneuzeitliche Befestigungsanlage, die zu den umfangreichsten und mächtigsten dieser Art in ganz Nordeuropa zählte und erst zum Ende des 19. Jahrhunderts an militärischer Bedeutung verlor, war seit der anschließenden Entfestung teilweise abgetragen worden und verwilderte. 1997 bot die Tausendjahrfeier der Stadt Danzig einen willkommenen Anlass, sie in ein attraktives Naherholungsgebiet für Jung und Alt zu verwandeln. Entlang der Spazierwege laden immer wieder Bänke zum Verweilen und Träumen ein – vom verheißungsvollen Sonnenaufgang an bis hinein in die Abenddämmerung. Dann erscheinen sogar die beiden augenfälligen Erhebungen westlich der Steinschleuse illuminiert; Lichterketten schlängeln sich die Hügel empor und weisen Besuchern den Weg, damit sie schließlich von dort aus staunend, wenn nicht ergriffen, den Sternenhimmel über der Stadt und dem Werder betrachten können.
Diese beiden Aussichtspunkte liegen auf zwei der ehemals 14, durch Kurtinen verbundenen Bastionen, die, ausgelöst durch den Polnisch-Schwedischen Krieg, zum Schutz der Stadt Danzig zwischen 1622 und 1636 im südlichen Teil des Festungsgürtels errichtet worden waren – vorwiegend aus Ziegeln und urbanem Bauschutt, so dass späterhin gelegentlich auch Scherben von Porzellan oder sogar Münzen gefunden werden konnten. Als die höchste und am besten erhaltene Bastion gilt die dreigeschossige, von niederländischen Baumeistern auf einem fünfeckigen Grundriss entworfene Anlage, von deren Größe und Wehrhaftigkeit offensichtlich auch ihre Namen wie »Bison« bzw. »Wisent« künden sollte; alternativ findet sich auch die altertümliche Bezeichnung »Maidloch« für den seit jeher mystifizierten Auerochsen, mit dem sich die phantasievolle Vorstellung verbinden konnte, dass er in den dortigen Kasematten hause. Die Namen der benachbarten Bastionen wirken demgegenüber geradezu harmlos: »St. Gertrud«, »Wolf«, »Roggen« oder beispielsweise »Kaninchen«. Vor zwei Jahren wurde die Bastion »Bison« aufwändig saniert und begrünt. Heute kann der Besucher, vorbei an Bänken und Liegen, an Teleskopen und Kanonen-Attrappen, die den Aufstieg auch für Kinder interessant machen, gemächlich über den niederen und den mittleren schließlich den oberen, den »Kavalleriewall«, erreichen.
Nordwärts richtet sich der Blick auf die imposante Silhouette der alten Hansestadt mit ihren berühmten Wahrzeichen, in östlicher Richtung offenbart sich hingegen ein architektonisches Kleinod aus einer ganz ungewohnten Perspektive, weil man von hier hinabschaut auf den sonst im Verborgenen liegenden, verwunschen wirkenden Hof des barocken Leege- bzw. Niedertors, das die Ausfahrt in der Richtung des Danziger Werders ermöglichte. Von dieser Warte aus vermag der Betrachter kaum den regen Verkehr wahrzunehmen, der hier zwischen meterdicken Mauern und an schweren eisenbeschlagenen Holztoren vorbei den ehemaligen Schutzwall durchquert. – Dort, wo einst die Stadt verteidigt werden musste, haben seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Kunstschaffende das Bauwerk ihren Zwecken dienstbar gemacht und mit neuem Sinn und Leben erfüllt.
Zwischen diesem Baudenkmal und der Bastei »Bison« liegt, langgestreckt und wild umwuchert, eine Ruine, die als Zeugnis aus der Danziger Stadtgeschichte beachtenswert ist; diese Reste einer gemauerten Eisenbahnbrücke gehörten zur Bahnhofszufahrt der berühmten Preußischen Ostbahn. Unmittelbar nach der Fertigstellung dieses Teilstücks traf hier am Nachmittag des 5. August 1852 König Friedrich Wilhelm IV. auf seiner Reise von Berlin über Dirschau im Danziger Kopfbahnhof ein.
Nachdem 1900 der repräsentative Hauptbahnhof errichtet worden war, nutzte im Wesentlichen nur noch der Güterverkehr diese Station. Durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges wurde sie jedoch 1945 in einer Zeit völkerrechtlicher Willkür zum Schauplatz dramatischer menschlicher Schicksale: Einerseits mussten von hier aus die deutschen Vertriebenen ihre Heimat gen Westen verlassen, andererseits trafen ab September die ersten Züge mit Zwangsumsiedlern aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten ein. An diese Ankunft gemahnt ein Gedenkstein am Fuße der Bastion.
Sabrina Janesch erinnert sich an einen Spaziergang entlang der Eisenbahngleise und der Wehranlagen in Begleitung eines reputierlichen Stadtführers, dessen Anliegen es war, mit exemplarischen Geschichten, Parabeln oder Anekdoten das Interesse für übergreifende historische Zusammenhänge zu wecken und wachzuhalten: So hätte er von einem deutschen Soldaten erzählt, der zwischen den beiden Bastionen nahe dem Leegetor erschossen worden sei und dort begraben liege – und im Rauschen des Schilfes sei jetzt noch ein Flüstern und Wispern zu hören, das die Erinnerung an diese damaligen Geschehnisse nicht zur Ruhe kommen ließe.
Auch die Stadtverwaltung hat ihrerseits offensichtlich großen Wert darauf gelegt, das Gebiet um die alte Steinschleuse für historische, aber vor allem auch ökologische Erkundungen herzurichten. Zahlreiche anschauliche Tafeln geben weitreichende Erläuterungen zur Natur‑, Stadt‑, Architektur- und Militärgeschichte; ergänzt werden sie mit persönlichen Erlebnisberichten von Zeitzeugen. Sinnfällig wird beispielsweise das Schwimmvergnügen der Kinder in der Nähe der Schleuse beschrieben, desgleichen die Lust, im Winter auf Schlitten und im Sommer mit Hilfe von Säcken ausgelassen die Bastionen herunterzurasen; oder die Zeitzeugen erzählen von der Aufregung, die sie empfanden, als sie in das Innere der noch nicht gesicherten Hügel mit ihren geheimnisvollen Gängen eindrangen, um vielleicht Munition oder zerbrochene Gewehre für ihre Kriegsspiele zu entdecken.
An anderer Stelle wird auf den Zusammenhang zwischen dem reichen Bestand an Weißdornsträuchern und der Tatsache hingewiesen, dass dieses undurchdringliche stachelige Gewächs einst als natürliches Bollwerk gegen feindliche Angreifer höchst wirksam eingesetzt werden konnte. Vom Flug der Fledermäuse wird erzählt, wie sie über den nächtlichen Stadtgraben schwirren, um Insekten zu fangen, und so als »Verbündete des Menschen« diese vor allzu vielen kleinen Plagegeistern zu bewahren. Ebenso lehrreich sind beispielsweise die Ausführungen über den dicht bewachsenen Vegetationstreifen am Ufer der Gewässer, der mit seinen unterschiedlichen Schilfarten, dem krautigen Kalmus, der anmutigen Schwanenblume, die jetzt im Juni in zartem Rosa erblüht, mit der Gelben Schwertlilie oder dem farbenfrohen Knabenkraut über alle Schönheit hinaus zugleich zahlreichen Vogelarten Unterschlupf, Schutz und Nistplätze bietet.
Will man das Gebiet um die alten Bastionen wieder verlassen, gesättigt mit Informationen, zugleich erfüllt von idyllischen Naturbildern sowie durch die wohltuenden Ruhe gestärkt, empfiehlt es sich, zum Ausklang den Rückweg über den Wallplatz zu nehmen, einen Blick auf das Kleine Zeughaus und den mittelalterlichen Weißen Turm zu werfen und sich erst allmählich – vorbei an St. Peter und Paul und am Nationalmuseum – wieder der Stadt und ihrem pulsierenden Leben anzunähern.
Text & Fotos: Ursula Enke