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Restaurant in dem Gebäude am Thorner Altstädtischen Markt, in dem 1875 die polnische »Wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn« (Towarzystwo Naukowe w Toruniu) gegründet worden ist. Im Schaufenster spiegeln sich die Hauptpost und der Turm der Universitätskirche wider. Foto: Ursula Enke

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Begegnung mit dem Danziger Auerochsen

Die früheren Wehranlagen laden zu erholsamen Spaziergängen ein

Als die deutsche Schrift­stel­lerin Sabrina Janesch 2009 das neu geschaffene Amt der Stadt­schrei­berin in Danzig übernommen und sukzessiv ihre Wirkungs­stätte erkundet hatte, bekannte sie, dass die alte, um 1620 erbaute Stein­schleuse, die die Nieder­stadt von der Vorstadt trennt, ganz entschieden zu ihrem Lieblingsort geworden sei – und dies auch oder vielleicht gerade an einem stillen Oktobertag, wenn Schwäne lautlos über die Gewässer der Mottlau ziehen, durch Nebel­schwaden und das ufernahe Schilf gleiten. 

Dieser Ort, der keine 15 Gehmi­nuten südlich von der lauten Innen­stadt entfernt liegt, von dem aus sich früher die Wasser­zufuhr in den Fluss regulieren ließ und bei Gefahr das Land jenseits des Walls geflutet werden konnte, bietet auch an einem lauen Frühlingstag einen willkom­menen Rückzugsort. Alter­nativ zum touris­ti­schen Sightseeing-Programm empfiehlt es sich, von hier aus einen erhol­samen Spaziergang entlang der histo­ri­schen Wallanlage zu beginnen, jetzt, da der rote Mohn leuchtet und die Holdunder­sträucher voll erblüht sind – nicht nur zur Freude der Insekten; bald werden sich Vögel, die hier in großer Arten­vielfalt von Ornitho­logen beobachtet werden können, in Scharen über die schwarzen Beeren als eine Delika­tesse hermachen. Ältere Zeitge­nossen werden sich daran erinnern, wie auffällig viele Straßen in der Unter­stadt einst nach Vögeln benannt worden waren.

Jetzt im Mai stehen die Bäume in der weiten Niederung und bis hoch hinauf zum Bischofsberg, der mit seinen 60 Metern ein heraus­ra­gendes Segment im Befes­ti­gungsring um das alte Danzig bildete, bereits wieder in sattem Grün. Enten dümpeln friedlich zwischen Seerosen, die wie Teppiche den ehema­ligen, im charak­te­ris­ti­schen Zickzack verlau­fenden Stadt­graben bedecken – dort, so schwärmte der Schrift­steller Wolfgang Federau (1894–1950) in seinen Jugend­er­in­ne­rungen, habe es zu ihrem Kinder­glück gehört, auf leise schwan­kenden Holzflößen zu spielen, schön und aufregend zugleich. 

In das Bild eines solch fried­lichen Gewässers fügen sich wie selbst­ver­ständlich Angler ein, die das Reservat wegen seines reichen Fisch­be­standes von jeher sehr schätzen: Wer Glück hat, fängt einen Hecht oder Barsch, vielleicht eine Plötze, Karausche oder Ukelei. Aufmerksame Natur­lieb­haber können – neben dem nimmer­satten, sich sprei­zenden Kormoran – einen Fisch­freund ganz anderer Art erspähen, denn auch der wunder­schöne smaragd­grüne Eisvogel geht hier auf Jagd: Pfeil­gerade wird er durch die Wasser­ober­fläche stoßen und nach den schmack­haften kleinen Jungtieren tauchen. 

Angesichts dieser frühlings­haften Idylle ist kaum vorstellbar, wie hier in früheren Jahren während frostiger Winter über Wochen aus dicken gefro­renen Schichten mühsam Eisblöcke geschnitten und an Land gezogen werden mussten, um sie sodann zu den Eiskellern in die Stadt zu transportieren.

Die frühneu­zeit­liche Befes­ti­gungs­anlage, die zu den umfang­reichsten und mächtigsten dieser Art in ganz Nordeuropa zählte und erst zum Ende des 19. Jahrhun­derts an militä­ri­scher Bedeutung verlor, war seit der anschlie­ßenden Entfestung teilweise abgetragen worden und verwil­derte. 1997 bot die Tausend­jahr­feier der Stadt Danzig einen willkom­menen Anlass, sie in ein attrak­tives Naherho­lungs­gebiet für Jung und Alt zu verwandeln. Entlang der Spazierwege laden immer wieder Bänke zum Verweilen und Träumen ein – vom verhei­ßungs­vollen Sonnen­aufgang an bis hinein in die Abend­däm­merung. Dann erscheinen sogar die beiden augen­fäl­ligen Erhebungen westlich der Stein­schleuse illumi­niert; Lichter­ketten schlängeln sich die Hügel empor und weisen Besuchern den Weg, damit sie schließlich von dort aus staunend, wenn nicht ergriffen, den Sternen­himmel über der Stadt und dem Werder betrachten können.

Diese beiden Aussichts­punkte liegen auf zwei der ehemals 14, durch Kurtinen verbun­denen Bastionen, die, ausgelöst durch den Polnisch-Schwedischen Krieg, zum Schutz der Stadt Danzig zwischen 1622 und 1636 im südlichen Teil des Festungs­gürtels errichtet worden waren – vorwiegend aus Ziegeln und urbanem Bauschutt, so dass späterhin gelegentlich auch Scherben von Porzellan oder sogar Münzen gefunden werden konnten. Als die höchste und am besten erhaltene Bastion gilt die dreige­schossige, von nieder­län­di­schen Baumeistern auf einem fünfeckigen Grundriss entworfene Anlage, von deren Größe und Wehrhaf­tigkeit offen­sichtlich auch ihre Namen wie »Bison« bzw. »Wisent« künden sollte; alter­nativ findet sich auch die alter­tüm­liche Bezeichnung »Maidloch« für den seit jeher mysti­fi­zierten Auerochsen, mit dem sich die phanta­sie­volle Vorstellung verbinden konnte, dass er in den dortigen Kasematten hause. Die Namen der benach­barten Bastionen wirken demge­genüber geradezu harmlos: »St. Gertrud«, »Wolf«, »Roggen« oder beispiels­weise »Kaninchen«. Vor zwei Jahren wurde die Bastion »Bison« aufwändig saniert und begrünt. Heute kann der Besucher, vorbei an Bänken und Liegen, an Teleskopen und Kanonen-Attrappen, die den Aufstieg auch für Kinder inter­essant machen, gemächlich über den niederen und den mittleren schließlich den oberen, den »Kaval­le­riewall«, erreichen.

Nordwärts richtet sich der Blick auf die imposante Silhouette der alten Hanse­stadt mit ihren berühmten Wahrzeichen, in östlicher Richtung offenbart sich hingegen ein archi­tek­to­ni­sches Kleinod aus einer ganz ungewohnten Perspektive, weil man von hier hinab­schaut auf den sonst im Verbor­genen liegenden, verwun­schen wirkenden Hof des barocken Leege- bzw. Niedertors, das die Ausfahrt in der Richtung des Danziger Werders ermög­lichte. Von dieser Warte aus vermag der Betrachter kaum den regen Verkehr wahrzu­nehmen, der hier zwischen meter­dicken Mauern und an schweren eisen­be­schla­genen Holztoren vorbei den ehema­ligen Schutzwall durch­quert. – Dort, wo einst die Stadt verteidigt werden musste, haben seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhun­derts Kunst­schaf­fende das Bauwerk ihren Zwecken dienstbar gemacht und mit neuem Sinn und ­Leben erfüllt.

Zwischen diesem Baudenkmal und der Bastei »Bison« liegt, langge­streckt und wild umwuchert, eine Ruine, die als Zeugnis aus der Danziger Stadt­ge­schichte beach­tenswert ist; diese Reste einer gemau­erten Eisen­bahn­brücke gehörten zur Bahnhofs­zu­fahrt der berühmten Preußi­schen Ostbahn. Unmit­telbar nach der Fertig­stellung dieses Teilstücks traf hier am Nachmittag des 5. August 1852 König Friedrich Wilhelm IV. auf seiner Reise von Berlin über Dirschau im Danziger Kopfbahnhof ein. 

Nachdem 1900 der reprä­sen­tative Haupt­bahnhof errichtet worden war, nutzte im Wesent­lichen nur noch der Güter­verkehr diese Station. Durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges wurde sie jedoch 1945 in einer Zeit völker­recht­licher Willkür zum Schau­platz drama­ti­scher mensch­licher Schicksale: Einer­seits mussten von hier aus die deutschen Vertrie­benen ihre Heimat gen Westen verlassen, anderer­seits trafen ab September die ersten Züge mit Zwangs­um­siedlern aus den ehema­ligen polni­schen Ostge­bieten ein. An diese Ankunft gemahnt ein Gedenk­stein am Fuße der Bastion.

Sabrina Janesch erinnert sich an einen Spaziergang entlang der Eisen­bahn­gleise und der Wehran­lagen in Begleitung eines reputier­lichen Stadt­führers, dessen Anliegen es war, mit exempla­ri­schen Geschichten, Parabeln oder Anekdoten das Interesse für übergrei­fende histo­rische Zusam­men­hänge zu wecken und wachzu­halten: So hätte er von einem deutschen Soldaten erzählt, der zwischen den beiden Bastionen nahe dem Leegetor erschossen worden sei und dort begraben liege – und im Rauschen des Schilfes sei jetzt noch ein Flüstern und Wispern zu hören, das die Erinnerung an diese damaligen Gescheh­nisse nicht zur Ruhe kommen ließe.

Auch die Stadt­ver­waltung hat ihrer­seits offen­sichtlich großen Wert darauf gelegt, das Gebiet um die alte Stein­schleuse für histo­rische, aber vor allem auch ökolo­gische Erkun­dungen herzu­richten. Zahlreiche anschau­liche Tafeln geben weitrei­chende Erläu­te­rungen zur Natur‑, Stadt‑, Architektur- und Militär­ge­schichte; ergänzt werden sie mit persön­lichen Erleb­nis­be­richten von Zeitzeugen. Sinnfällig wird beispiels­weise das Schwimm­ver­gnügen der Kinder in der Nähe der Schleuse beschrieben, desgleichen die Lust, im Winter auf Schlitten und im Sommer mit Hilfe von Säcken ausge­lassen die Bastionen herun­ter­zu­rasen; oder die Zeitzeugen erzählen von der Aufregung, die sie empfanden, als sie in das Innere der noch nicht gesicherten Hügel mit ihren geheim­nis­vollen Gängen eindrangen, um vielleicht Munition oder zerbro­chene Gewehre für ihre Kriegs­spiele zu entdecken. 

An anderer Stelle wird auf den Zusam­menhang zwischen dem reichen Bestand an Weißdorn­sträu­chern und der Tatsache hinge­wiesen, dass dieses undurch­dring­liche stachelige Gewächs einst als natür­liches Bollwerk gegen feind­liche Angreifer höchst wirksam einge­setzt werden konnte. Vom Flug der Fleder­mäuse wird erzählt, wie sie über den nächt­lichen Stadt­graben schwirren, um Insekten zu fangen, und so als »Verbündete des Menschen« diese vor allzu vielen kleinen Plage­geistern zu bewahren. Ebenso lehrreich sind beispiels­weise die Ausfüh­rungen über den dicht bewach­senen Vegeta­ti­on­streifen am Ufer der Gewässer, der mit seinen unter­schied­lichen Schilf­arten, dem krautigen Kalmus, der anmutigen Schwa­nen­blume, die jetzt im Juni in zartem Rosa erblüht, mit der Gelben Schwert­lilie oder dem farben­frohen Knaben­kraut über alle Schönheit hinaus zugleich zahlreichen Vogel­arten Unter­schlupf, Schutz und Nistplätze bietet.

Will man das Gebiet um die alten Bastionen wieder verlassen, gesättigt mit Infor­ma­tionen, zugleich erfüllt von idylli­schen Natur­bildern sowie durch die wohltu­enden Ruhe gestärkt, empfiehlt es sich, zum Ausklang den Rückweg über den Wallplatz zu nehmen, einen Blick auf das Kleine Zeughaus und den mittel­al­ter­lichen Weißen Turm zu werfen und sich erst allmählich – vorbei an St. Peter und Paul und am Natio­nal­museum – wieder der Stadt und ihrem pulsie­renden Leben anzunähern. 

Text & Fotos: Ursula Enke