Zum Jubiläum eines komplexen Erinnerungsorts
Von Bartosz Skop
Das Schlossmuseum Marienburg – eines der größten und bedeutendsten polnischen Museen – ist am 1. Januar 1961 gegründet worden und begeht im laufenden Jahr somit sein 60. Jubiläum. Während dieser Jahre hat sich die Institution einen ausgezeichneten Ruf erworben. Sie verfügt über reiche Sammlungsbestände, erbringt vorbildliche konservatorische Leistungen und ist zu einem internationalen Forschungszentrum geworden.
Anscheinend entsteht die Marienburg – wie ein Phönix aus der Asche – immer wieder aufs Neue und bildet bis heute ein vitales Denkmal für die Geschichte des Landes an der unteren Weichsel. Dabei war es ein langer Weg, den dieses von mannigfachen militärischen wie ideologischen Auseinandersetzungen geprägte Bauwerk bis hin zum heute international renommierten Museum und Touristenmagneten zurückgelegt hat.
Das Schloss in der Nachkriegszeit
Am Ende des Weltkrieges galt die Stadt Marienburg mit ihren großen und wichtigen Nogat-Brücken als ein zentraler strategischer Punkt. Erste sowjetische Panzer erreichten die Stadtgrenze am 23. Januar 1945. Zunächst vollzogen sich die Kämpfe in der Stadtmitte, und danach konzentrierten sich die Gefechte auf das Terrain der Burg – bis die deutschen Truppen in der Nacht vom 9. auf den 10. März die Stadt verließen. (Andere Quellen datieren das Ende der Auseinandersetzungen erst auf den 17. März.) Die Folgen der militärischen Operationen waren verheerend, denn sowohl die Stadtmitte als auch das Schloss – insbesondere die Ostseite – lagen in Trümmern.
Zunächst war nicht klar, ob die Burg überhaupt wieder aufgebaut würde. Einige national gesinnte polnische Kreise vertraten die Meinung, dass dieses Bauwerk als Inbegriff der Ordensherrschaft und des preußischen Imperialismus und Militarismus abgebaut werden sollte und dass das dadurch gewonnene Baumaterial besser für die Wiedererrichtung der zerstörten polnischen Städte zu nutzen wäre.
Unabhängig von solchen Überlegungen stellte sich zuallererst die Aufgabe, die Burgruine zu sichern. Während der ersten zwei Monate nach der Besetzung durch die Rote Armee kümmerte sich niemand um das Schloss, so dass es viele Plünderer anlockte. Das Referat für Kultur und Kunst des neu gebildeten städtischen Kreisamts, das sich daraufhin um den Schutz der Bestände bemühen sollte, hatte zu wenige Mitarbeiter und konnte den Dieben keinen Einhalt gebieten. Deshalb wurde der Komplex am 22. August 1945 zur ersten Filiale des Museums der polnischen Armee in Warschau erklärt. Auf diese Weise gelangten bedeutende Kunstwerke in die polnische Hauptstadt und werden dort bis heute verwahrt. Da man sich inzwischen gegen den Abriss der Burg entschlossen hatte und sie primär als architektonisches Denkmal verstand, wurden auch erste Überlegungen zur Sanierung einzelner Partien angestellt.
1950 kam ein neuer Inhaber ins Spiel: die Polnische Gesellschaft für Touristik und Landeskunde, die den Wiederaufbau aber nicht zu fördern vermochte. Erst 1957, nachdem das Marienburger Komitee für den Wiederaufbau des Schlosses gebildet war und die Verantwortung übernommen hatte, wurden Sanierungsarbeiten in Angriff genommen. Zugleich rückte die Möglichkeit einer Museumsgründung in den Blick. Die Genehmigungsverfahren kamen in Warschau nur schleppend in Gang, beschleunigten sich aber, nachdem ein Brand in der Nacht vom 7. auf den 8. September 1959 die Dächer des Großen Remters und des Nordflügels im Mittelschloss beschädigt hatte. Im September 1960 erließ der Minister für Kultur und Kunst eine entsprechende Verordnung, durch die das Schlossmuseum zum 1. Januar 1961 konstituiert wurde.
Die Burg als museales Gebäude
Die Gründung des Museums förderte die Planung und Realisierung eines Wiederaufbaus. Bislang waren vor allem nur viele Tonnen Schutt entsorgt und – nicht zuletzt aufgrund der geringen Finanzmittel – kleinere Reparaturen ausgeführt worden. Ende der 1950er Jahre hatten sich dann polnische Konservatoren und Kunsthistoriker mit verschiedenen Konzeptionen eines Wiederaufbaus beschäftigt und waren zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangt, die von einer vollständigen Restaurierung bis zur Erhaltung des Schlosses als einer Halbruine zum Gedenken an die Tragödie des Zweiten Weltkrieges reichten. Begonnen wurde in dieser Phase auch schon konkret mit dem Wiederaufbau der St. Annenkapelle im Hochschloss, bei der die Mauern bis zur Etage der darüberliegenden Marienkirche hochgezogen wurden. Diese Arbeiten fanden in den Jahren 1966 und 1967 sowie in der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit der Wiederherstellung des Fenstermaßwerks und der Fenstergitter ihre Fortsetzung.
1966 wurde dann der Hauptturm wiedererrichtet. Im Kreis der Denkmalpfleger war zuvor debattiert worden, ob dabei möglicherweise auch die Renaissancebekrönung oder der Barockhelm aus der polnischen Zeit den Abschluss bilden könnten. Stattdessen entschied man sich aber für eine dem Mittelalter entsprechende Form, die von der Darstellung des vor 1488 entstandenen Gemäldes Die Belagerung der Marienburg aus dem Danziger Artushof abgeleitet wurde. In den Jahren von 1968 bis 1972 wurde neben dem Hochschloss, das vielfältige und langwierige Arbeiten erforderlich machte, auch der zerstörte Ostflügel des Mittelschlosses rekonstruiert. Dabei sollte durchaus Anerkennung finden, dass diese Maßnahmen trotz der wirtschaftlichen Probleme des real existierenden Sozialismus eine hohe Priorität erhielten und auch auf einem sehr respektablen Niveau durchgeführt worden sind.
In diesem Zusammenhang muss eigens Maciej Kilarski (1922–2003) hervorgehoben werden, der als Architekt, Kunsthistoriker, Denkmalpfleger und Museologe, aber auch als begabter Zeichner und Fotograf diese Vorgänge wesentlich vorangebracht und geprägt hat. Mit der Marienburg war er schon vor der Museumsgründung verbunden und wirkte hier späterhin bis 1991 (und sogar noch darüber hinaus) als Architekturkurator. Vom Juni bis zum August 1957 hat Maciej Kilarski im Auftrag des Denkmalpflegeamts in Danzig die Untersuchung und Beseitigung der Trümmer der Marienkirche und der St. Annenkapelle im Hochschloss geleitet und seitdem eine umfangreiche Sammlung von Architektur-Fragmenten angelegt und in einem mehrteiligen Lapidarium zusammengefasst. Zudem hat er in den Ruinen Kunstwerke wie die Figur Christi im Garten Gethsemane und wertvolle Ausstattungsstücke aufgespürt, bewahrt und fotografisch dokumentiert. Dabei bemühte er sich auch um die neugotischen Gestaltungselemente aus der Zeit von Conrad Steinbrecht (1849–1923), dessen Tätigkeit er insgesamt sehr schätzte und an dem er sich – was in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich war – bei seinen Arbeiten maßgeblich orientierte.
Nach der intensiven Zeit des Wiederaufbaus verlagerten sich die Aktivitäten ab den 1970er Jahren auf die Substanz-Erhaltung und Denkmalpflege. Freilich waren weiterhin umfangreiche Projekte zu bewältigen wie beispielsweise die Sanierung des Großen Remters. Die Problematik, dass sich vom Keller bis zum Dachboden Mauerrisse einstellten, war schon den deutschen Konservatoren des späteren 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt. Diese Schäden waren durch den Brand im Jahre 1959 nochmals verstärkt worden, und nun war nicht mehr ausgeschlossen, dass der Remter einstürzen könnte. Genaue Analysen ergaben, dass das Grundwasser abgesunken war und dadurch die Eichenpfähle, auf denen das Fundament ruht, austrockneten. Mit großem Aufwand und erheblichen Kosten gelang es einem schwedischen Unternehmen, den Grund durch spezielle Verfahren wieder zu stabilisieren. Diese Rettungsarbeiten dauerten bis 1997, und zehn Jahre später wurde dann auch die Restaurierung des Innenraums abgeschlossen.
Einen vorläufigen Schlusspunkt hinter diese Bemühungen setzte in den Jahren von 2014 bis 2016 die gründliche Restaurierung der St. Annenkapelle, des sogenannten Pfaffenturms und der Marienkirche, ein höchst aufwändiges und ambitioniertes Vorhaben, das eine großzügige finanzielle Unterstützung des Norwegischen Staatsfonds ermöglichte. In dieser Zeit wurde auch noch die legendäre, acht Meter hohe Skulptur der Mater Dei wiedererrichtet und mit etwa 350.000 Mosaik-Steinen ausgestaltet. 22 Jahre nachdem die Marienburg bereits in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden war, verheilte damit auch noch die letzte tiefe Wunde, die dem Bauwerk vom Krieg geschlagen worden war.
Ein „Leuchtturm“ der polnischen Museumslandschaft
Der Burgkomplex bildet für sich genommen schon ein Museum im weiteren Sinne und macht ein Management erforderlich, das jährlich Hunderttausenden von Menschen den Zugang gewährt und ihnen organisatorisch wie logistisch eine geordnete und von kompetenten Führern betreute Besichtigung ermöglicht. Dieses große Unternehmen, das den internationalen Publikumsmagneten „Marienburg“ als Welterbestätte vermarktet, zugleich aber schützt und nachhaltig bewahrt, hat allerdings ein weiteres, keinesfalls minder umfangreiches Aufgabenspektrum zu bewältigen, weil das Bauwerk seinerseits ein Museum im engeren Sinne beherbergt. Von dessen vielfältigen Arbeitsfeldern gibt die – auch auf Deutsch angebotene – Website zamek.malbork.pl einen hinlänglichen Eindruck. Besonderen Respekt flößt schon auf der Startseite die Entdeckung ein, dass das Museum nicht nur für das Deutschordensschloss zuständig ist, sondern zwei weitere Filialen, und zwar die Domburg Marienwerder (seit 1973) sowie (seit 2018) die Ordensburg Stuhm, verwaltet. Darüber hinaus zeigt beispielsweise die Chronik der jüngeren Sonderausstellungen, von denen in den 60 Jahren des Bestehens mehr als 300 veranstaltet worden sind, welche Fülle von Themen hier regelmäßig erarbeitet und anschaulich gemacht werden. Erinnert sei hier nur an das „Forschungs- und Ausstellungsprojekt“ zu den „Skulpturen des ‚Schönen Stils‘ in Preußenland“, das der Öffentlichkeit im Oktober des letzten Jahres zugänglich gemacht und ausführlich von Monika Czapska im Westpreußen (№ 1 / 2021) vorgestellt worden ist.
Von den weiteren Tätigkeitsfeldern sollen zunächst die insgesamt 21 Sammlungen, die das Schlossmuseum an den drei Standorten erschließt, aufbewahrt und präsentiert, angesprochen und an fünf Exempla charakterisiert werden:
- Mit Bernstein wurde im Land an der unteren Weichsel schon seit der Antike Handel getrieben, und er ist auch mit der Marienburg eng verbunden, weil der Deutsche Orden über das Monopol für die Förderung und den Verkauf verfügte. Die Geschichte der Bernsteinsammlung reicht allerdings nur einige Jahrzehnte zurück, denn sie begann erst mit der Gründung des Schlossmuseums. Sie besteht zum einen aus modernen Bernstein-Kunstwerken, zum anderen aber umfasst sie mittlerweile auch berühmte Zeugnisse aus früheren Jahrhunderten wie Stücke aus dem Besitz Stanisław August Poniatowskis (1732–1798), des letzten der polnischen Wahlkönige, oder Arbeiten der Danziger Meister Michael Redlin und Christoph Maucher aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
- Architektonische Fragmente sind im Laufe des langen Prozesses, in dem die Marienburg seit dem frühen 19. Jahrhundert rekonstruiert bzw. wiedererrichtet sowie restauriert wurde, bei den Arbeiten entdeckt, zusammengetragen und um Vergleichsstücke von anderen Bauwerken ergänzt worden waren. Diese Sammlung hat, wie schon erwähnt, Maciej Kilarski aus den Trümmern der 1945 zerstörten Gebäude geborgen, um neue Funde erweitert und in Lapidarien auf den Terrassen des Hochschlosses ausgestellt.
- Die umfangreiche Waffensammlung gehörte schon vor dem letzten Krieg zum Inventar des Museums. Sie umfasste 2.000 Exponate und bestand vornehmlich aus Stücken, die der Politiker sowie Kenner und Sammler Theodor Josef Blell (1827–1902) zusammengetragen hatte. 1945 wurden Teile der Kollektion zerstört oder vereinzelt. Nach der Gründung des Museums konnte aber auch dieser Bereich rekonstruiert bzw. neu aufgebaut werden. Heute zählen dazu etwa 800 Objekte, darunter z. B. inkrustierte Schwerter aus dem 14. Jahrhundert, eine kleine Kanone mit einem Abbild der Hl. Jungfrau oder Pallasche der polnisch-sächsischen Garde.
- Schon bei der ersten Restaurierung der Marienburg stellte sich das Bedürfnis ein, die wiedergewonnenen gotischen Räumlichkeiten durch zeitgenössische Artefakte zu beleben. Dafür boten sich Zeugnisse der Bildhauerkunst an wie beispielsweise Altarfiguren, deren ursprünglich sakraler Kontext nicht mehr bestand. So kam im Laufe der Zeit eine bedeutende Sammlung von Skulpturen aus unterschiedlichen Materialien zusammen, zu der als besondere Attraktion die um 1390 in einer böhmischen Werkstatt geschaffene (und schon erwähnte) Marmorfigur Christus im Garten Gethsemane zählt.
- Mit der neueren Baugeschichte der Marienburg hängen letztlich auch die Relikte der Glasmalereien zusammen, die seit dem 19. Jahrhundert für die Buntverglasung der Fensterflächen entstanden. Diese Sammlung umfasst Glaskunst, die auf Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel beruht, Arbeiten aus dem Königlichen Glasmalerei-Institut in Charlottenburg bei Berlin oder Werke von Franz Lauterbach und Johannes Haselberger. Darüber hinaus werden aber auch moderne Glasfenster – z. B. Reststücke aus der Verglasung des neuen Marienburger Rathauses – berücksichtigt.
Zusätzlich zu den Sammlungen gehören die wissenschaftlichen Aktivitäten zu den Merkmalen, die in besonderem Maße das Profil des Hauses prägen. Das Schlossmuseum gibt ein eigenes Periodikum, die Studia Zamkowe [Schloss-Studien], heraus und publiziert zu einzelnen Sonderausstellungen Kataloge, die nicht nur die Exponate abbilden und erschließen, sondern auch Forschungsbeiträge zu den jeweiligen Sujets bieten.
Kennzeichen der Verlagstätigkeiten sind zudem die ökologisch begründete Entscheidung, möglichst nur Recycling-Papier zu nutzen, sowie das Bemühen um eine besonders sorgfältige und ästhetisch gelungene Gestaltung der Veröffentlichungen – die jüngst sogar bei einem internationalen Wettbewerb mit einem Preis bedacht worden ist: Der Katalog zur Ausstellung Sapientia aedificavit sibi domum [Die Weisheit hat sich ein Haus errichtet], die 2019 das Ordensland Preußen thematisiert hat, wurde bei den DNA Paris Design Awards ausgezeichnet.
Ein neues wissenschaftliches Vorhaben, das vom Ministerium für Kultur, nationales Erbe und Sport gefördert wird, schlägt inzwischen einen Bogen zum Beginn der Restaurierungsarbeiten zurück: Das Projekt Straty [Verluste] fragt nach den Kunstwerken, Sammlungen und Ausstattungsstücken, die in den letzten Kriegstagen und in der Zeit danach verlorengegangen sind. Einer der ersten Schritte wurde mit einer Publikation vollzogen, in der Berichte der Schlossbau-Verwaltung aus der deutschen Zeit in polnischer Sprache veröffentlicht worden sind.
Das Schlossmuseum hat während des ganzen Jubiläumsjahres versucht, diesen Anlass trotz der Einschränkungen, die die Pandemie allen Institutionen und deren Interessenten auferlegt, mit einer Ausstellung festlich zu begehen: durch offizielle Feiern oder Veranstaltungen für und mit den jetzigen und früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – von denen einigen auch staatliche Ehrungen zuteilwurden –, durch eine Freilicht-Tafelausstellung zur nunmehr 60-jährigen Museumsgeschichte, durch die Prägung einer Erinnerungsmedaille, die von der Staatlichen Münze herausgegeben wird, oder durch die Eröffnung der neuen großen Sonderausstellung Regnum defendo ense et alis tego stricto [Ich verteidige das Königreich mit meinem gezogenen Schwert und bedecke es mit meinen Flügeln], die sich der langen, aber noch weitgehend unerforschten Phase zuwendet, in der die Marienburg während der Zeit des Königlichen Preußen als Residenz des polnischen Königs gedient hat.
Zu einem Jubiläum, das solch ein „Leuchtturm“ der polnischen Museumslandschaft begehen kann, gehören freilich nicht nur Retrospektiven, sondern auch ambitionierte Vorhaben, die den Bereich der Vorburg betreffen. Hier sollen die St. Lorenzkirche saniert und Wirtschaftsgebäude wiedererrichtet werden. Gerade das zweite dieser Projekte, das die Infrastruktur des gesamten Komplexes nochmals verändern wird, zeigt, dass die Marienburg schwerlich „fertig“ werden kann, sondern sich als work in progress auch in Zukunft noch dynamisch weiterentwickeln wird – und allemal, vergleichbar der Kölner Dombauhütte, einer stetigen und aufwändigen konservatorischen Betreuung bedarf.