Der so genannte Heilige Stein liegt in Ufernähe des Frischen Haffs ungefähr vier Kilometer von Tolkemit aus in Richtung Frauenburg. Etwa 30 Meter von der Küstenlinie entfernt, ragt der Findling aus dem Wasser. Sein Umfang beträgt schätzungsweise 14 Meter. Seit Jahrhunderten befruchtet dieser Stein die Phantasie der Menschen, und er ist für die Gegend derart charakteristisch, dass auch eine kleine, in der Nähe gelegene Siedlung (Święty Kamień) sowie eine Station der Haffuferbahn nach dem Findling benannt worden ist. Eine Reihe von Informationen zu diesem Naturdenkmal bietet der Kulturwissenschaftler Dariusz Barton in seiner Publikation Przewodnik krajoznawczy „z myszką“ po Wysoczyźnie Elbląskiej (1997). Nach seinen Forschungen war es Benedict Christian Hermann aus Elbing (1713–1759), der erstmals schriftlich festgehalten hat, welche uralten Mythen und Riten sich seit heidnischer Zeit an dieses Naturdenkmal geheftet hatten. Nach einer weit verbreiteten Auffassung diente der Stein als Altar, auf welchem dem prußischen Gott Curche Speiseopfer (hauptsächlich Fische) dargebracht wurden. Im Austausch sollte Curche die ausfahrenden Fischer in seine Obhut nehmen, ihnen wohlgesinnt sein und gutes Wetter schenken. Dieser Glaube wurde sicherlich durch die Gestalt des Steines unterstützt, die einer flachen Schüssel ähnelt. Die Überzeugung, dass der Heilige Stein als Kultstätte gedient hatte, trägt die Tatsache bei, dass in den 1930er Jahren die Elbinger Altertumsgesellschaft in der Nähe des Findlings Spuren einer neolithischen Siedlung entdeckte, die der Rzucewo-Kultur zugeordnet werden konnte. Ihr Name ist von demjenigen des in der Nähe von Putzig gelegenen Orts Rzucewo (Rutzau) abgeleitet, wo (u. a. von Hugo Wilhelm Conwentz) erstmals entsprechende Spuren gefunden worden waren. – Eine andere Sage, die sich eng mit dem Heiligen Stein verbunden hat, referiert beispielsweise Louis Passarge in seinen Studien und Bildern Aus Baltischen Landen (Glogau 1878, S. 87): In der Zeit, als Riesen die Erde bewohnten, „hauste einer derselben auf der Frischen Nehrung, ein zweiter am gegenüberliegenden Ufer des Frischen Haffs bei Tolkemit. Beide hatten nur ein Beil, welches sie sich zum Fällen des Holzes gegenseitig zuwarfen. Als einmal der auf der Nehrung Wohnende das Beil haben wollte, der Andere aber sich weigerte, es ihm zu geben, ergriff Jener den mächtigen Stein und warf nach Diesem. Der Stein glitt aber an dem Daumen um etwas ab, und so erreichte er nicht ganz das diesseitige Ufer.“ Dass diese Geschichte für viele Generationen plausibel war, lässt sich gerade heute gut nachvollziehen: Verschafft uns die Drohnen-Technologie doch erstmals die Möglichkeit, den Heiligen Stein auch aus der Perspektive jener Riesen wahrzunehmen – und derart das Machtvolle ihres Streits noch stärker nachzuempfinden.
Joanna Szkolnicka