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Der Holzmarkt in Danzig – Targ drzewny w Gdańsku, oder: Nationalisierung des städtischen Raumes

Teil I: Das Kriegerdenkmal (1904)

Von Katja Bernhardt

Eine Ansichtspostkarte in Bad Kreuznach

Im Mai 1904 kam in die Pension Ägir in Bad Kreuznach eine Postkarte geflattert, die die Empfän­gerin, »Frau Oberleutnant […]« – der Name wurde später geschwärzt –, gedanklich etwa eintausend Kilometer nach Nordosten versetzte; denn die Bildseite war mit einer Fotografie versehen, die ein feier­liches Geschehen zeigte. Eine Menge aus unzäh­ligen Menschen hatte sich auf einem Platz, auf Balkonen und Dächern der angren­zenden Häuser versammelt und strömte aus den zurück­lie­genden Straßen hinzu. Häuser, Platz und Straßen waren mit Girlanden und Fahnen geschmückt. Die Bildun­ter­schrift infor­miert, dass es sich um eine Aufnahme vom 8. Mai 1904 handelt, an dem in Danzig – es ist zu ergänzen: auf dem Holzmarkt – ein Krieger­denkmal enthüllt und Kränze zu Ehren gefal­lener Krieger nieder­gelegt worden seien. (Abb. 1) 

Tatsächlich stechen das Hell und die Form des Denkmals aus der dunklen Menschen­masse hervor. In der Unschärfe des Fotos lässt sich bereits seine Gestalt erahnen. Seine vertikale Achse bildet ein steil aufra­gender sechs­sei­tiger Pyrami­den­stumpf, der mit einer kleinen, flachen, sechs­sei­tigen Pyramide abgeschlossen wird. Die Assoziation mit einem Obelisken liegt nahe. Beim näheren Hinschauen ist zu erkennen, dass am Fuß des »Obelisken« an drei der sechs Seiten wuchtige Voluten ausgreifen, auf denen jeweils eine Figur ausge­streckt ist. Stadt­bau­in­spektor Richard Dähne (1875–1927) beschreibt diese in seinem Beitrag in »Danzig und seine Bauten« (1908) als einen »Jüngling, fast noch ein Knabe, mit langem Lockenhaar«, einen weiteren »Jüngling, der die Knabenzeit hinter sich hat und schon den Ernst des Lebens zu kennen scheint« und einen »Mann in der Blüte und Kraft der Jahre mit langem Barte«.1 Alle drei sind archaisch gekleidet, Schwerter und Helme lassen sie jedoch als Krieger erkennen. Die Figuren werden jeweils von einer Ädikula hinter­fangen, aus deren gesprengten Giebeln und einge­fasst von knorrigen Ästen leere Rüstungen und Waffen in den Stein geschlagen hervor­wachsen. Darüber sind über der Knaben­szene die Jahres­zahlen 1864, beim Jüngling 1866 und beim Mann 1870/71 in den »Obelisken« einge­meißelt. An den jeweils verblie­benen drei Seiten sind Löwen­köpfe angebracht, aus denen Wasser in ein Becken sprudelt. Letzteres übernimmt die Funktion eines Sockels, mit dem das Denkmal aus dem umgebenden Platz heraus­ge­hoben wird. Über den Löwen­köpfen schiebt sich, gleichsam aus der Tiefe kommend, jeweils ein Schiffsbug aus dem Obelisken hervor. (Abb. 2)

»Der Stadt­kreis Danzig und die Landkreise Danziger Höhe und Danziger Niederung« – so kann aus alledem geschlossen werden – wünschten, mit dem Denkmal der Kriege, die als deutsche Einigungs­kriege in die kollektive Erinnerung und die Geschichts­schreibung eingingen – des deutsch-dänischen Krieges von 1864 um Schleswig und Holstein, des sogenannten Deutschen Krieges, also der Ausein­an­der­setzung zwischen Preußen und Öster­reich um den Deutschen Bund von 1866, und des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 – und insbe­sondere »ihrer für das Vaterland gefal­lenen Söhne« zu gedenken.2

Welche Bedeutung aber dieser Erinnerung beigemessen wurde und welche Funktion sie zum gegebenen Zeitpunkt, 1904, am gegebenen Ort, Danzig, und für die in dieses Gedenken Einge­bun­denen und womöglich auch davon Ausge­schlos­senen zukam, ist damit noch nicht geklärt; denn Denkmäler sprechen selten für sich und nicht unbedingt eine eindeutige Sprache. Sei es, dass sie Orte ritueller kollek­tiver oder indivi­du­eller Erinnerung sind, mit der Zeit aus den Augen geraten oder womöglich schlag­artig in Frage gestellt und gar gestürzt werden; sei es, dass sie umgemodelt oder neu kontex­tua­li­siert werden – als Medien des Erinnerns, des Gedenkens, der Geschichts­deutung und der Macht­aus­übung sind Denkmäler unaus­weichlich Teil der konti­nu­ier­lichen gesell­schaft­lichen Verstän­digung respektive ihrer Konflikte. Damit ist der Sinn, den Denkmäler zu stiften vermögen bzw. stiften sollen, in seinem Wesen nicht nur histo­risch fragil und schon in ein und derselben Zeit in der Regel konflikt­reich. Vielmehr konsti­tu­ieren sich Bedeutung und Sinn eines Denkmals erst in dieser dynami­schen und perma­nenten Verstän­digung. Und so gehören die Prozesse und Praktiken, durch die Denkmäler hervor­ge­bracht werden und die sie selbst hervor­bringen, provo­zieren oder auch unter­binden, substan­tiell zum Denkmal dazu.3

Unsere Ansichts­karte (Abb. 1) war gleich auf mehreren Ebenen in diese Prozesse verwi­ckelt: Sie hielt die Enthül­lungs­feier und ihren räumlichen Kontext bildlich fest, als rasch gedruckte Karte verkündete sie zeitnah das Ereignis, wohin auch immer ein Absender sie versandte, und als Erinne­rungs­stück und nunmehr als Archiv­ge­gen­stand stellte (und stellt) sie sicher, dass bis auf die heutige Zeit ein Reflex dieser Ereig­nisse und des längst nicht mehr vorhan­denen Denkmals selbst in Erinnerung gebracht werden kann; schließlich führt sie ungewollt selbst den Prozess, in dem sie entstanden ist, vor.

Eine Allegorie auf die Nation

Die Karte legt zunächst also Zeugnis ab darüber, dass an einem Maitag 1904 unzählige Menschen zur Enthüllung des Krieger­denkmals zum Danziger Holzmarkt geeilt waren, die sich, dort angekommen, in mehreren Kreisen um das neue Denkmal formierten. Die Menge und die Ordnung, die die Organi­sation und Durch­führung der Enthül­lungs­feier generierten, lassen darauf schließen: Hier – zumal Jahrzehnte nach den kriege­ri­schen Ereig­nissen – ging es weniger um ein indivi­du­elles Trauern, das des einzelnen gefal­lenen Soldaten gedachte. Vielmehr ging es um einen zielge­rich­teten und choreo­gra­fierten Akt gesell­schaft­licher Sinnstiftung.

Die allego­rische Darstellung des Denkmals, die sich von unten nach oben aufbaut, ist der Resonanz­körper für den Erinne­rungsraum, der in diesem Geschehen evoziert wird. Die drei Krieger erscheinen dabei in ihrer archai­schen Ausstaf­fierung der histo­ri­schen Zeit enthoben. Die leeren Rüstungen und die Waffen über ihren Köpfen spielen mit ihren Formen hingegen auf vormo­derne Zeiten an. Es handelt sich um sogenannte Tropaia, die in der Antike am Ort des Sieges über den Feind aufge­stellt wurden und seitdem als Symbol in die Kriege­ri­ko­no­grafie einge­gangen sind. Hier in Danzig verweisen sie ebenso auf die besiegten Feinde vergan­gener Kämpfe, ohne diese genau zu bezeichnen. Darauf folgen mit den Jahres­ziffern die konkreten histo­ri­schen Ereig­nisse der jüngsten Geschichte. Der »Obelisk« nimmt diese imagi­native Bewegung in der Zeit auf und überführt den kurzen Moment konkreter Geschicht­lichkeit sogleich wieder in die zeitlose Aura des Ruhmes der Toten.⁴ Die Einigung des Deutschen Reiches, auf die mit den drei Kriegen angespielt wird, wird somit als Ereignis vorge­stellt, das sich, aus der unbestimmten Tiefe der Vergan­genheit kommend, in der Geschichte Stück für Stück materia­li­siert und in den drei Kriegen erfüllt habe, um schließlich wieder in zeitlose Verherr­li­chung überzu­gehen. Das Subjekt dieser Einigung versinn­bild­licht sich in den Figuren des Knaben, des Jünglings und des Mannes. In deren lebens­zeit­licher Aufein­an­der­folge wird der ­Einigung des Reiches eine von Natur her gegebene Reifung, eine innere Notwen­digkeit unter­stellt. Oder wie es Dähne zeitge­nös­sisch formu­lierte: »Diese drei Gestalten […] verkörpern das deutsche Volk und das deutsche Heer, wie es in den drei Feldzügen heran­reift und heran­wächst, die Größe der Gefahr, aber auch die Größe des Erfolges, die die Kriege von 1864, 1866 und 1870 brachten.«⁵ Die zutiefst irdische und histo­risch junge Idee des einen deutschen Volkes – der Nation, zu deren Ehre, Einigung und Vertei­digung die Soldaten gefallen seien – wird in dieser allego­ri­schen Deutung von Geschichte in das Zeitlose und Unhin­ter­gehbare transzendiert.

Ein Bekenntnis zum Reich

Diese Sinnschichten eröffnen sich erst in einer avancierten Analyse, vor allem da auf direkte ikono­gra­fische Verweise auf Reich und Nation verzichtet wurde. Inwiefern also vermit­telten sich diese Sinnschichten auch den Menschen, die da im Mai 1904 zur Denkmal­sent­hüllung zusam­men­ge­kommen waren? Vor welchen Wahrnehmungs- und Deutungs­ho­rizont wurde also das Denkmal platziert?

Schauen wir zunächst zu den Initia­toren der Denkmal­setzung. In dieser Rolle trat der Krieger­verein Borussia auf. Er war 1882 gegründet worden, ging jedoch in seiner Vorge­schichte auf die bewaff­neten Einheiten zurück, die in Reaktion auf Revolution und Aufstand 1848 als nationale Bürgerwehr gegründet worden waren. Die gesell­schaft­lichen Aufgaben, denen sich der Verein verpflichtet sah, waren die Fortsetzung kamerad­schaft­licher Bezie­hungen ehema­liger Militär­an­ge­hö­riger, die Beerdigung ehema­liger Vereins­mit­glieder sowie die Unter­stützung hinter­blie­bener Witwen und Waisen. An erster Stelle stand jedoch die »Pflege der Vater­lands­liebe«, und diese hatte im Verein program­ma­tisch ihren Bezugs­punkt im Deutschen Reich und der Monarchie.⁶

Hierin fand der Verein einen Resonanzraum bei den mit Entscheidungs- und Artiku­la­ti­ons­macht ausge­stat­teten städti­schen Eliten, die in den Jahrzehnten zuvor sukzessive eine grund­le­gende Neuaus­richtung des städti­schen Selbst­ver­ständ­nisses vollzogen hatten.⁷ Bereits im Januar 1871 hatten die Danziger Stadt­ver­ord­neten auf Initiative des Magis­trats eine Adresse an den neu gekrönten deutschen Kaiser verab­schiedet, in der sie der »Befrie­digung darüber« Ausdruck gaben, »dass Danzig endlich einem Deutschen Reich angehöre«. Mit den sogenannten Säcular­feiern, mit denen 1872 das einhun­dert­jährige Jubiläum der Annexion des ehemals könig­lichen Preußen durch das Preußische König­reich (noch ohne Danzig und Thorn) und 1893 das einhun­dert­jährige Jubiläum der Einglie­derung auch dieser beiden Städte in das König­reich begangen wurde, löste die nationale Deutung der Geschichte der Region und Danzigs die »lokale Abgeschie­denheit« des Danziger Selbst­ver­ständ­nisses ab. Dieses hatte noch bis in das 19. Jahrhundert hinein seinen identi­fi­ka­to­ri­schen Bezugs­punkt in der jahrhun­der­te­langen relativen Autonomie gefunden, die der Stadt im Polni­schen König­reich zugestanden worden war. Jetzt wurde die Integration Westpreußens samt seiner Haupt­stadt in das Deutsche Reich gefeiert; die Feier von 1893 habe sich, so Peter Oliver Loew in seiner grund­le­genden Studie zur Danziger Geschichts­kultur, schon ganz und gar als königs- und kaiser­treues Fest gestaltet. In eben diesem Sinne eines natio­nalen und reichs­deut­schen Bekennt­nisses fiel auch der »Deutsche Tag« aus, den der Ostmar­ken­verein 1902 in Danzig ausrichtete. So war es nur folge­richtig, dass der Zweite Bürger­meister von Danzig, Otto Trampe (1848–1911), sehr bald schon den Vorsitz und der Oberprä­sident der Provinz Westpreußen, Gustav von Goßler (1838–1902), den Ehren­vorsitz des eigens einbe­ru­fenen Komitees für die Errichtung des Krieger­denkmals übernahmen und die Stadt offenbar zu einem treibenden Akteur des Projektes wurde.

Während also die Feste vermutlich bereits wirksame Gelegen­heiten waren, in denen sich die Neuaus­richtung des Danziger Selbst­ver­ständ­nisses formte, artiku­lierte und in einer breiteren Menge der Bewohner veran­kerte, waren die Danziger seit 1897 darüber hinaus aufge­rufen, sei es als Privat­per­sonen oder sei es vermittelt über Vereine und Insti­tu­tionen, sich mit einer Spende zur Finan­zierung des Krieger­denkmals selbst zu dem so gedeu­teten Vaterland zu bekennen. Nach einem Vierteljahr waren im April 1897 bereits 11.200 Reichsmark zusam­men­ge­kommen. 1901 konnte das Denkmal­ko­mitee schließlich einen – sinnfällig auf »deutsche« Künstler beschränkten – Wettbewerb für den Entwurf des Denkmals ausloben und für die Reali­sierung 50.000 Reichsmark veran­schlagen. Der erste Preis ging an Christian Behrens (1852–1905), Professor für Bildhauerei am Schle­si­schen Museum für Bildende Künste in Breslau. Damit war nicht nur eine promi­nente Person gewonnen, sondern es wurde, da Behrens zu dieser Zeit auch mit der Arbeit an Skulp­turen des Völker­schlacht­denkmals in Leipzig beschäftigt war, zugleich ein Bezug zu einem anderen natio­nalen Denkmal­projekt herge­stellt und damit gleichsam ein virtu­eller Bezugsraum evoziert.⁸

Die Denkmalin­itiative, der Spenden­aufruf, die Sammlung der Gelder, das Denkmal­ko­mitee, der Wettbewerb, all die Berichte darüber in der Presse und schließlich die Enthül­lungs­feier und deren mediale Reprä­sen­tation machten die Denkmal­setzung dabei zu einem mehrjäh­rigen Ereignis, das sich unmit­telbar mit der offen­siven Selbst­po­si­tio­nierung der Stadt als Haupt­stadt einer preußi­schen Provinz im Deutschen Reich verschränkte. Ein Ereignis, mit dem das indivi­duelle Gedenken an die Gefal­lenen und die Erinnerung der Kriegs­ve­te­ranen – vermutlich also für den Einzelnen bzw. die Einzelne bereits gut nachvoll­ziehbar – auf die Reichsidee, damit auf einen höheren Sinn bezogen und einge­schworen wurde; das indivi­duelle Toten­ge­denken wurde in diesem Sinne politisiert.⁹ Dass dabei die sugge­rierte Egali­sierung des Einzelnen in der Gemein­schaft der deutschen Nation eine Illusion war, macht allein schon die ringförmige Ordnung der zur Enthüllung zum Danziger Holzmarkt geeilten Menge deutlich, wie sie anschaulich auf der Bildseite unserer Ansichts­karte dokumen­tiert ist. Sie bestimmte darüber, wer im Zentrum des Geschehens stand, womöglich dieses mitbe­stimmte und mit Sprech­gewalt ausge­stattet war und wer lediglich als Teil der Masse der Veran­staltung Eindrück­lichkeit verlieh.

War also dieses Ereignis sowohl Ausdruck wie auch Faktor einer Natio­na­li­sierung der Danziger, die sich als deutsch begriffen, so war die Denkmals­setzung, gewis­ser­maßen in umgekehrter, extro­ver­tierter Perspektive, Teil einer ganzen Welle von ähnlichen Denkmalin­itia­tiven, die das Reich einige Jahre zuvor erfasst hatte und seitdem mit unzäh­ligen Denkmalen überzog. Das Krieger­denkmal auf dem Holzmarkt schwor also nicht nur die Danziger Bürger auf die Reichsidee ein, sondern es war zugleich ein gezielter Akt, mit dem sich die Stadt offensiv und dauerhaft sichtbar zum Reich bekannte. Es war damit Teil eines wirkkräf­tigen Imagi­na­ti­ons­raums, in dem die Nation als Ganzes vorge­stellt wurde, und es veran­kerte diese Imagi­nation am Ort in Danzig – physisch mit dem Denkmal am Platz und symbo­lisch mit den Schiffs­bugen und dem Wasser, das das Denkmal umspülte. Jede Stadt solle sich ein solches »memento« erschaffen, forderte Fritz Abshoff in dem großfor­ma­tigen Band »Deutsch­lands Ruhm und Stolz« (ca. 1904), mit dem diese »hervor­ra­gendsten vater­län­di­schen Denkmäler in Wort und Bild« vorge­stellt und die »Helden­führer und Helden­söhne«, die »zur Entstehung, Größe und Wieder­errichtung des Deutschen Reiches den Grund­stein« gelegt hätten, gefeiert wurden. Danzig konnte sich rühmen, hierin schon mit seinem Krieger­denkmal aufge­nommen worden zu sein.10

Ein Abbruch mit Folgen

Die Stadt konnte sich gar rühmen, mit noch einem zweiten, nicht weniger opulenten Denkmal, dem Kaiser-­Wilhelm-Denkmal, in diesem Band vertreten zu sein. Das bronzene Reiter­standbild, das vom Berliner Bildhauer Eugen Boermel (1858–1932) geschaffen worden war, war nur ein Jahr zuvor westlich vor dem Hohen Tor aufge­stellt worden.11 (Abb. 7) Es wurde damit nicht nur demons­trativ an den Beginn des sogenannten Königs­weges positio­niert, auf dem die polni­schen Könige einst Einzug in die Stadt gehalten hatten, sondern es besetzte ebenso den westlichen Rand vor der alten Stadt, wo das neue Danzig seinen Schau­platz hatte.

Auch von diesen Verän­de­rungen legt unsere Ansichts­karte Zeugnis ab; denn sie zeigt nicht nur das Ereignis der Enthüllung des Krieger­denkmals, sondern ist auch eine Moment­auf­nahme des Danziger Holzmarktes. (Abb. 1) Richtet man also die Aufmerk­samkeit darauf, wird man gewahr, dass hinter dem Denkmal ein erst kürzlich erbautes Wohn- und Geschäftshaus, einge­hüllt in reichlich Dekor der Neore­nais­sance, über die Dachlinie der umgebenden Häuser hinausragt. Auf der gegen­über­lie­genden Straßenecke wächst hinter einem Baugerüst bereits das nächste moderne Geschäftshaus empor, und bald schon würde sich ihm da, wo auf unserer Karte der dreige­schossige, weiß verputzte Bau mit dem Ecktürmchen zu sehen ist, ein weiteres Büro- und Kaufhaus anschließen. (Abb. 4) Ganz offenbar war etwas am Platz in Bewegung geraten. 

Einst war der offene Platz des Holzmarktes in einem Winkel vor den Toren der Alt- und der Recht­stadt gelegen und später mit dem Bau der frühneu­zeit­lichen Festungs­an­lagen in die Stadt einge­schlossen worden. (Abb. 3) Er lag gut, denn er war von der Alt- und der Recht­stadt hervor­ragend zu erreichen. Jedoch führte der Weg über den Platz gen Westen noch bis kurz vor die Jahrhun­dert­wende lediglich auf den Wallgang der Festungs­an­lagen. Diese Situation änderte sich grund­legend mit dem Abriss derselben. Damit wurde 1895 offiziell begonnen, und an der Stelle der Wälle und Gräben, die die Stadt an ihrem westlichen Rand umfangen hatten, wurden nun Boule­vards angelegt – der Elisabeth‑, der Dominiks‑, der Karren- und der Wiebewall. Wer nun – ob über den neuen Elisa­be­thwall oder die altstäd­tische Töpfer­gasse – vom neuen, auf die Stadt­seite verlegten Haupt­bahnhof (fertig­ge­stellt: 1900) in Richtung Stadt strebte, kreuzte fast zwangs­läufig den Holzmarkt.

Vermutlich noch wichtiger für dessen neue Lage in der Stadt war ein breiter Durch­bruch in Ost-West-Richtung, der durch die Nieder­legung der Festungs­an­lagen möglich geworden war und der nun über den Holzmarkt hinweg die entfestete alte Stadt mit dem westlich gelegenen Neugarten verband.12 Dort aber war bereits seit der Mitte des 19. Jahrhun­derts und forciert nach der Begründung der Provinz Westpreußen und der Ernennung Danzigs zu deren Haupt­stadt 1878 etwa mit dem Dienst­ge­bäude des Oberprä­si­denten (fertig­ge­stellt: 1886) und der Provin­zi­al­ver­waltung und dem Landeshaus (fertig­ge­stellt: 1883) ein Regierungs- und Verwal­tungs­viertel im Entstehen. Es würde bald schon um das Land- und Amtsge­richts­ge­bäude (fertig­ge­stellt: 1910) erweitert werden.13 Die Stadt­pläne von 1886 und 1906 (Abb. 5 und 6) – hier im Ausschnitt – führen die einschnei­denden räumlichen Verän­de­rungen anschaulich vor.14

Ein Dreieck der Macht

Der Holzmarkt wurde so zu einem Verkehrs­kno­ten­punkt, und er wandelte sich im Zuge all dessen und gemeinsam mit dem westlichen Rand der Stadt zu einem neuen urbanen Zentrum mit Hotels, Restau­rants, Geschäfts- und Waren­häusern und Verwal­tungs­bauten. Während das Kaiser-Wilhelm-Denkmal nicht nur in der Achse des ehema­ligen Königs­weges, sondern ebenso in die Flucht des neuen Dominiks­walls positio­niert wurde (Abb. 7), stand ganz in der Nähe das Krieger­denkmal in der verlän­gerten Achse des Neugartens. Und so bildete das Denkmal mit seiner Huldigung der »Einigungs­kriege« als Vollzug natio­naler Selbst­werdung des deutschen Volkes mit den Bauten für die Regierung und Verwaltung der Provinz am Neugarten und dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal als Reprä­sen­tation monar­chi­scher Macht ein sinnbild­liches Dreieck, in dem Reich, Provinz und die vorgeblich willige Selbst­auf­op­ferung des Volkes in wechsel­sei­tigen Bezug zuein­an­der­ge­setzt waren und sich sinnfällig ergänzten.

Hier, am Rande der alten Stadt – in Neu-Danzig –, etablierte sich also das neue Macht­gefüge, in dem sich Danzig als Haupt­stadt einer Provinz im König­reich Preußen und als ein integraler Teil des Deutschen Reichs, als deutscher Natio­nal­staat und als Monarchie, verortete. Dieses Macht­gefüge etablierte sich physisch im städti­schen Raum ebenso wie dessen ideolo­gische Deutung und Sendung den Stadtraum auf einer symbo­li­schen Ebene einnahm. Dieses neue Danzig stand zum alten Danzig notwen­di­ger­weise in einer spannungs­reichen Beziehung – stadt­räumlich gleicher­maßen wie in einem übertra­genen Sinne, denn das neue städtische Bewusstsein bildete den Fixpunkt, von dem aus die Danziger Vergan­genheit reinter­pre­tiert wurde. Die Rückpro­jektion des national deutschen Selbst­ver­ständ­nisses auf die Historie brachte ein einseitig überhöhtes Narrativ hervor, das der Vielschich­tigkeit der Geschichte der Stadt nicht gerecht werden konnte und das zunehmend mit der »Beschwörung polni­scher Gefahren« verkoppelt war.15 Beides, das Geschichts­nar­rativ, das ob seiner Exklu­si­vität über kurz oder lang revidiert werden würde, wie auch die antipol­nische Rhetorik, gewis­ser­maßen als unsichtbare Kehrseite der Einschwörung der Danziger auf die Einheit der deutschen Nation, lagerten sich diskursiv an das Krieger­denkmal auf dem Holzmarkt an.

In dem Moment, in dem der von Deutschland angezet­telte Krieg 1945 auf die Stadt zurück­schlug und den fliehenden Deutschen Polen nachrückten, die die Stadt einnahmen, mussten diese Sinnschichten in einem nunmehr grund­legend verän­derten Resonanzraum einen gewal­tigen Misston erzeugen. Sinnschichten, die sich im dynami­schen Inein­an­der­greifen von Ikono­grafie, Erinne­rungs­praxis und symbo­li­scher Macht­re­prä­sen­tation gebildet hatten, die über die Jahre zwar modifi­ziert worden waren, immer aber ihren zentralen Bezugs­punkt im Deutschen Reich und in einer exklusiv natio­nalen deutschen Deutung der Stadt hatten. Vor diesem Hinter­grund und mit Blick auf den Konflikt um die Freie Stadt Danzig sowie auf die Erfah­rungen, die die Bürger der Polni­schen Republik in der Zeit der Besetzung durch das natio­nal­so­zia­lis­tische Deutschland machen mussten, ist die Entscheidung der Miejska Rada Narodowa, des polni­schen Natio­nalen Stadt­rates, vom 9. Juli 1946 zu verorten, mit der der Abriss des Denkmals beschlossen wurde. Er erfolgte nur einige Tage später, am 1. August.

Der zweite Teil dieses Beitrags erscheint in der nachfol­genden Ausgabe 2/2024.


  1. R[ichard] Dähne: »Denkmäler, Brunnen usw.«, in: Danzig und seine Bauten, hrsg. v. Westpreu­ßi­scher Architekten- und Ingenieur-Verein zu Danzig, Berlin 1908, S. 429–432, hier: S. 430f.
  2. Die Widmung auf dem Denkmal lautete: »Der Stadt­kreis Danzig und die Landkreise Danziger Höhe und Danziger Niederung dem Andenken ihrer für das Vaterland gefal­lenen Söhne«.
  3. Siehe dazu grund­legend die Einleitung in: Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frank­reich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995 (Kritische Studien zur Geschichts­wis­sen­schaft, 108).
  4. Zur Ikono­grafie des Obelisken: Lexikon der Kunst. Archi­tektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Indus­trie­form­ge­staltung, Kunst­theorie, Bd. V: Mosb‑Q, hrsg. v. Harald Olbrich u.a., Leipzig 1993, S. 245f.
  5. Dähne, »Denkmäler« (wie Anm. 1), S. 431.
  6. Kurzer Abriß der Geschichte des Krieger-Vereins »Borussia« in Danzig in den ersten 25 Jahren seines Bestehens. Eine Gabe zum Jubel­feste, Danzig, den 18. Januar 1908, Zitat: S. 10.
  7. Grund­legend zur Verän­derung des geschicht­lichen Selbst­ver­ständ­nisses Danzigs: Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergan­genheit 1793–1997. Die Geschichts­kultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück 2003, S. 145–218, hier insbe­sondere: S. 145–154 (Einzel­ver­öf­fent­li­chungen des Deutschen Histo­ri­schen Instituts Warschau, 9). Die Zitate in diesem Absatz sind dieser Publi­kation entnommen: Ebd., S. 145 und 148.
  8. »Danziger Krieger­denkmal […]«, in: Danziger Neueste Nachrichten, Nr. 98 vom 28. April 1897; zur Auslobung: Danzig […], in: Kunst für Alle, 16 (1900/1901), H. 11, S. 272; Bernhard Arke: Danzigs Kriegs­denk­mäler, Danzig 1908; Kurzer Abriß (wie Anm. 6), S. 35f.; Loew, Danzig und seine Vergan­genheit (wie Anm. 7), S. 181 und 480.
  9. Zur Frage des politi­schen Toten­ge­denkens siehe insbe­sondere die Schriften Reinhard Kosellecks.
  10. Deutsch­lands Ruhm und Stolz. Unsere hervor­ra­gendsten vater­län­di­schen Denkmäler in Wort und Bild, u. Mitwirkung v. zahlreichen Behörden, Vereinen und Vater­lands­freunden bearb. und redig. v. Fritz Abshoff, Berlin o.J. [ca. 1902], S. 76.
  11. Ebd.; zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal außerdem: Loew, Danzig und seine Vergan­genheit (wie Anm. 7), S. 167 und 480; Jacek Friedrich: Walka obrazów. Przedsta­wienia wobec idei w Wolnym Mieście Gdańsku [Der Kampf der Bilder. Vorstel­lungen der Idee der Freien Stadt Danzig], Gdańsk 2018, S. 91–99.
  12. Richard Bertlings Großer Plan von Danzig, 1886; Plan von Danzig, Kafemann, 1906.
  13. Siehe dazu das Kapitel »Hochbauten/A. Verwal­tungs­bauten«, in: Danzig und seine Bauten, hrsg. v. Westpreu­ßi­scher Architekten- und Ingenieur-Verein zu Danzig, Berlin 1908, S. 107–143.
  14. Wiesław Grusz­kowski: »Rozwój przestrzenny [Die räumliche Entwicklung]«, in: Historia Gdańska [Geschichte Danzigs], Bd. IV/1: 1815–1920, hrsg. v. Edmund Cieślak, Sopot 1998, S. 250–267; zum Prozess der Entfestung: Małgorzata Omila­nowska: »Defor­ty­fi­kacja Gdańska na tle przekstałceń miast niemieckich w XIX wieku [Die Entfestung Danzigs vor dem Hinter­grund der Umgestal­tungen deutscher Städte im 19. Jahrhundert]«, in: Biuletyn Historii Sztuki, 72 (2010), H. 3, S. 293–334.
  15. Loew, Danzig und seine Vergan­genheit (wie Anm. 7), S. 167.