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»Beiträge zur Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen«

Neuerscheinung spannt einen weiten historischen Bogen

Das lange Zeit von der Beauf­tragten der Bundes­re­gierung für Kultur und Medien geför­derte Forschungs­projekt zur Deutschen Musik­kultur im östlichen Europa publi­ziert seine Arbeits­er­geb­nisse in einer Reihe von »Berichten«, die jetzt nach einer mehrjäh­rigen Pause fortge­setzt wird. Als vierter Band war 2012 eine Aufsatz­sammlung erschienen, in der prinzi­pielle Fragen disku­tiert werden. Nun hingegen richtet sich der Blick auf einen konkreten histo­ri­schen Zusam­menhang :  Die Musik und Musik­kultur Danzigs und Westpreußens. Dieses Feld bietet reiche Möglich­keiten, die Problem­schichten einer »Deutschen Musik­kultur im östlichen Europa« zu thema­ti­sieren :  »Westpreußen« lässt sich in weit gerin­gerem Maße als die anderen ehema­ligen preußi­schen Provinzen als in sich geschlos­senes Siedlungs­gebiet verstehen. Das Land an der unteren Weichsel bildet damit einen Modellfall einer nicht hinter­geh­baren Inter­kul­tu­ra­lität, die sich exempla­risch in wechsel­haften histo­ri­schen Konstel­la­tionen ausge­prägt und zur Formierung diver­genter Praktiken und Diskurs­muster geführt hat.

In seiner Einführung erläutert der Heraus­geber anhand der deutschen und polni­schen Perspek­tiven, dass die jewei­ligen natio­nalen Narrative, die sich mit der histo­ri­schen Entwicklung der Region beschäf­tigen, kaum mitein­ander kompa­tibel sein können. Aus dieser Einsicht gewinnt die Konzeption des Bandes wichtige Impulse. Ihr liegt die leitende Frage nach der »deutschen Musik­kultur im östlichen Europa« zwar weiterhin zugrunde :  Neben der stets als eigen­ständig betrach­teten Einheit ›Danzig‹ wird weiterhin von »Westpreußen« gesprochen. Zugleich aber werden die musik‑, kultur‑, sozial- oder ideolo­gie­ge­schicht­lichen Zusam­men­hänge auch unter dem Aspekt der deutsch-­polnischen Bezie­hungs­ge­schichte diskutiert.

Der weitge­spannte histo­rische Bogen, der mit der Musik im Deutschen Orden einsetzt, reicht bis in die Gegenwart, bis zur Musik­pflege der lands­mann­schaft­lichen Verei­ni­gungen und der heutigen deutschen Minderheit in Polen. Erhöht wird die Vielfäl­tigkeit der Themen zudem durch das fruchtbare Bemühen, neben Kompo­si­tionen – in schrift­licher Form vorlie­genden »Werken« – verstärkt auf die lebendige, verschiedene Lebens­be­reiche umfas­sende Musik­kultur einzu­gehen :  Der Instru­men­tenbau oder folklo­ris­tische Praktiken finden ebenso Berück­sich­tigung wie die vielfäl­tigen Phänomene des Laien­mu­si­zierens, insbe­sondere bei den Sänger­ver­ei­ni­gungen. Gerade in diesem Kontext werden dann auch politische Dimen­sionen sowie ideolo­gische Funktio­na­li­sie­rungen innerhalb der natio­nalen, ethni­schen, konfes­sio­nellen und nicht zuletzt sprach­lichen Konflikte greifbar, die vom Kaiser­reich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Haupt­kenn­zeichen »Westpreußens« gehören.

Insgesamt 20 Beiträge mit wechselndem metho­di­schem Zuschnitt sind den histo­ri­schen Phasen bis zum Ende des 19. Jahrhun­derts bzw. der Entwicklung innerhalb des »zerklüf­teten 20. Jahrhun­derts« gewidmet. Diese beiden Haupt­teile umrahmen ihrer­seits zwei aufschluss­reiche kultur­wis­sen­schaft­liche Studien :  Die eine erschließt das Spannungs­ver­hältnis von »Provinz«, »Heimat« und »Nation« von der Warte der Kunst­ge­schichte aus, die andere spürt in Bezug auf Danzig den spezi­fi­schen Klang-Qualitäten dieser Stadt, ihrer »Sound­scape«, nach. Einge­leitet wird die Aufsatz­folge von grund­le­genden Beobach­tungen zur dialek­ti­schen Verschränkung von deutscher und polni­scher Histo­rio­graphie sowie zu den Aussichten, nach den Konflikten der vergan­genen Jahrhun­derte zu Formen einer gemein­samen Erinnerung zu gelangen. Am Ende des Bandes finden sich letztlich in einer »musik­eth­no­gra­phi­schen Coda« zwei Beiträge, die sich eigens mit der kaschu­bi­schen Volks­musik beschäftigen.

Dieser äußerst lesens­werte Band eröffnet somit mannig­fache Perspek­tiven auf die Musik- und Kultur­ge­schichte des Landes an der unteren Weichsel, bietet ein regel­rechtes Kompendium einschlä­giger Forschungs­fragen und lädt Wissen­schaftler und Wissen­schaft­le­rinnen jenseits wie diesseits der Oder zu weiter­füh­renden Diskus­sionen ein. Die binationale deutsch-polnische Zielrichtung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass jeder »Zusam­men­fassung« stets ein »Streszc­zenie« an die Seite gestellt worden ist ;  und schließlich werden die Leserinnen und Leser es als hilfreich empfinden, dass der Band nicht nur über ein Perso­nen­ver­zeichnis, sondern auch über ein Ortsre­gister verfügt :  es bietet die Chance, dass der inter­kul­tu­relle Dialog auch bei der geogra­phi­schen Orien­tierung nicht durch Sprach­bar­rieren behindert wird.

Bettina Schlüter