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Am Ende der Vielfalt?

Buchvorstellung: »Minderheiten« – das Jahrbuch Polen 2016 des Deutschen Polen-Instituts

Ein Titel wie »Minder­heiten« erweckt spontane Aufmerk­sam­keit bei allen, die sich genauer mit der Situation von Deutschen im jewei­ligen eigenen Heimat­gebiet beschäf­tigen möchten und deshalb hoffen, dass dieser Bereich in solch einer Publi­kation möglichst ausführlich berück­sichtigt wird. Diese Erwar­tungen werden zwar, was gleich voraus­ge­nommen sei, speziell für Westpreußen kaum disku­tiert;  statt­dessen aber überrascht dieser Band mit einer Fülle von Infor­ma­tionen, Aspekten und Materialien, die die vorherige, einge­schränkte Frage­stellung vor einen deutlich erwei­terten Horizont rückt.

Das Jahrbuch verfolgt das Ziel, »sich mit histo­ri­schen wie gegen­wär­tigen Entwick­lungen der in Polen ansäs­sigen Minder­hei­ten­gruppen, ­-struk­turen und ‑identi­täten« (S. 5) ausein­an­der­zu­setzen. Dieses Konzept umfasst selbst­verständ­licher Weise das deutsch-polnische Verhältnis – schließlich bilden Deutsche die größte Gruppe aller natio­nalen und ethni­schen Minder­heiten –, zugleich werden nun aber auch »die anderen« sichtbar :  nicht nur Weißrussen oder Ukra­iner, sondern auch Tataren, Roma, Armenier oder Karäer. Dies führt zu einer äußerst heilsamen Kontex­tua­li­sierung der eigenen Problemstellungen.

Darüber hinaus wird von Beginn an deutlich, welche massiven Verän­de­rungen – wiederum jenseits der gewiss kompli­zierten deutsch-polnischen Verflech­tungen – der »Verlust« auch der anderen Minder­heiten für Polen selbst bedeutet. Dieses Land ist, wie Hans-Jürgen Bömelburg in seinem profunden Beitrag über »Polens plurales und multi­kul­tu­relles Erbe« (S. 7–17) feststellt, »nach 1945 und spätestens seit den 1960er-/70er-Jahren ein kulturell und sprachlich homogener Natio­nal­staat mit über 98 Prozent ethnisch und sprachlich polni­scher Bevöl­kerung. Tatsäch­liche Minder­heiten – sieht man einmal von der innen­po­li­tisch umstrit­tenen Region Oberschlesien ab – bewegen sich im Promil­le­be­reich« (S. 7). Diese Entwicklung kann nicht folgenlos bleiben, weil die »Rzecz­pos­polita« doch immerhin »wohl das eindrucks­vollste europäische Beispiel für einen multi­eth­ni­schen und multi­kul­tu­rellen Staat« (ebd.) bildete. Angesichts dieser perspek­ti­vi­schen Verengung, die sich nicht zuletzt in der aktuellen Debatte um eine Betei­ligung Polens an der europäi­schen Flücht­lings­po­litik nieder­schlägt, sieht Bömelburg die Intel­lek­tu­ellen in der Pflicht, das Erbe Polen-Litauens wieder als Chance zu begreifen und es »gegen die Propa­gandisten einer ›ethni­schen Reinheit‹ und einer religiösen Intoleranz in Stellung zu bringen« (S. 16).

Dass das Spannungs­ver­hältnis zwischen Polen und seinen Minder­heiten wichtige Einsichten in die politi­schen und gesell­schaft­lichen Struk­turen unseres östlichen Nachbarn gewährt, belegt ebenso die brillante Analyse des Sozio­logen und Kultur­wis­sen­schaftlers Jan Sowa, der dem »einsamen Lebens­gefühl« nachgeht (S. 39–47), das er auch ausdrücklich auf »das Fehlen von Minder­heiten« (S. 41) zurück­führt. Die Polen selbst entwi­ckeln sich für ihn »zu einer sonder­baren Minderheit, die – in der Erinnerung an die eigene Vergan­genheit der modernen Welt entrückt – sich zunehmend schlechter mit anderen Nationen versteht« (S. 45).

Durch solche überzeu­genden kriti­schen Ansätze angeleitet, vermag der Leser sich auf den Weg durch viele weitere anregende Beiträge zu machen. Er findet eine diffe­ren­zierte Übersicht über die Minderheiten-Gruppen sowie Basis-­Informationen zur staat­lichen Minderheiten­politik ;  disku­tiert werden die Problem­lagen bei Deutschen, Juden, Weißrussen, Oberschle­siern und Roma, aber auch die Polonia – von Deutschland über die balti­schen Länder bis zu den Nachfol­ge­staaten der Sowjet-Union (Weißrussland, Ukraine, Russland und Kasachstan) – findet ausführ­liche Berück­sich­tigung. Hervor­ge­hoben zu werden verdienen nicht zuletzt die Beiträge von Matthias Kneip, der sich bei einer »Reise in Ost­polen« auf eine faszi­nie­rende Suche nach den Spuren der Lemken, Bojken, Weißrussen, Tataren oder Litauer gemacht hat.

Den Eindruck, mit Hilfe dieser höchst gelun­genen Publi­kation eine regel­rechte Entde­ckungs­fahrt durch ein kaum erschlos­senes, für die Entwicklung eigener Sicht­weisen aber höchst bedeut­sames Feld machen zu können, verstärkt letztlich auch die Struktur dieses Bandes :  Sie ähnelt einem Hypertext, der durch unter­schied­liche Kompo­nenten – von Darle­gungen über Inter­views oder Streit­ge­spräche bis zu (oft unkom­men­tierten) Abbil­dungen und einge­blen­deten Info-Boxen – dem Leser Möglich­keiten eröffnet, sich die Zusam­men­hänge aktiv und nach eigenen Gesichts­punkten bzw. Inter­essen zu erschließen.

Erik Fischer