Ein Aufriss
Von Michael K. Schulz
Die Vergangenheit jüdischen Lebens in Deutschland lässt sich anhand verschiedener Narrative darstellen. Je nachdem, ob wir Juden als ein Volk, eine Nation, eine Kultur oder eine Religions- bzw. Schicksalsgemeinschaft verstehen, richten wir unterschiedlich große Aufmerksamkeit auf spezielle Aspekte wie Tradition, Sprache, kollektive Identität oder politische Orientierungen. Ähnlich wie für andere in der Diaspora (Galut) lebende jüdische Gemeinschaften bietet es sich auch für jene in Westpreußen an, ihre Geschichte maßgeblich als die einer religiös-ethnischen Minderheit aufzufassen, die – abhängig vom sozialpolitischen Kontext – mehr oder weniger große Entfaltungsmöglichkeiten genoss.
Bei der Beschreibung historischer Prozesse und Ereignisse ist es dringend angeraten, ein möglichst vielperspektivisches Bild zu zeichnen. Um dieses Ziel im Folgenden zu erreichen, werden die wichtigsten Aspekte jüdischen Lebens in Westpreußen während der Zeitspanne von 1772 bis 1918 in drei Blöcken dargestellt.
- Erstens, das Verhältnis des Staates zu den Juden. Wie wurde ihr Status offiziell definiert? Was unterschied sie von ihren nichtjüdischen Nachbarn? Was wurde ihnen erlaubt und was verboten?
- Zweitens, das innerjüdische Leben, insbesondere das Judentum als eine Kultur und Religion, das Gemeindeleben und jüdische Identitäten. Welche ideellen Entwicklungen gab es dabei? Wie organisierten sich die Juden und wie normierten sie Verhaltensregeln untereinander?
- Drittens, soziale Beziehungen zwischen jüdischer Minderheit und Mehrheitsgesellschaft. Dabei stellt sich zunächst die Frage, in welchen Zusammenhängen die Kontakte überhaupt stattfanden: im Berufsleben, im öffentlichen oder privaten Raum? Wie intensiv waren diese Beziehungen und was prägte sie am stärksten, etwa gegenseitige wirtschaftliche Interessen, antijüdische Ressentiments oder Desinteresse?
Auch wenn einigen dieser Fragen hier nur kurze Ausführungen gewidmet werden können, gewährt uns diese Multiperspektivität doch die Chance, ein Bild zu zeigen, in dem sowohl das innerjüdische Leben wie auch dessen Wechselwirkungen mit der »Außenwelt« berücksichtigt werden.
Der Staat und die Juden
Bis zu den Teilungen Polen-Litauens 1772, 1793 und 1795 war es den Juden großenteils verboten, sich in den Städten des Königlichen Preußens niederzulassen. Aus diesem Grunde lebte zum einen ein Drittel der 1772 verzeichneten 3.601 Juden der neugegründeten Provinz Westpreußen in den Vororten Danzigs, in Gebieten außerhalb der städtischen Jurisdiktion. Zum anderen hielten sich, nachdem die früher dem Netzedistrikt angehörigen Landkreise Deutsch Krone und Flatow Westpreußen zugeschlagen worden waren, die meisten der anderen westpreußischen Juden dort auf, gefolgt von ihren Glaubensgenossen in den Landkreisen Schlochau und Preußisch Stargard. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb der südliche Regierungsbezirk Marienwerder seinem Danziger Pendant in absoluten Zahlen der jüdischen Bewohner überlegen; deren Rückgang war seit den 1870er Jahren gleichwohl deutlich stärker als in den nördlichen Teilen der Provinz.
Neben ihren Auswirkungen auf die Niederlassungsmöglichkeiten markierten die Teilungen Polen-Litauens auch eine Zäsur im Status der Juden gegenüber dem Staat und hinsichtlich ihrer Erwerbsmöglichkeiten. Nach der ersten Teilung im Jahr 1772 führte Friedrich II. in der Provinz Westpreußen das seit 1750 in seiner Monarchie geltende Juden-Reglement ein. Als Ausdruck der absolutistischen Schutzjudenpolitik bestimmte dieser Rechtsakt den Status der jüdischen Minderheit im Land und den Rahmen ihrer wirtschaftlichen Aktivität und der Gemeindeautonomie. Den »Schutz« des Staates verdienten demzufolge insbesondere wohlhabende oder zumindest diejenigen Juden, die ihre Familien selbstständig unterhalten konnten. Alle anderen wurden aufgefordert, das Land zu verlassen bzw. durften als »Tolerierte« bei den Schutzjuden kleine Hilfsdienste leisten.
Infolge der zweiten Teilung Polen-Litauens im Jahr 1793 wurde auch Danzig Teil der preußischen Monarchie und zur westpreußischen Hauptstadt. Obwohl die neuen Herrscher die bisherige restriktive Politik der Stadt formal unterstützten, wuchs die jüdische Gemeinschaft an der Mottlau, bis sie in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts knapp 800 Personen erreichte (ca. 2 % aller Danziger). Ausschlaggebend für die Weiterentwicklung des jüdischen Lebens in Danzig waren die Stadtbelagerungen durch französische bzw. russische Truppen 1807 und 1813. Da währenddessen ein Großteil der vorstädtischen Bebauung zerstört wurde, tolerierten die lokalen Behörden den Umzug der Juden aus dem Danziger Großraum in die Stadt.
Während sich Danzig als eine unter französischer Aufsicht gegründete Freie Stadt in einem rechtlichen Konflikt zwischen den jahrzehntelangen republikanisch-autonomischen Freiheiten und modernen Verfassungslösungen nach dem Muster des revolutionären Frankreichs befand, führte Friedrich Wilhelm III. im Rahmen der – im Nachhinein als Stein-Hardenbergsche Reformen bezeichneten – Gesetzgebung am 19. November 1808 die Städteordnung und am 11. März 1812 das sogenannte Emanzipationsedikt ein. Das erste Gesetz ermöglichte den Juden Zugang zu Stadtbürgerrechten, womit das aktive und passive Wahlrecht bei der kommunalen Selbstverwaltung verbunden war. Das zweite Gesetz brachte zwar keine volle Gleichberechtigung (Emanzipation), garantierte den Juden aber doch eine freie Wahl des Wohnorts und die fast uneingeschränkte Berufsfreiheit. Als identitätsstiftender Rechtsakt forderte das Emanzipationsedikt jüdische Hausväter auf, feste Familiennamen anzunehmen und für Verträge und Handelsbücher keine jüdischen Sprachen (Hebräisch oder Jiddisch) zu verwenden. Im Gegenzug wurden sie als »Einländer« und »Staatsbürger« anerkannt.
Rückblickend bildete das Emanzipationsedikt den Ausgangspunkt des langen Wegs, an dessen Ende im Jahr 1871 den Juden die Gleichberechtigung mit den anderen deutschen Bürgern garantiert wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es über ein halbes Jahrhundert lang immer wieder Rückschritte im Gleichstellungsprozess sowie zahlreiche Unklarheiten bezüglich der Auslegung der existierenden Vorschriften gegeben. In Danzig wurde etwa das Emanzipationsedikt im Jahr 1814 eingeführt – dies bestätigte Friedrich Wilhelm III. aber erst 18 Jahre später endgültig. Des Weiteren stellte die Regierung von Marienwerder in den 1840er Jahren fest, dass das Reglement von 1750 nach wie vor eine gesetzliche Grundlage darstelle, auch wenn viele von ihren Bestimmungen seit langem nicht mehr beachtet worden seien.
Die Rechtslage in Preußen war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders kompliziert. Bezogen auf den Status der jüdischen Bevölkerung existierten gleichzeitig nahezu 20 unterschiedliche Regelungen. Allein in Westpreußen galten Sonderbestimmungen für Danzig und für einen Teil des Marienwerderschen Regierungsbezirks (und zwar für die Kreise Kulm und Michelau sowie die Stadt Thorn), der in den Jahren von 1807 bis 1815 dem Herzogtum Warschau angehört hatte. Eine angesichts dieser Lage oft komplizierte Entscheidungsfindung, z. B. bei der Frage, ob sich ein Jude in Westpreußen niederlassen dürfe, vereinfachten die Beamten gelegentlich, indem sie sich an der Herkunft des Antragstellers orientierten. Es lässt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Muster der amtlichen Praxis erkennen, wonach beispielsweise einem aus Westpreußen stammenden Juden unabhängig von Gesetzesänderungen eine Rückkehr in die Provinz seiner Eltern meistens erlaubt wurde. Hingegen wurde etwa einem aus dem Zarenreich oder aus der preußischen Provinz Posen stammenden Juden ein solcher Umzug eher verweigert. Durch dieses Vorgehen wurde der jüdische Westpreuße durch die regionalen Behörden in gewisser Weise als »Hiesiger« anerkannt – und, anders als dies jahrhundertelang üblich gewesen war, nicht wie ein Fremder behandelt.
Das innerjüdische Leben
Im Mittelpunkt des organisierten innerjüdischen Lebens stand die jüdische Gemeinde (Kehila, Mehrzahl: Kehilot). Sie schuf Bedingungen, die es ihren Mitgliedern ermöglichten, nach dem Religionsgesetz des Judentums zu leben. Sie war für Kultus und Religionsunterricht, Wohltätigkeit und Verwaltung der Gemeindeeinrichtungen zuständig. Ihr Vorstand bestand aus einigen in der lokalen jüdischen Gemeinschaft wertgeschätzten Männern, die für das Erfüllen der Gemeindeaufgaben eine von der Größe und den finanziellen Möglichkeiten einer Kehila abhängige Anzahl von Beamten beschäftigten. Der Rabbiner fungierte als Experte in Religionsangelegenheiten und betreute die lokale Religionsschule. Der Kantor (Chazan) leitete Gottesdienste und insbesondere in kleineren Kehilot erfüllte er gleichzeitig die Aufgabe des Schächters (Schochet), der die zum Verzehr zugelassenen Tiere nach den jüdischen Speiseregeln (Kaschrut) schlachtete. Der Schulbediente (Schammes) betreute die Synagoge, rief Gemeindemitglieder zum Gottesdienst zusammen und erfüllte abhängig von konkreten Vereinbarungen auch kleinere Aufgaben, etwa als Bote zwischen dem Vorstand und den Mitgliedern. Neben diesen Kernbeamten beschäftigten einige Kehilot unter anderem auch einen Arzt, eine Krankenschwester, einen Lehrer (Melamed) oder einen Bestatter.
Eine grundlegende Bedeutung für das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert hatte die jüdische Aufklärung (Haskala) und das sich langfristig daraus entwickelnde Reformjudentum. Im Kern dieser geistigen Bewegung stand die Historisierung der jüdischen Religion, die Einführung säkularer Fächer ins Schulcurriculum sowie eine grundlegende Wertschätzung der Vernunft in der Philosophie und im Denken generell. Im Verlauf der Zeit kamen aus dieser Bewegung immer öfter Stimmen, die eine äußerliche Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, etwa durch die Ablehnung des Jiddischen als Alltagssprache, verlangten. In Westpreußen entstanden zwar keine bekannten Haskala-Zentren – wie jene in Berlin, Königsberg oder Breslau –, trotzdem waren die Auswirkungen der Aufklärung auf die Religionsausübung und Lebensweise jüdischer Westpreußen durchaus bemerkbar. Allmählich wurden etwa deutschsprachige Predigten in die synagogalen Gottesdienste eingeführt, wobei solche Ansprachen bis in die 1840er Jahre hinein nur in Elbing und Preußisch Stargard regelmäßig stattfanden. Zu dieser Zeit konstatierte ein westpreußischer Beamter, es ließen sich in der Provinz zwei religiöse Strömungen – die traditionsgebundene und die reformorientierte – erkennen, aber keine von ihnen dominiere zahlenmäßig die andere.
Eine weitgehende äußerliche Anpassung des jüdischen Bürgertums an die mehrheitliche Kultur fand bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. In Danzig traf man zu dieser Zeit jüdische Kaufleute, die sich im äußeren Erscheinungsbild von ihren christlichen Zunftkollegen nicht unterschieden. Die deutsche Sprache bestimmte ihren Alltag, und wenn die Aussprache noch manchmal ihre jüdische Herkunft erkennen ließ, war auch diese Besonderheit in der heranwachsenden Generation bereits verschwunden. Gleichzeitig war es in den Ortschaften, in denen regelmäßig polnische Unternehmer verkehrten, nicht unüblich, traditionell gekleidete Juden, etwa im Kaftan, anzutreffen, die als Jiddisch-Muttersprachler Deutsch lediglich als Fremdsprache beherrschten. Für einen von Vorurteilen geleiteten Beobachter muteten die in der Danziger Niederstadt in den 1830er Jahren zu beobachtenden polnischen Juden sogar »asiatisch« an.
Aufgrund von Handelsbeziehungen mit dem Königreich Polen blieben die Orthodoxen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Minderheit innerhalb der Danziger Judenschaft. Bis 1883 existierten hier nebeneinander sogar fünf Kehilot, eine Besonderheit, die zu dieser Zeit nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum zu finden war. Um die Vereinigung der Gemeinden voranzutreiben, verpflichtete sich die reformorientierte Mehrheit, auch in den kommenden Jahrzehnten ein orthodoxes Gebetshaus zu unterhalten, das insbesondere durch ältere Danziger besucht wurde.
Auch wenn die Verbreitung der Orthodoxie in Westpreußen noch zu erforschen wäre, lässt sich annehmen, dass sie vor allem im südlichen Teil der Provinz länger dominant blieb. Dies beruhte auf den Beziehungen der dortigen Judenheiten mit ihren Glaubensgenossen in der Provinz Posen, die für ihre traditionsgebundene Ausrichtung bekannt waren.
Insgesamt lassen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bei den Judenschaften Westpreußens eindeutige Säkularisierungstendenzen beobachten. Aus Danzig wurde über Familien berichtet, die die Regeln der Kaschrut entweder ganz aufgaben oder sie nur zuhause praktizierten. Der Danziger Rabbiner Max Freudenthal soll im Jahr 1906 sogar das Verbot des Schweinefleischverzehrs relativiert haben. Auch der Besuch von Gemeindeeinrichtungen, die als Merkmale der Frömmigkeit galten, wurde seltener. Über das zur rituellen Reinigung dienende Bad (Mikwe) verfügten im Jahr 1906 beispielsweise rund 60 % (23 von 39) der Kehilot Westpreußens, ein Anteil, der deutlich geringer war als in der Provinz Posen (mit 80 %), zugleich allerdings auch höher als der gesamtpreußische Anteil von 45 %.
Soziale Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden
Da die Niederlassung von Juden in Westpreußen vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen erfolgte, war das Berufsleben ein Bereich, in dem es an erster Stelle zu regelmäßigen Kontakten zwischen Juden und Nichtjuden kam. Der Handel war das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine vorherrschende Tätigkeit der Juden. Des Weiteren verdiente etwa ein Fünftel bis ein Drittel der jüdischen Erwerbstätigen seinen Unterhalt in Handwerk und Industrie. Insbesondere in den südlichen Regionen der Provinz beschäftigte auch die Schankwirtschaft einige wenige Prozent von jüdischen Erwachsenen. Mit der Ausformung des modernen Bürgertums nahmen zudem zahlreiche jüdische Kaufleute, Bankiers, Fabrikbesitzer und Geschäftsführer als Wirtschaftsbürger am gesellschaftlichen Leben teil. Darüber hinaus widmeten sich jüdische Aufsteiger im Bildungsbürgertum vornehmlich den freien Berufen und gehörten beispielsweise als Ärzte und Rechtsanwälte zu den intellektuellen und finanziellen Eliten ihrer lokalen Gemeinschaften.
Grundsätzlich waren die jüdischen Westpreußen meistens als Selbstständige tätig. Ein typischer Händler war stets bemüht, seinen Laden so lange wie möglich zu behalten, ehe er sich als Angestellter oder Arbeiter hätte engagieren lassen. Diesem Festhalten am eigenen Geschäft lag eine Überzeugung zugrunde, nach der ein eigenes Unternehmen materielle Sicherung in Krisenjahren garantiere. Darüber hinaus ermöglichte es die Einhaltung jüdischer Feiertage und schützte vor Antisemitismus im Berufsleben, dem jüdische Angestellte und Arbeiter unter Umständen hätten begegnen müssen.
Jüdische Viertel oder Shtetl, wie diese aus einigen mittelalterlichen Städten bzw. osteuropäischen Regionen bekannt sind, gab es im Westpreußen des 19. Jahrhunderts nicht, auch wenn es gewisse Niederlassungsmuster gab. Die Kaufleute und Händler unter den jüdischen Westpreußen waren häufig daran interessiert, im Stadtzentrum, in der Nähe des Marktes zu wohnen. Darüber hinaus lebten Juden vermehrt in unmittelbarer Nähe der Synagoge oder anderer Gemeindeeinrichtungen.
Soweit bekannt, waren die Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Stadtbewohnern durch typische nachbarschaftliche Themen, Freundschaften und Feindschaften – und gewiss auch durch den Antisemitismus geprägt. Insbesondere von letzterem Phänomen zeugen zahlreiche historische Quellen. Neben individuellen antisemitischen Vorfällen im öffentlichen Raum gab es im Westpreußen des 19. Jahrhunderts einige Ausbrüche der Massengewalt gegen Juden. In Danzig kamen die ablehnenden Haltungen gegenüber dem Emanzipationsprozess in Ausschreitungen zum Ausdruck, die am wichtigsten jüdischen Feiertag, dem Jom Kippur, im September 1819 stattfanden. Dies lässt sich im Nachhinein in eine Welle antijüdischer Krawalle, bekannt als »Hep-Hep-Unruhen«, einordnen, die von Sommer bis Herbst 1819 in einer Reihe deutscher Städte, darunter in Würzburg, Heidelberg, Frankfurt am Main und Hamburg, hervorgerufen worden sind. Zwei Jahre später kulminierten in Danzig die auch schon für frühere Jahre nachgewiesenen Feindseligkeiten zwischen den Ausstellern und der lokalen Bevölkerung beim jährlich veranstalteten Dominik-Markt in dreitägigen antijüdischen Übergriffen. Während der beiden Ausbrüche wurden mehrere Juden verletzt, etliche ihrer Wohnungen beschädigt, einige Geschäfte geplündert und die von den jüdischen Händlern für den Jahrmarkt aufgestellten Kramläden komplett zerstört. Die mangelnde Berichterstattung über ähnliche Vorfälle in den darauffolgenden Jahren lässt vermuten, dass sich die Situation während des Dominik-Jahrmarkts wieder beruhigte.
Weitere Ausschreitungen dieses Ausmaßes ereigneten sich in Westpreußen erst 1881, als sich die antijüdische Massengewalt, ausgehend von der Provinz Pommern, gen Osten und Süden verbreitete. Davon erfasst wurden im Juli und August unter anderem die Städte Hammerstein (Kreis Schlochau), Jastrow (Kreis Deutsch Krone) und Konitz. Begleitet wurden die Ausschreitungen zwar durch eine neuartige, sich aus der Rassenlehre speisende antisemitische Propaganda, das Ziel der Angriffe war dennoch vor allem der jüdische Besitz, weniger die Menschen selbst.
In den darauffolgenden Jahrzehnten stieß insbesondere die in ihren Ursprüngen mittelalterliche Ritualmordlegende auf breite Resonanz in Deutschland, darunter nicht zuletzt in Westpreußen. Beschuldigungen, dass Juden christliche Kinder für rituelle Zwecke misshandelten, wurden 1894 in Berent, 1900 in Konitz, 1902 in Schlochau und 1903 in Flatow vorgebracht. Insbesondere der Konitzer Fall löste ein reichsweites Echo aus. Ein brutaler Mord an dem Gymnasiasten Ernst Winter im März 1900, von dessen zerstückelter Leiche später einzelne Körperteile aufgefunden wurden, beflügelte die Fantasie der lokalen Bevölkerung und der antisemitischen Publizisten. Als Resultat griff der empörte Mob sowohl in Konitz als auch in den benachbarten Landkreisen mehrmals die jüdische Bevölkerung, deren Geschäfte und Gebetshäuser an. Die Konitzer Synagoge blieb nur dank militärischem Schutz von der Zerstörung verschont.
Ungeachtet solcher feindlichen Vorkommnisse engagierten sich die westpreußischen Juden das ganze 19. Jahrhundert hindurch im politischen Leben ihrer lokalen Gemeinschaften. Schon direkt nach der Einführung der Städteordnung 1808 wurden die ersten jüdischen Westpreußen als Stadtverordnete und Magistratsmitglieder gewählt. Die Vertretung der Juden in den städtischen Selbstverwaltungen war insbesondere in den Ortschaften mit einer großen jüdischen Minderheit stark, z. B. in Flatow, Krojanke oder Zempelburg. Dort stellten sie mit bis zu einem Drittel aller städtischen Abgeordneten eine bedeutende politische Macht dar. In den Städten mit geringerem Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung fungierten sie eher als vereinzelte, oftmals prominente Individuen, die in der lokalen Selbstverwaltung nicht ausschließlich die Interessen der jüdischen Bewohner, sondern auch die der anderen Bürger vertraten. Während des Deutschen Kaiserreichs bekleideten etwa rund 20 jüdische Danziger die Ämter von Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern.
Außer der politischen Tätigkeit engagierten sich die jüdischen Eliten Westpreußens auch sozial, kulturell und wohltätig. Zu den größten gemeinnützigen Einrichtungen in der Provinz gehörten etwa das Aschenheimsche Altersheim in Danzig (gegründet 1894), das Israelitische Altersheim in Thorn (1902) oder das Casper Lachmannsche Provinzial-Waisenhaus in Graudenz (1903). In Danzig erfreute sich insbesondere Lesser Giełdziński als langjähriges Vorstandmitglied der jüdischen Gemeinde, Wohltäter und Kulturmäzen eines besonderen Rufs. In der lokalen Gemeinschaft war er vor allem durch seine imposante Sammlung der Altdanziger Kunst und Artefakte sowie als Gründer eines der ersten Danziger Museen bekannt. In den jüdischen Kreisen gewann seine »Abwehraktion« im Jahr 1890 einen nahezu legendären Charakter: Als selbstbewusster Preuße scheute Giełdziński sich nicht, einen Oberleutnant öffentlich zu ohrfeigen, nachdem er erfahren hatte, dass der Letztere seinen im Militär dienenden Sohn diskriminierend behandelt hatte. Dies war zwar eine radikale Handlungsweise, aber dennoch nur eine von vielen anderen Ausdrücken der Identität jüdischer Bürger als lokaler Patrioten, Preußen und Deutscher.
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Das 19. Jahrhundert war für die westpreußischen Juden eine Zeit, in der sich auch ihre Lebensweisen vor dem Horizont der Moderne wandelten. Ihren christlichen Nachbarn rechtlich gleichgestellt, ergriffen sie Möglichkeiten, in lokalpolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sphären nach außen zu wirken und ihre lokalen Gemeinschaften zu beeinflussen. Die zuvor alle Bereiche des Lebens bestimmende Religion begriffen nun die meisten von ihnen als eine Konfession, als eine Eigenschaft, die vor allem im privaten Bereich zum Ausdruck kommen sollte. Damit veränderten sich zugleich die Funktionen jüdischer Gemeinden: von »Schützern« jüdischer Frömmigkeit im Alltag zu karitativen Organisationen und Bewahrern der Tradition.
Von nichtjüdischer Seite wurde diesem Wandel einerseits mit Wohlwollen begegnet, andererseits sorgten die neuen, auf Rassenlehren bezogenen Formen des Antisemitismus unter den jüdischen Westpreußen für ein – mal öfter, mal seltener vorkommendes – Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft. Dies waren die untrüglichen Vorboten einer Entwicklung, innerhalb derer der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden Jahre die soziale Konstruktion der jüdisch-christlichen Verhältnisse zurück in eine überwunden geglaubte Krise führte.
Weiterführende Literatur
- Max Aschkewitz: Zur Geschichte der Juden in Westpreussen, Marburg 1967.
- Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk / Christian Pletzing (Hrsg.): Jüdische Spuren in der Kaschubei. Ein Reisehandbuch, München 2010.
- Michael Brocke / Margret Heitmann / Harald Lordick (Hrsg.): Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim / Zürich / New York 2000.
- Gerhard Salinger: Zur Erinnerung und zum Gedenken. Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens, 3 Bde., New York 2009.
- Michael K. Schulz: Sozialgeschichte der Danziger Juden im 19. Jahrhundert, Berlin 2020.
- Michał Szulc: Emanzipation in Stadt und Staat. Die Judenpolitik in Danzig 1807–1847, Göttingen 2016.