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Carl Legien aus Marienburg – Retter der jungen Weimarer Republik

Zum 100. Todestag des engagierten Gewerkschafters und Demokraten

Von Karl Christian Führer

Ein zielstrebiger Gewerkschaftsführer

Carl Legien, der vor einhundert Jahren, am 26. Dezember 1920, starb, war im Kaiser­reich und in der frühen Weimarer Republik einer der wichtigsten Gewerk­schafts­führer und sozial­de­mo­kra­ti­schen Politiker. Heute ist sein Name nur noch wenigen Deutschen geläufig. Wer sich genauer in der Geschichte der Weimarer Republik auskennt, erinnert vielleicht das „Stinnes-Legien-­Abkommen“, das Arbeit­ge­ber­ver­bände und Gewerk­schaften im November 1918 unter­zeich­neten. Gemeinsam legten die Verbände damit das Fundament für das System der Tarif­au­to­nomie, das die Unter­nehmer zuvor immer vehement abgelehnt hatten. Zu den Unter­zeichnern gehörten der Großin­dus­trielle Hugo Stinnes und Carl Legien als Vertreter der Gewerk­schaften – daher der allgemein übliche Name des Abkommens. Er ist aller­dings histo­risch nicht gerade gerecht. Die beiden Männer waren keineswegs die einzigen, die den Vertrag unter­schrieben ;  auch an seiner Formu­lierung hatten etliche andere Unter­nehmer und Gewerk­schafter inten­siver mitge­wirkt als Stinnes und Legien.

Fragt man, warum der Gewerk­schafts­führer es heute, einhundert Jahre nach seinem Tod, immer noch verdient hat, persönlich erinnert zu werden, so ist wohl etwas anderes wichtiger als das unpräzise benannte Abkommen von 1918. Carl Legien vertei­digte im März 1920, nur wenige Monate vor dem Ende seines Lebens, tatkräftig und entschlossen die damals ja noch junge Demokratie in Deutschland, als ein Militär­putsch die Herrschaft des Volkes ernsthaft bedrohte. Legiens jahrzehn­te­lange Arbeit für die Entstehung starker und eigen­stän­diger Gewerk­schaften in Deutschland soll mit dieser Feststellung nicht entwertet werden, zumal er daran unter höchst widrigen Umständen und trotz persön­licher Entbeh­rungen gegen starke Wider­stände der Arbeit­geber wie auch staat­licher Stellen hartnäckig festhielt.

Legien, der 1861 im westpreu­ßi­schen Marienburg geboren wurde, nach dem Tode seiner Eltern von 1867 bis 1875 in einem Waisenhaus in Thorn aufwuchs und dort dann als Jugend­licher für fünf Jahre eine Ausbildung zum Drechsler absol­viert hatte, stieg im Zuge seines Engage­ments rasch vom einfachen Gewerk­schafts­mit­glied zum Vorsit­zenden des Drechsler-Verbandes auf. Seit 1890 leitete er dann ein in diesem Jahr neu gegrün­detes zentrales Gremium aller sozial­de­mo­kra­tisch orien­tierten deutschen Gewerk­schaften, die „General­kom­mission“. Diese Insti­tution, die anfangs nur über einen sehr kleinen Etat verfügte und lediglich beschei­dende koordi­nie­rende Aufgaben wahrnehmen sollte, gewann unter Legiens tatkräf­tiger Führung rasch große Bedeutung :  Sie vertrat die gemein­samen Anlieger der Arbei­ter­ver­bände gegenüber Politik und Öffent­lichkeit, stellte program­ma­tische Überle­gungen an und prägte so die Entwicklung der gesamten Gewerk­schafts­be­wegung. Legien wurde damit zum bekann­testen Gewerk­schafter des Kaiser­reichs. 1907 konsta­tierte eine sozial­de­mo­kra­tische Tages­zeitung: „Legien ist keine Person mehr, Legien ist ein Programm, ein Stück Geschichte.“

Legiens „Programm“ bestand vor allem darin, für die konkreten sozialen Belange der Arbei­te­rinnen und Arbeiter einzu­treten. Gewerk­schafter hatten nach seinem Verständnis vor allem dafür zu sorgen, dass die abhängig Beschäf­tigten nicht mehr von der Hand in den Mund leben mussten:  „Wir haben die Pflicht, darauf zu achten, dass der Arbeiter nicht degra­diert, sondern so gestellt wird, dass auch er sich des Lebens erfreuen kann.“ Mit Träume­reien von einer sozia­lis­ti­schen Zukunft Deutsch­lands, in der Alles besser sein werde, hat sich Legien – anders als viele der Sozial­de­mo­kraten seiner Zeit – nicht beschäftigt:  Ihn inter­es­sierten kleine reale Verbes­se­rungen. Tarif­ver­träge, die starke Gewerk­schaften mit den Arbeit­gebern aushan­delten, hielt er für ein Mittel, solche Fortschritte schritt­weise zu erreichen.

So wichtig all dies auch ist :  Dennoch können Legiens Aktivi­täten im Kampf gegen den sogenannten „Kapp-Putsch“ im März 1920 als der zentrale Abschnitt in seiner langen politi­schen Karriere gelten. Für kurze Zeit, in einer politisch höchst drama­ti­schen Situation, war er nach dem treffenden Urteil eines Zeitge­nossen „der einzige wirkliche Macht­haber Deutsch­lands“ – und diese Macht setzte er entschlossen ein, um die demokra­ti­schen Freiheiten zu bewahren.

Der Auftritt der Putschisten

Der Militär­putsch, der Legien in das Zentrum des politi­schen Geschehens rückte, begann in den frühen Morgen­stunden des 13. März 1920 :  Schwer bewaffnete Soldaten besetzten das Berliner Regie­rungs­viertel rund um die Wilhelm­straße und verschiedene zentrale Plätze der Reichs­haupt­stadt. Reichs­prä­sident Friedrich Ebert, Reichs­kanzler Gustav Bauer und die meisten Minister waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Richtung Süden geflohen, weil die in Berlin statio­nierten Einheiten der Reichswehr sich geweigert hatten, die Regierung vor den heran­zie­henden revol­tie­renden Soldaten zu schützen.

Der Putsch verfolgte zwei Ziele ganz unter­schied­licher Bedeutung. Zum einen stritten die Aufstän­di­schen schlicht für sich selbst :  Sie wollten die Auflösung ihrer Division verhindern, die nach den Bestim­mungen des Versailler Vertrags zu erfolgen hatte, weil die Sieger­mächte die deutsche Militär­macht massiv schwächen wollten.

Zum anderen aber ging es dem Anführer der Soldaten, dem General Walther von Lüttwitz, darum, die Novem­ber­re­vo­lution von 1918 und die Wahlen zur Verfas­sung­ge­benden Versammlung, die im Januar 1919 statt­ge­funden hatten, politisch zu revidieren. Die von der SPD angeführte Koali­ti­ons­re­gierung verschie­dener demokra­ti­scher Parteien, die seitdem das politische Geschehen in Deutschland lenkte, war ihm zutiefst verhasst. Legiti­miert nur durch Gewehre und Geschütze, nahm er sich daher das Recht, einen neuen Reichs­kanzler einzu­setzen. Seine Wahl fiel auf den hohen preußi­schen Beamten Wolfgang Kapp, dessen Namen den meisten Deutschen seinerzeit wohl ganz unbekannt war. Politisch aufmerksame Zeitge­nossen mögen sich daran erinnert haben, dass Kapp 1917/18 Zweiter Vorsit­zender der damals gerade frisch gegrün­deten rechts­ra­di­kalen Vaterlands-Partei gewesen war, die bis zur letzten Minute des Krieges gegen jeden Versuch gestritten hatte, das blutige Gemetzel an den Fronten durch eine Verstän­digung mit den Gegnern des Deutschen Reiches zu beenden. Kapp, der sein hohes „Amt“ bereits am 13. März 1920 um sieben Uhr morgens im Schutz der Maschi­nen­ge­wehre antrat, erklärte die Natio­nal­ver­sammlung und gleich auch noch das preußische Landes­par­lament für aufgelöst. Anschließend ging er daran, ein „Kabinett“ zu bilden. Über der Reichs­kanzlei wehte derweil nicht mehr die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik, sondern die schwarz-weiß-rote „Reichs­kriegs­flagge“ des Kaiser­reichs ;  vor dem Branden­burger Tor und auch an anderen Orten in Berlin standen Geschütze.

Dieser Spuk war schon am 17. März 1920 wieder vorbei :  Ein General­streik gegen den Umsturz hatte Deutschland so vollständig gelähmt, dass die neue „Regierung“ völlig handlungs­un­fähig blieb. Selbst ein Versuch des „Kanzlers“, bei der Berliner Zentrale der Reichsbank einen von ihm selbst unter­zeich­neten Scheck auf zehn Millionen Mark einzu­lösen, war kläglich gescheitert.

Die Formierung der Gegenkräfte

Der Aufruf, der diesen größten politi­schen Streik in der deutschen Geschichte in Gang setzte, stammte vom Bundes­vor­stand des Allge­meinen Deutschen Gewerk­schafts­bundes (ADGB), einem Dachverband der sozial­de­mo­kra­tisch orien­tierten Gewerk­schaften. Carl Legien war der Vorsit­zende des Gremiums und unbestritten der wichtigste Mann unter seinen Kollegen. Dies galt gerade in der konkreten Situation vom 13. März, denn viele der Vorstands­mit­glieder befanden sich seinerzeit gar nicht in Berlin. Legien handelte dennoch sofort. Noch am Vormittag dieses Tages appel­lierte ein von ihm unter­zeich­neter Aufruf an alle Beschäf­tigten in Deutschland, aus Protest gegen die Macht­er­greifung der „militä­ri­schen Reaktion“ sofort auf unbefristete Zeit die Arbeit niederzulegen.

Diese Entschluss­freu­digkeit der Gewerk­schaften kontras­tierte scharf mit der zöger­lichen Haltung der geflo­henen Staats­führung :  Zumal Reichs­prä­sident Ebert und der Reichs­wehr­mi­nister Gustav Noske zeigten sich nach dem Putsch über Tage hin apathisch und handlungs­un­fähig. Legien hingegen hatte in großer Hast sogar versucht, den Aufruf der sozial­de­mo­kra­tisch orien­tierten Gewerk­schaften als Gemein­schafts­aktion zusammen mit den drei linken Parteien SPD, USPD und KPD zu gestalten. Die USPD aber mochte selbst in einer gravie­renden politi­schen Krise nicht von ihrer Abgrenzung gegenüber der Mehrheits-Sozialdemokratie lassen, die sie 1917 im Streit über den richtigen Weg zum Frieden verlassen hatte (sie formu­lierte deshalb einen eigenen Streik­aufruf und instal­lierte auch eine eigene Streik­leitung), während die in ihr radikales Sektie­rertum verliebte KPD erklärte, das Prole­tariat werde „keinen Finger rühren für die demokra­tische Republik, die nur eine dürftige Maske der Diktatur der Bourgeoisie“ sei.

Angesichts dieser politi­schen Spaltungen war das rasche Handeln des ADGB von großer Bedeutung für das weitere Schicksal der jungen Demokratie. Der Bundes­vor­stand agierte mit seinem Appell vom 13. März 1920 ganz eigen­ständig :  Legien und seine Kollegen wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass auch noch ein zweiter Appell dieser Art existierte, den der Presse­sprecher der Reichs­kanzlei auf eigene Faust und ohne jede Rücken­de­ckung im Namen von Friedrich Ebert und der sozial­de­mo­kra­ti­schen Reichs­mi­nister verfasst und veröf­fent­licht hatte.

Die Entschlos­senheit, mit der Carl Legien im Frühjahr 1920 für einen politi­schen Massen­streik eintrat, hat viele der Zeitge­nossen überrascht :  Sie hielten ihn für einen moderaten Refor­misten und vorsich­tigen Taktierer, der keine Risiken einging. Im Kaiser­reich hatte er in Ausein­an­der­set­zungen mit den oft aggressiv auftre­tenden Arbeit­gebern stets so agiert ;  Radika­lität war eindeutig nicht seine Sache. Tatsächlich aber blieb sich der Bundes­vor­sit­zende in der Krise der jungen Weimarer Republik selber treu :  Schon in den politi­schen Debatten der Sozial­de­mo­kraten im Kaiser­reich hatte Legien stets die Ansicht vertreten, bei politi­schen Angriffen auf die demokra­ti­schen Grund­rechte sei ein General­streik ohne Frage legitim. Diese Überzeugung wurde 1920 zur politi­schen Tat, und damit bewährten sich die von Legien geführten Gewerk­schaften auf eindrucks­volle Weise als demokra­tische Kraft.

Dies gilt umso stärker, als die Putschisten anfangs intensiv um die Gewerk­schaften warben. In seinem „Regie­rungs­pro­gramm“ erklärte Kapp, er wolle „die Arbei­ter­schaft zum Zwecke der wirtschaft­lichen Neuordnung in hervor­ra­gendem Maße zur Vorbe­reitung und zur tätigen Mitarbeit neben den anderen Berufs- und Erwerbs­ständen heranziehen“.

Auf Verhand­lungs­an­gebote des „Kanzlers“ ging die ADGB-Führung jedoch nicht ein. Zwar kam es am 15. März 1920 zu einer persön­lichen Begegnung zwischen Wolfgang Kapp und Carl Legien. Dieses Treffen verlief jedoch in eisiger Atmosphäre, und es wurde auch sehr rasch beendet, weil Legien unmiss­ver­ständlich klar machte, dass die selbst­er­nannte Regierung unter keinen Umständen mit einer Koope­ration der Gewerk­schaften rechnen könne. Kapp reagierte prompt mit einem radikalen Kurswechsel :  In einer noch am gleichen Tag erlas­senen Verordnung bedrohte er nicht nur die „Rädels­führer“, sondern auch noch die Streik­posten, die den Ausstand gegen den Putsch selbst in volks­wirt­schaftlich zentral wichtigen Versor­gungs­be­trieben durch­setzten, ohne Unter­schied mit der Todesstrafe.

Der Spuk geht vorüber

Trotz dieses Säbel­ras­selns der Putschisten wurde der am 13. März 1920 prokla­mierte General­streik fast ohne Ausnahme befolgt. In ganz Deutschland legten nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Angestellten und Beamten mehrheitlich ihre Arbeit nieder. Für die Bevöl­kerung entstanden dadurch massive Probleme :  Die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser brach vielfach (gerade in den Großstädten) weitgehend zusammen ;  es verkehrten keine Züge mehr, und damit stockte rasch auch die Lebens­mit­tel­ver­sorgung. Zeitungen erschienen nicht ;  selbst auf die Dienste des Telefons und des Telegramm­dienstes konnte niemand mehr rechnen. Da der Streik die Kommu­ni­ka­ti­onswege weitgehend lahmlegte, wucherten die Gerüchte – und mit ihnen auch spontane Aktionen, die nur der Emotion entsprangen. In zahlreichen Städten attackierten demons­trie­rende Arbeiter Einheiten der Reichswehr (auch solche Truppen­teile, die den Militärcoup nicht aktiv unterstützten).

Frustriert von dem wachsenden Chaos, das sie nicht ordnen konnten, warfen die Anführer des Putsches schon am 17. März die Flinte ins Korn :  Sowohl Kapp als auch General von Lüttwitz, der sich selbst zum „Militär­ober­be­fehls­haber“ des Deutschen Reiches gemacht hatte, erklärten ihren „Rücktritt“ und tauchten mit gefälschten Pässen unter. Einen Tag später verließen die meuternden Soldaten Berlin. Dabei schossen sie aus Wut und Enttäu­schung über ihr Scheitern wiederholt auf Demons­tranten und Passanten ;  mehr als 40 Berliner verloren an diesem Tag ihr Leben.

Diese drama­ti­schen Ereig­nisse haben in der allge­meinen histo­ri­schen Erinnerung nicht die Bedeutung, die ihnen gebührt. Situa­tionen wie diese, in denen das Volk für die Freiheit aufsteht, sind in der deutschen Geschichte ja nicht gerade häufig. Im März 1920 aber wurde eine Militär­dik­tatur in Deutschland durch den solida­ri­schen Wider­stand fast der ganzen Bevöl­kerung verhindert.

Getragen wurde dieser demokra­tische Abwehr­kampf von den Gewerk­schaften, von Gewerk­schaften, die genau verstanden hatten, dass gewerk­schaft­liche Arbeit nur unter freiheit­lichen Bedin­gungen möglich ist und dass ein Gewerk­schafter deshalb nie politisch neutral sein darf, wenn die Demokratie bedroht wird. Carl Legien als der Mann an der Spitze dieser Gewerk­schaften sollte deshalb erinnert werden, wenn wir über die demokra­ti­schen Tradi­tionen unseres Landes sprechen.