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Düstere Fantasiewelten

Clara Siewert – eine Malerin aus Budda im Kreis Preußisch Stargard

Von Alexander Kleinschrodt

Lange war wenig über Clara Siewert bekannt. Inzwischen gibt es von der aus Westpreußen stammenden, von Käthe Kollwitz geförderten Malerin zumindest ein fragmentarisches Bild. Auch ihr genaues Todesdatum ist mittlerweile geklärt: Sie starb vor 75 Jahren in Berlin.

Eine „ver­kann­te Künst­le­rin“, die auf­wuchs in einem idyl­li­schen Guts­haus „irgend­wo im deut­schen Osten“ :  In der Bio­gra­fie von Cla­ra Sie­wert schei­nen sich gleich zwei Kli­schees zu ver­ei­nen. An bei­den Punk­ten lohnt es sich jedoch, etwas genau­er hin­zu­se­hen. Hin­ter dem Bild einer Male­rin, die es anschei­nend „nicht geschafft hat“, ver­birgt sich ein eigen­stän­di­ges künst­le­ri­sches Werk, der Blick auf Sie­werts Her­kunft aus West­preu­ßen und ihren Lebens­lauf lässt man­ches Detail der dama­li­gen Zeit leben­dig werden.

Ort der Erstarrung und der Sehnsucht

Cla­ra Sie­wert wur­de 1862 gebo­ren, als es noch kein Deut­sches Reich gab und West­preu­ßen eine Pro­vinz im Staa­te Preu­ßen war. Bud­da, der klei­ne Guts­hof ihrer Eltern, war eigent­lich nicht weit ent­fernt von der Kreis­stadt Preu­ßisch Star­gard. Den­noch leb­te man dort in weit­ge­hen­der Abge­schie­den­heit, das ver­brei­te­te Bild vom ein­sa­men Dasein der Guts­be­sit­zer trifft hier wohl wirk­lich zu. Ein Freund der Fami­lie beschrieb Gut Bud­da im Rück­blick als „etwas ver­wil­dert“, aber als einen gera­de des­we­gen ver­wun­sche­nen Ort. Der Kunst­his­to­ri­ker Roman Zie­gl­gäns­ber­ger, der Cla­ra Sie­werts Leben und Werk erforscht hat, beschreibt die­ses Umfeld nüch­ter­ner, geht aber davon aus, dass es die Fan­ta­sie der jun­gen Cla­ra Sie­wert geför­dert haben müs­se :  „Da sich an sol­chen ent­le­ge­nen Orten, Gehöf­ten oder Lie­gen­schaf­ten nur wenig ereig­net, die ewi­ge Stil­le lähmt und ein geis­ti­ges Erstar­ren vor­pro­gram­miert ist, war man, um eben dies zu ver­hin­dern, auf den eige­nen Erfin­dungs­reich­tum angewiesen.“

Die finan­zi­ell oft pre­kär daste­hen­de, aber sta­tus­be­wuss­te Fami­lie schickt Cla­ra auf die Schu­le nach Dan­zig, nicht etwa ins nahe Preu­ßisch Star­gard. Außer­dem wird der jun­gen Frau die Lite­ra­tur nahe gebracht, sodass sie sich anfangs wünscht, Schau­spie­le­rin zu wer­den. Bald schon legt sie sich aber dar­auf fest, „eine berühm­te Male­rin zu wer­den“. Tat­säch­lich ermög­licht ihr die Fami­lie wahr­schein­lich zwi­schen 1878 und 1883 in Königs­berg pri­va­ten Mal­un­ter­richt zu neh­men. „Um 1884“ – genau­er lässt sich auch dies nicht ange­ben – geht Cla­ra Sie­wert nach Ber­lin. Auch hier ist sie auf Pri­vat­leh­rer wie Karl Stauffer-Bern ange­wie­sen, denn die offi­zi­el­len Aka­de­mien blei­ben Frau­en noch ver­schlos­sen. Zunächst hält Sie­wert sich nur zeit­wei­lig in der Reichs­haupt­stadt auf, sie kehrt gezwun­ge­ner­ma­ßen regel­mä­ßig zurück nach West­preu­ßen, ehe sie schließ­lich eine Woh­nung im Ber­li­ner Vor­ort Wil­mers­dorf bezieht, der für lan­ge Zeit ihr Lebens­mit­tel­punkt bleibt. Das Gut Bud­da muss­te die Fami­lie Anfang des 20. Jahr­hun­derts ver­kau­fen. Für Sie­wert, mag es sie als Künst­le­rin auch ins pul­sie­ren­de Ber­lin gezo­gen haben, ist damit ein Sehn­suchts­ort verloren.

In Ber­lin geht es für Cla­ra Sie­wert anfangs durch­aus berg­auf. Sie enga­giert sich in den Ver­ei­ni­gun­gen der Ber­li­ner Male­rin­nen und nimmt an deren Aus­stel­lun­gen teil. Gale­rien und pri­va­te Samm­ler kau­fen ein­zel­ne ihrer Wer­ke an. Vor allem aber ist sie seit der Jahr­hun­dert­wen­de auch Mit­glied der Ber­li­ner Seces­si­on. Der Künst­ler­bund ist das Sam­mel­be­cken der­je­ni­gen, die über die wei­ter­hin domi­nie­ren­de aka­de­mi­sche Kunst­auf­fas­sung hin­aus­ge­hen wol­len. Doch auch dort sind Frau­en natür­lich stark in der Unter­zahl. Ihnen wur­de oft die Bega­bung abge­spro­chen, zudem waren berufs­tä­ti­ge Frau­en in „bes­se­ren Krei­sen“ nicht gern gese­hen. Nur weni­ge über­wan­den die­se Wider­stän­de, bei der Seces­si­on waren es neben Cla­ra Sie­wert die aus Königs­berg stam­men­de Käthe Koll­witz und Julie Wolff, die mit dem Künst­ler­na­men Wolfft­horn ihre Her­kunft aus dem west­preu­ßi­schen Thorn erken­nen ließ (und die in dw 11/2016 vor­ge­stellt wor­den ist).

Weggefährtinnen

Für Cla­ra Sie­wert waren das alles aber, wie Roman Zie­gl­gäns­ber­ger meint, nur „schein­ba­re Erfol­ge“. Eine dau­er­haf­te Eta­blie­rung als Künst­le­rin gelingt ihr nicht, sie ver­liert den Anschluss an die neu­es­ten künst­le­ri­schen Ent­wick­lun­gen und ver­lässt die Ber­li­ner Seces­si­on im Streit. Ihre erfolg­rei­che­re Kol­le­gin Käthe Koll­witz – bei­de hat­ten sich mög­li­cher­wei­se bereits im Unter­richt von Karl Stauffer-Bern ken­nen­ge­lernt – setzt sich für Cla­ra Sie­wert ein, stellt aber 1916 ernüch­tert fest, dass sie bei­de bereits „zu den Alten“ gehörten.

Etwa ab dem Ers­ten Welt­krieg scheint Cla­ra Sie­wert sich mehr und mehr zurück­ge­zo­gen zu haben. Auf die­sem Weg hat sie jedoch eine Gefähr­tin, der es ganz ähn­lich ergeht :  Ihre fünf Jah­re jün­ge­re Schwes­ter Eli­sa­beth, mit der sie sich die Ber­li­ner Woh­nung teilt. Eli­sa­beth Sie­wert war Schrift­stel­le­rin und ähn­lich wie Cla­ra hat sie anfangs eini­ge Erfol­ge. Ihre Roma­ne und Erzäh­lun­gen wer­den in Zeit­schrif­ten abge­druckt, Kri­ti­ker bezeich­nen die Autorin als „pro­tes­tan­ti­sche Droste-Hülshoff“. Ihre Arbei­ten sto­ßen immer­hin auf so viel Inter­es­se, dass Eli­sa­beth finan­zi­ell zunächst bes­ser dasteht als ihre Schwes­ter und wahr­schein­lich zeit­wei­lig für bei­der Unter­halt auf­kommt. Über ihre Moti­ve und Inter­es­sen schei­nen Cla­ra und Eli­sa­beth in einem regen Dia­log gestan­den zu haben, der zurück­reicht bis zu den kind­li­chen Spie­len und Mär­chen­fan­ta­sien auf dem elter­li­chen Guts­hof in West­preu­ßen. Besu­cher haben die Woh­nung der bei­den, in der auch noch die Schwes­ter Vic­to­ria leb­te, als eine abge­kap­sel­te Welt beschrie­ben, geprägt von einer ver­spon­ne­nen Nost­al­gie. Der Tod von Eli­sa­beth im Jahr 1930 ist ein wei­te­rer schwe­rer Ein­schnitt im Leben Cla­ra Siewerts.

Trotz ihrer ein­ge­schränk­ten Tätig­keit wird Mit­te der drei­ßi­ger Jah­re der Gale­rist Wolf­gang Gur­litt auf Sie­wert und ihr Werk auf­merk­sam. Er ermög­licht 1936 die bis dahin größ­te Aus­stel­lung von Wer­ken Cla­ra Sie­werts, in der 174 ihrer Arbei­ten gezeigt und in einem Kata­log doku­men­tiert wer­den. Lan­ge hielt sich die auf Gur­litt zurück­ge­hen­de Ansicht, Sie­wert sei schließ­lich 1944 in Ber­lin gestor­ben. Viel­leicht um das Schick­sal sei­ner Künst­le­rin zu dra­ma­ti­sie­ren, behaup­te­te der Gale­rist nach dem Zwei­ten Welt­krieg, Sie­wert sei bei einem Bom­ben­an­griff getö­tet wor­den. Tat­säch­lich starb sie, wie ein Brief der Schwes­ter Vic­to­ria belegt, im Okto­ber 1945 an Herz­ver­sa­gen. Gesi­chert ist auch, dass sie ihre letz­ten Lebens­jah­re wegen ihrer Armut in einem „Frem­den­heim“ verbrachte.

Dass das Leben von Cla­ra Sie­wert über­haupt so erzählt wer­den kann, ist kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, viel­mehr das Ergeb­nis der inten­si­ven Arbeit von Roman Zie­gl­gäns­ber­ger. Er hat die bis­her ein­zi­ge grö­ße­re Publi­ka­ti­on zu der Male­rin und ihrem Werk erar­bei­tet, die 2008 beglei­tend zu einer im Kunst­fo­rum Ost­deut­sche Gale­rie Regens­burg gezeig­ten Aus­stel­lung erschien, in des­sen Samm­lung sich zahl­rei­che Wer­ke Sie­werts befin­den. Zie­gl­gäns­ber­ger gab damals der Hoff­nung Aus­druck, sie damit vom Zustand der völ­li­gen Unsicht­bar­keit „immer­hin in den Rang einer ledig­lich ‚Ver­schol­le­nen‘ “ zu überführen.

Weltfremd, aber stellenweise modern

Die The­men von Sie­werts Male­rei machen den Zugang aller­dings auch nicht leich­ter. Düs­ter sind vie­le ihrer Arbei­ten, das ver­bin­det sie noch mit den Wer­ken ihrer Ber­li­ner Kol­le­gin Käthe Koll­witz. Sie­werts regel­recht welt­fremd erschei­nen­de Fan­ta­sie­wel­ten sind dann aber doch weit ent­fernt von dem sozia­len Rea­lis­mus, dem sich Koll­witz ver­pflich­tet fühl­te. Von heu­te, von der zeit­ge­nös­si­schen Kunst her betrach­tet, stellt sich man­ches anders dar – und Sie­wert, die in ihrer zwei­ten Lebens­hälf­te zu neue­ren künst­le­ri­schen Strö­mun­gen wie dem Expres­sio­nis­mus kei­nen Kon­takt mehr fand, erscheint stel­len­wei­se recht modern.

Als Sie­werts Haupt­werk gilt der soge­nann­te Hexen­zy­klus, an dem sie über lan­ge Zeit gear­bei­tet hat und von des­sen ein­zel­nen Moti­ven es zahl­rei­che Aus­füh­run­gen gibt. Streng genom­men han­delt es sich nicht ein­mal um einen Zyklus, der eine klar nach­voll­zieh­ba­re Geschich­te erzählt, eher schon um eine mehr­stu­fi­ge Medi­ta­ti­on über das Aus­ge­sto­ßen­sein, den Tod und den Über­gang in eine ande­re Welt. So zei­gen meh­re­re Blät­ter, wie eine gewalt­tä­ti­ge Men­ge über eine Frau­en­ge­stalt her­fällt. Was die­se „Hexe“ ver­bro­chen haben soll, ist unklar, deut­lich ist nur der über­schäu­men­de Zorn der Men­schen auf die­se Frau, die durch eine Stei­ni­gung hin­ge­rich­tet wird. Doch schon das Blatt Nach der Stei­ni­gung lässt die Bestür­zung über den Tod erken­nen. In einer Apo­theo­se fährt die Hexe schließ­lich auf dem Rücken eines Fabel­we­sens zum Him­mel auf.

In die­se Gedan­ken­welt misch­ten sich auch lite­ra­ri­sche Stof­fe wie Don Juan oder Ander­sens Mär­chen vom Schwei­ne­hir­ten, die Sie­wert in ande­ren Wer­ken umge­setzt hat. Ihre Inter­pre­ta­ti­on des Motivs „Der Tod und das Mäd­chen“ könn­te noch von Edvard Munchs Behand­lung des glei­chen Stof­fes ange­regt wor­den sein, zumal Sie­wert den nor­we­gi­schen Maler nach­weis­lich sehr bewun­der­te. Über­wie­gend jedoch erschei­nen ihre Gegen­stän­de reich­lich rät­sel­haft und ver­schlos­sen und ste­hen offen­bar in enger Bezie­hung zu den Fan­ta­sien, von denen Cla­ra Sie­wert fas­zi­niert wie auch geplagt war. Den­noch :  Einen sol­chen Rück­zug ins Sub­jek­ti­ve, der zugleich eine Hin­wen­dung zum Mythos ist, lässt sich auch heu­te noch bei man­chen Künst­le­rin­nen und Künst­lern erken­nen. Der ein­fluss­rei­che Aus­stel­lungs­ma­cher Harald Sze­e­mann hat dafür bereits in den sieb­zi­ger Jah­ren den Begriff der „pri­va­ten Mytho­lo­gien“ ins Spiel gebracht. Es ist eine vor­ur­teils­freie­re Beschrei­bung sol­cher tas­ten­der krea­ti­ver Ver­su­che, die ohne das Ver­dikt der angeb­li­chen Absei­tig­keit auskommt.

Suche nach dem Selbst

Dage­gen leuch­tet es heu­te unmit­tel­bar ein, dass von Cla­ra Sie­wert zahl­rei­che Selbst­por­träts erhal­ten sind, wie es auch bei Käthe Koll­witz und ande­ren Künst­le­rin­nen ihrer Zeit der Fall ist. Es gab für sie damals vie­le Grün­de, um mit male­ri­schen Mit­teln nach der eige­nen Iden­ti­tät zu for­schen. Die Jahr­hun­dert­wen­de war eine Zeit des Umbruchs, in der Frau­en vor­sich­tig nach ihrer neu­en Rol­le frag­ten – ins­be­son­de­re jene, die in der Kunst­welt einen Platz such­ten und um Selbst­stän­dig­keit und Aner­ken­nung ran­gen. Sie­werts frü­he Selbst­por­träts strah­len eine gewis­se Offen­heit aus, die damit in Bezie­hung ste­hen könn­te. Das gilt für das Selbst­bild­nis mit erho­be­ner Hand eben­so wie für die Feder­zeich­nung zwei­er Frau­en­ge­sich­ter, die als Dop­pel­por­trät mit ihrer Schwes­ter Eli­sa­beth gedeu­tet wird. Bei­de Frau­en sehen dort zwar streng unter Hut und Schlei­er her­vor, ihre Bli­cke auf den Betrach­ter haben jedoch etwas Selbst­be­wuss­tes und Her­aus­for­dern­des. Roman Zie­gl­gäns­ber­ger mut­maßt zudem, auch Sie­werts „Hexe“ kön­ne als ver­schlüs­sel­tes Selbst­por­trät gel­ten, in dem die Künst­le­rin die Emp­fin­dung zum Aus­druck gebracht habe, anders zu sein als die Men­schen der bür­ger­li­chen Gesell­schaft. In Sie­werts spä­ten Dar­stel­lun­gen ihrer selbst domi­niert dann ein ermü­de­ter Aus­druck, manch­mal bricht auch Ver­zweif­lung durch.

Noch in einer wei­te­ren Hin­sicht erscheint Sie­werts Kunst von heu­te aus bemer­kens­wert modern :  Der Mate­ria­li­tät ihrer Wer­ke geht alles Gedie­ge­ne und Edle ab, ganz im Gegen­teil machen man­che ihrer erhal­te­nen Arbei­ten einen gleich­sam ver­wun­de­ten Ein­druck. Roman Zie­gl­gäns­ber­ger argu­men­tiert, dies sei nicht nur auf deren Alte­rung zurück­zu­füh­ren :  „So schick­te Sie­wert immer wie­der beschä­dig­te Papier­ar­bei­ten ledig­lich von eige­ner Hand not­dürf­tig geflickt, mit Leim­spu­ren befleckt oder mit Kratz­spu­ren ver­se­hen auf Aus­stel­lun­gen, so dass tat­säch­lich von einem gewollt fra­gi­len Geprä­ge der Wer­ke gespro­chen wer­den muss.“

Unab­hän­gig davon, wie modern Cla­ra Sie­werts Kunst nun war, für wie wich­tig man ihr Werk heu­te hält :  Ein Lebens­lauf wie ihrer lässt mehr Zusam­men­hän­ge erken­nen, als die glän­zen­den Bio­gra­fien man­cher „gro­ßer“ Künst­ler. Gera­de die Wider­stän­de, mit denen Sie­wert als Künst­le­rin zu kämp­fen hat­te, sind sehr aus­sa­ge­kräf­tig, die Span­nung zwi­schen dem dyna­mi­schen Ber­lin und der schein­bar erstarr­ten preu­ßi­schen Pro­vinz und schließ­lich die von sol­chen Zeit­um­stän­den gepräg­te Gefühls­welt die­ser eigen­wil­li­gen Frau. Lässt man sich dar­auf ein, dann begeg­net man einer Welt, die sehr anders war als unser 21. Jahrhundert.