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Mit Einstein auf dem Segelboot

Zum 30. Todestag von Lotte Jacobi 

Viele Künstler und Intellektuelle ließen sich in den zwanziger Jahren von der Fotografin Lotte Jacobi porträtieren. Die Frau hinter der Kamera war nicht weniger interessant als ihre prominente Kundschaft: Ihr Lebensweg führte sie von Thorn über Berlin nach New York.

Im LVR-Landesmuseum in Bonn ging vor kurzem eine gutbe­suchte Ausstellung zu Ende :  Gezeigt wurde die Fotografie in der Weimarer Republik. Es ging in der Ausstellung um ihre gestal­te­rische Entwicklung zwischen 1918 und 1933 und das Pano­rama einer Gesell­schaft, das in diesem Medium festge­halten worden ist. Von heute aus stellt sich diese Periode als Umbruch zu einer visuell geprägten Gesell­schaft dar :  Bilder drangen in alle Bereiche des Alltags vor und beein­flussten – ähnlich wie heute die digitale Vernetzung – Kommu­ni­kation, Öffent­lichkeit und Lebens­stile. Keine frühere Epoche hatte bis dato der Nachwelt eine so vollständige Abbildung ihrer selbst hinterlassen.

Die Fernseh­serie Babylon Berlin führt die zwanziger Jahre des letzten Jahrhun­derts gerade mit überwäl­ti­gendem Erfolg als glitzernd-verruchte Epoche vor und stili­siert das Berlin dieser Zeit zur „aufre­gendsten Stadt der Welt“ (ARD). Doch schon ­August Sanders damals entstandene Porträt­reihe Menschen des 20. Jahrhun­derts, heute bewundert als ein frühes Meisterwerk der künst­le­ri­schen Dokumentar­fotografie, zeigt ein breiteres Bild und führt eindrucksvoll Männer und Frauen aller Schichten mit ihren jewei­ligen Lebens­ver­hält­nissen vor Augen. Die Bonner Ausstellung schloss hier an, sie berührte Politik und Lebens­welten, Technik und Arbeit, Kunst, Sport und vieles mehr – „Glanz und Elend“ der Weimarer Republik. Natürlich hatte das Kuratoren-Team dafür auch Fotos von August Sander ausge­wählt. Unter den ausge­stellten Fotografen war jedoch auch eine damals recht erfolg­reiche junge Frau :  Johanna Alexandra, genannt Lotte Jacobi, die in den zwanziger Jahren ein Fotoatelier in Berlin-Charlottenburg betrieb.

Zusammenspiel von Porträtierter und Porträtistin

Ihre zwei in der Bonner Ausstellung gezeigten Bilder stammen beide aus dem Jahre 1929, könnten jedoch unter­schied­licher kaum sein. Das eine davon gilt bereits als eine Ikone. Es zeigt die Schau­spie­lerin Lotte Lenya, die damals durch ihre Zusam­men­arbeit mit Bertolt Brecht und Kurt Weill schlag­artig bekannt wurde. Zu sehen ist sie in Nahauf­nahme, mit Kurzhaar­frisur, kantigen Gesichts­zügen, roten Lippen – dunklen, um genau zu sein, denn es handelt sich ja um eine Schwarzweiß-Fotografie – und einer Zigarette, die sie lässig neben dem Kopf hält. Lenya und Jacobi, die Schau­spie­lerin als Porträ­tierte und ihre Porträ­tistin, schufen ein Bild, das geradezu ideal­ty­pisch dem Trend der „neuen Frau“ entsprach, der damals Schlag­zeilen machte. Das andere Foto ist ein Selbst­porträt Lotte Jacobis. Sie zeigt sich bei der Arbeit, mit Platten­kamera und Kabel­aus­löser, fast so wie ­August Sander seine Porträ­tierten darge­stellt hat. Der Stil des Fotos weicht von Sander aber deutlich ab. Das Umfeld ist nicht zu erkennen, die Licht­quelle ist so platziert, dass Gesicht und Hände der Fotografin vor dem dunklen Hinter­grund stark hervor­treten. Auch das Glamouröse des Lenya-Porträts fehlt völlig, Lotte Jacobis Haare sind zerzaust, ihr Geschichts­aus­druck beinah gestresst. Spätere Betrach­te­rinnen und Betrachter haben darin die Brüche ihrer Lebens­ge­schichte erkennen wollen.

So sehr Lotte Jacobi Ende der zwanziger Jahre in Berlin verankert war, so eng ihre Verbin­dungen zur Kunst­szene der Haupt­stadt waren – ihre Familie stammte aus Westpreußen. Mit dem Metier der Fotografie waren die Jacobis schon seit dessen Anfängen verbunden, in den zwanziger Jahren also bereits fast ein Jahrhundert lang. In Thorn, wo Lotte Jacobi 1896 geboren wurde, hatte ihr Urgroß­vater Samuel Jacobi seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhun­derts ein Fotoatelier betrieben. Die nötige Technik und die Lizenz zu ihrer Benutzung hatte er aus Paris mitge­bracht, wo er mit dem Fotopionier Louis Daguerre in Kontakt stand. Alexander Jacobi, Lottes Großvater, etablierte dann in Culm und Posen Filialen des Famili­en­be­triebs. Marion Beckers und Elisabeth Moortgat, Lotte Jacobis Biogra­finnen, beschreiben die jüdische Familie als „religiös ungebunden“, außerdem als weltoffen und tolerant.

Die ersten Verwer­fungen lassen nicht lange auf sich warten. Als Posen, wo die Familie inzwi­schen lebte, nach dem Ersten Weltkrieg in den polni­schen Staat einging, ziehen die Jacobis nach Berlin, Lottes erste Ehe wird geschieden. Mit dann schon 29 Jahren geht sie nach München, um sich an der Staat­lichen Höheren Fachschule für Fototechnik ausbilden zu lassen. Man kann davon ausgehen, dass sie das praktische Handwerk der Fotografie aus dem väter­lichen Atelier zu diesem Zeitpunkt schon sehr gut kannte. Der Aufenthalt in München war so etwas wie das endgültige Bekenntnis zu einem Beruf, auf den Jacobi sich lange nicht hatte festlegen wollen.

Besuch in der Sowjetunion, Exil in den USA

Schon ein Jahr später, 1927, übernimmt sie in Berlin den Famili­en­be­trieb. Dass wiederum zwei Jahre später Lotte Lenya vor ihrer Kamera saß, war kein Zufall. Jacobi versteht es, sich als eigen­willige Porträ­tistin den Intel­lek­tu­ellen und Künstlern zu empfehlen. Zu Ihren Kunden gehören Karl Valentin, Käthe Kollwitz, die Tänze­rinnen Valeska Gert und Mary Wigman wie auch Klaus und Erika Mann. Die Geschwister Mann und auch deren Vater Thomas, der Litera­tur­no­bel­preis­träger von 1929, werden Jacobi auch später noch verbunden bleiben, ebenso wie der Physiker Albert Einstein, den Jacobi über viele Jahre fotogra­fisch begleitet hat. Der weltbe­rühmte Wissen­schaftler vertraute der Fotografin so sehr, dass er sich von ihr sogar als entspannter Segler in seiner Jolle fotogra­fieren ließ – mit hochge­krem­pelten Hosen und halbof­fenem Hemd.

Zu Lotte Jakobis Bekann­ten­kreis gehört auch der Journalist Egon Erwin Kisch, von dem ebenfalls ein hochcha­rak­te­ris­ti­sches Porträtbild entsteht :  Mit bewegter Gestik, breit grinsend, in der Hand die obliga­to­rische Zigarette, so ist der einfluss­reiche Reporter dort zu sehen. Auch dank der Unter­stützung durch Kisch hatte Lotte Jacobi 1932 zu einer Repor­ta­ge­reise durch die Sowjet­union aufbrechen können. Aus dem Anfang der dreißiger Jahre mehr und mehr durch die Gewalt­herr­schaft Stalins gekenn­zeich­neten Staat gab es in Deutschland nur wenige Bilder zu sehen. Jacobi reist mit einer Leica-Kleinbildkamera, besonders in Usbekistan und Tadschi­kistan gelingen ihr beein­dru­ckende Aufnahmen der dortigen Bevölkerung.

Nach der Macht­über­nahme der NSDAP bleibt Lotte Jacobi noch zweieinhalb Jahre in Deutschland, ehe die Emigration unver­meidlich wird. Im September 1935 besteigt sie ein Schiff der Cunard Line, damals – und noch bis zur Inten­si­vierung des Flugver­kehrs in den 1960er Jahren – der Markt­führer für Transatlantik-Reisen. Am Zielort New York will sie sich eine neue Existenz aufbauen. Der größte Teil ihrer Ausstattung und ihres Fotoar­chivs hatte aller­dings in Berlin bleiben müssen. Während anderen Exilanten das Land lange fremd blieb, fiel Lotte Jacobi die Gewöhnung an den „american way of life“ nicht schwer, wie alle Biografien überein­stimmend betonen. Der beruf­liche Neustart dagegen gestaltet sich kompli­zierter. Häufig muss sie Aufträge für Hochzeits­fotos und ähnliches annehmen, was nur schlecht vereinbar war mit ihrem künst­le­ri­schen Selbst­ver­ständnis. Sie selbst heiratet 1941 auch noch einmal, ihr zweiter Ehepartner wird Erich Reiss, ebenfalls ein deutscher Emigrant, der zuvor Verleger war und unter anderem die Bücher von Egon Erwin Kisch veröf­fent­licht hatte.

Späte Anerkennung

Nach einiger Zeit kommen auch wieder Promi­nente in Lotte Jacobis Atelier, etwa der Schrift­steller J. D. Salinger oder Eleanor Roosevelt, die selbst politisch aktive Frau des US-Präsidenten. Immer wieder gelingen ihr Fotos, die Jahre später große Beachtung finden. Dazu gehört ihre Ansicht des verlas­senen Parketts der New Yorker Börse, wo nach Handels­schluss nur noch Berge auf dem Boden verstreuten Papiers von der Geschäf­tigkeit des Tages zeugen. Neue künst­le­rische Wege beschreitet Jacobi mit abstrakten Licht­bildern, die ohne Kamera entstehen. Eines der schönsten ist jenes, in das der bewegte Körper der Tänzerin Pauline Koner einko­piert ist und mit den ungegen­ständlichen Wellen­formen in der Bildfläche eindrucksvoll harmo­niert. Photo­genics wurden diese Bilder später von der Kunst­kritik genannt.

Auch nach ihrem Rückzug aus dem Beruf, dem Tod ihres Mannes und dem Umzug ins ländliche New Hampshire im Jahr 1955 setzt sich Lotte Jacobi nicht zur Ruhe :  Sie engagiert sich für die Partei der Demokraten und für die Anerkennung der Fotografie als eigen­stän­diger Kunstform. Dass sie mit schon 64 Jahren noch den Führer­schein erwirbt und sich ein Auto kauft, spricht für sich. Im Jahr 1962 unter­nimmt Lotte Jacobi noch einmal eine Reise nach Europa – angeblich mit dem Rückfahrt­ticket, das sie 1935 gekauft hatte. Sie kommt nach Italien, Deutschland und auch in die Volks­re­publik Polen, um noch einmal ihre Geburts­stadt Thorn zu sehen.

Wie viele Künst­le­rinnen ihrer Generation erfährt Lotte Jacobi erst spät wirkliche Anerkennung. Da sie aber noch mehrere Jahrzehnte lang – bis zum 6. Mai 1990 – lebt, kann sie daran bis zu ihrem Tod im Alter von 93 Jahren durchaus noch Anteil nehmen. Für ihr Werk erhält sie in den USA zahlreiche Preise, eine erste große Einzel­aus­stellung in der Bundes­re­publik Deutschland findet 1973 am Museum Folkwang in Essen statt. Heute ist die Fotografie als Kunstform genauso anerkannt wie die Malerei, Original­abzüge berühmter Fotografen, die sogenannten Vintage Prints, erzielen auf dem Kunst­markt hohe Preise. Die Wertschätzung für die Arbeit von Lotte Jacobi hat sich dadurch zweifellos gesteigert. Wahrscheinlich wird das aktuell so große Interesse an den Zwanziger Jahren diese Tendenz auch weiterhin noch verstärken.

Alexander Kleinschrodt